Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine, bombardierte Kiew und andere ukrainische Orte. Sechs Monate später ist ein Fünftel des Landes besetzt und es fallen immer noch Bomben auf ukrainische Städte.
Die Russen stellten Ukrainern drei Optionen zur Wahl: Gefängnis, Abschiebung oder Kollaboration.
„Medienschaffende, die in den besetzten Gebieten ausharren, werden systematisch von den russischen Streitkräften verfolgt“, erklärt RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Der Kreml will in den von ihm kontrollierten Städten seine Propaganda verbreiten und zwingt Journalistinnen und Reporter zur Zusammenarbeit. Wer dem offiziellen Diskurs des Kremls widerspricht, muss mit schärfsten Konsequenzen rechnen.“
Stellvertretend für die neuen Lebensbedingungen der Medienschaffenden in den von Russland kontrollierten Gebieten steht das Schicksal der 37-jährigen Olenaaus der Region Luhansk. RSF sprach mit der ukrainischen Journalistin Anfang August 2022 per Telefon. Ihr richtiger Name bleibt aus Sicherheitsgründen anonym.
„Am 24. Februar wurde ich um fünf Uhr morgens von der Explosion einer russischen Rakete geweckt. Weder ich noch meine drei Kollegen gingen an diesem Tag in die Redaktion. Die am Vortag vorbereitete und in der Nacht in Charkiw gedruckte letzte Ausgabe der Zeitung wurde nie zugestellt.
In den folgenden Tagen arbeiteten wir von zu Hause aus weiter. Partner in ukrainisch kontrolliertem Gebiet übernahmen die Betreuung unserer Webseite. Auf Facebook und Telegram berichteten wir täglich über die Lage an der Front, über Demonstrationen gegen die Besatzung und Geschäfte, die noch geöffnet waren.“
Geweckt von einer russischen Rakete
Und weiter: „Anfang März besetzte die russische Armee unsere Stadt. Die Mobilfunkverbindungen wurden unterbrochen und das ukrainische Fernsehen durch russische Kanäle ersetzt, welche Propaganda ausstrahlen. Internet hatten wir nur noch über Festnetzanschluss. In einer kleinen Stadt wie der unseren kennt dich als Journalist jeder. Es war unmöglich, wie früher zu arbeiten. Es war unmöglich, nicht der Selbstzensur zu verfallen. Ich mied alles, was als antirussisch gelten könnte. Ich hatte wirklich Angst, ich verließ kaum das Haus.
ˏFolgen Sie uns, wir müssen mit Ihnen sprechen. Ihr Beruf, Sie verstehen.ʻ Mit diesen Worten hielt mich am 1. April ein Mann in Militäruniform an, als ich mein Haus verließ. Ich kann mich nicht mehr genau an ihn erinnern, weil so viele verschiedene russische Soldaten da waren. Drei oder vier Personen kamen in meine Wohnung. Ich musste ihnen meinen Laptop und mein Handy geben. Sie erlaubten mir noch, meiner Mutter über die App Viber eine Nachricht zu schicken. Ich war in einem so desolaten Zustand, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, was ich ihr geschrieben habe.
Sie brachten mich in einem Auto ohne Nummernschild weg und zwangen mich, meine Augen mit einer chirurgischen Maske zu bedecken. An einem Gebäude angekommen – ich erfuhr später, dass es sich um das Hauptquartier der Mitarbeiter des MGB (Ministerium für Staatssicherheit der Luhansker Volksrepublik) handelte – musste ich auf einem Stuhl sitzend mit dem Gesicht zur Wand warten. Dann wurde ich mit einem Kleinbus nach Luhansk gebracht. Trotz der Maske erkannte ich bei einem Seitenblick den Schal einer Kollegin. Ich war wie gelähmt vor Angst, mein Kopf war leer.“
Drohung mit Gefängnis
„Im Warteraum vor dem Verhör war der Bewacher kurz abwesend. Obwohl meine Augen noch bedeckt waren, hatte ich gerade noch Zeit, meiner Kollegin zu sagen, dass sie die Zusammenarbeit verweigern solle. Dann wurde ich sechseinhalb Stunden lang allein über mein Leben und meine Arbeit verhört. Mein Geburtsort, was ich studiert habe, mein Gehalt… Triviale Details! Die gleichen Fragen, immer und immer wieder. Sie waren zu viert, ein ˏnetter ʻ, zwei, die immer wieder mit aggressiven Fragen in den Raum stürmten, und schließlich ein ziemlich betrunkener Mann, dessen Kommentare unzusammenhängend waren. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, die Fassung zu bewahren. Mir war heiß, aber sie ließen mich meinen Mantel nicht ausziehen. Auch Wasser gab es nicht.
Wie in einem Gefängnis forderten sie mich auf, alle meine Wertsachen abzulegen, und führten mich in die Krankenstation, wo ich noch ein Formular der Krankenschwester ausfüllen musste. Sie maß meinen Blutdruck und gab mir dann ein Medikament gegen Bluthochdruck. In einem anderen Raum nahmen sie meine Fingerabdrücke und machten ein Foto von mir, als wäre ich eine Kriminelle. Ich landete mit meiner Kollegin und unserer Redaktionsleiterin, die einige Tage vor uns verhaftet worden war, in einer Zelle.
Die Russen stellten uns drei Optionen zur Wahl: Gefängnis, Abschiebung oder Kollaboration. Eine Antwort wurde am nächsten Morgen erwartet. Für mich war Abschiebung keine Option, weil ich nicht genau wusste, wie diese aussehen sollte und wo wir freigelassen würden. Wir hätten durchaus an einem Checkpoint zurückgelassen werden können, um am nächsten wieder festgenommen zu werden. Unsere Chefin durfte nur zwischen Zusammenarbeit und lebenslanger Haft oder Todesstrafe wählen. Mit Angst im Bauch entschieden wir uns für die Kollaboration.“
Überwachung per Telegram
„Nachdem wir gehen durften, schrieb ich unseren Partnern, die unsere Webseite betreiben, dass sie die anderen Medien in der Umgebung warnen sollten. Wahrscheinlich könnten sie die nächsten auf der Liste sein. Ich löschte meine Nachricht sofort. Selbst auf der Straße können die Soldaten jederzeit unsere Handys beschlagnahmen, um sie zu überprüfen.
Ein oder zwei Wochen später kamen drei Männer in Uniform, einer davon vermummt, in die Redaktion, fotografierten unsere Ausrüstung und durchsuchten unsere Computer. Sie wollten sicherstellen, dass wir ihre Informationen auf Facebook und Telegram verbreiten – ein echtes Einschüchterungskommando. Wir mussten jeden Tag drei Artikel von der Nachrichtenagentur der LNR (Luhansker Volksrepublik) posten. Wie eine Verwaltungsabteilung waren wir darauf reduziert, diese Propaganda, welche die Erfolge der Besatzer oder die Ernennung irgendwelcher Verwaltungsbeamten feiert, zu verbreiten. Ein Soldat kontrollierte unsere Arbeit über einen gemeinsamen Telegram-Chat. Ich war innerlich zerrissen: Wie können wir das akzeptieren? Wir lebten in der Angst, einen falschen Schritt zu machen und verhaftet zu werden. Der Druck war unaushaltbar. Ich wusste, dass ich fliehen musste, aber wie? Der Soldat, der mich in Luhansk verhörte, hatte angedeutet, dass es eine Liste von Personen gibt, die die besetzte Zone nicht verlassen dürfen.
Als mir ein ehemaliger Kollege, der mit dem Pressedienst der russischen Besatzungsmacht zusammenarbeitete, einen Job anbot, lehnte ich das Angebot ab. Fünf Tage später tauchte ein Mann in Uniform in meinem Viertel auf, der nach mir suchte und meine Nachbarin befragte. Um meiner Sicherheit willen konnte ich nicht länger dort bleiben, ich musste auch unsere Zeitung schützen. Unsere Partner sahen das auch so und flehten mich an zu gehen. Kurz darauf floh ich mit einem Transporter (Privatanbieter von Evakuierungen, die wegen der Kontrollen an russischen Kontrollpunkten teuer und riskant sind). Seitdem arbeite ich als Redakteurin bei einem anderen ukrainischen Medium.“
RSF unterstützt Medienschaffende mit Pressezentren
Weitere Aussagen der ukrainischen Journalisten Wladislaw Hladkyj und Julia Harkusha finden sie hier.
Insgesamt acht Medienschaffende verloren seit Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine ihr Leben, darunter der bekannte ukrainische Kriegsfotograph Maxim Lewin und der französische TV-Journalist Frédéric Leclerc-Imhoff. 16 Medienschaffende wurden während der Ausübung ihres Berufs verletzt.
Um die gefährdeten Medienschaffenden zu unterstützen, betreibt RSF mit seiner ukrainischen Partnerorganisation Institute of Mass Information (IMI) in der Ukraine zwei Zentren für Pressefreiheit. Diese vergeben kostenlos Schutzausrüstungen, organisieren Sicherheitstrainings und bieten psychologische Hilfe an. Zusammen verteilten sie bisher 555 kugelsichere Westen, 549 Helme, 1011 Erste-Hilfe-Sets und 342 Solarbatterien. Außerdem hilft RSF ukrainischen Redakteurinnen und Reportern mit Nothilfestipendien. Insgesamt 92 Medienschaffende konnten von diesem Angebot bisher profitieren. Auch 24 Medien aus dem umkämpften Süden und Osten der Ukraine erhielten Gelder, um den kriegsbedingten Einbruch ihrer Werbeeinnahmen ausgleichen zu können.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Ukraine auf Platz 106 von 180 Staaten.