Man kennt das Munk`sche Bild eines schmählich, schmachvoll Gealterterten. Oder dies: Die Augen erloschen, haschen sie anderswo nach den spärlich applaudierenden Händen, der Rücken will sich nicht mehr beugen, doch man möchte meinen, sie leckten vom Bühnenboden noch den letzten fahlen Schein des ausblendenden Scheinwerferlichts auf. Quälende Erinnerung an den herrlichen Theatermagier Minetti, der seinen Text vergessen hat. An die androgyne Celluloid-Fee Marlene Dietrich, die im schauerlichen „Gigolo“-Film eine Karikatur ihrer selbst bot und nur am einst berühmten Piano lehnend sich noch aufrecht halten konnte. Faltige Münder, die den allerletzten Beifall aufschlabbern. Aufhören zur rechten Zeit muss sehr schwer sein. Und wir, die Schreiberlinge? Oft genug hurtig heruntergeladene und etwas „ins Heute versetzte Artikel“ von früher, solche freilich die nicht mehr so in der Zeit sind, als dass es einem dabei freudig zumute sein könnte. Selbst ein Gigant wie Thomas Mann mochte sich und uns am Ende seines Lebens jene fatale Erzählung „Die Betrogene“ nicht ersparen.
Ich kenne nur einen, der kühlen Herzens und bitterer Zunge sich einzugestehen vermochte „Ich habe mich überlebt“ – meinen mir einst so wichtigen Freund, den großartigen Maler, Graphiker und Lyriker Fabius von Gugel: Ein langer Sommer in Albano. Wenig später ist er gegangen.
Ich aber habe mich überlebt
Was heißt das für einen Autor, einen Literatur- für einen Theaterkritiker? Es bedeutet: Meine ästhetischen Kriterien sind veraltet, das Besteck des Diagnostikers rostet, meine Freude am Schönen der Kunst ist zu Asche geworden, der gefiederte Pegasus, mit dem wir gemeinsam durch Bilder und Texte galoppierten, lahmt. Diese Welt – in der ich mich durchaus noch hätte kundig machen wollen, sie weicht von mir, gibt mir keine Kunde mehr: Aus der Welt gefallen.
Ihre Zeichen werden mehr und mehr zu Rätseln – unlösbar oft, abstoßend nicht selten – sind meiner Lebensart, meinem Habitus, meinem Geschmack ungemäß. Und dies alles und noch viel mehr sagt mir: Nicht mehr zeitgemäß.
Ein solcher Schreiber sollte nicht weiterhin richten, noch rechten noch urteilen; wer nämlich urteilt, gibt ja zumindest vor, Bescheid zu wissen; und wer nicht einmal mehr so zu tun in der Lage ist, als wisse er Bescheid, soll sich bescheiden. Wer nicht mehr unersättlich ist, hat in diesem Beruf nichts zu suchen – zumal er eh nichts mehr findet.
Wer aber satt ist, der kostet nicht mehr, schmeckt gar nichts. Für Literatur, Literaturkritik und andere Beiträge bedeutet das eher ein Rülpsen, denn Gaumengenuss. Die große Gier nach Schönheit verkommt zu Beliebigkeit. Schönheit ist nicht behaglich. Man muss kein Montaigne sein, auch kein Proust, um zu wissen: Schönheit ist so bedrohlich, so verschlingend wie das Meer. Der Wellen, Gischt und Brandung nicht mehr gewachsen ist, der soll nicht hinausschwimmen ins Unheimliche, soll nur mehr ferner, eher unbeteiligter Beobachter sein.
Jede Zeit hat ihre Zeit
Will sagen und schreiben: Man soll nicht – ich will nicht – der vergehenden Zeit hinterherlaufen. Wer noch ein wenig Verstand im Kopf hat, muss wissen, wann er (pardon, „sie“ natürlich auch!) „so weit” ist.
„Sie sind ein Urgestein“, höre ich oft, gelegentlich heißt das auch „ein Denkmal“ oder „eine Ikone“ – gemeinhin Phänomene, die mit der Gegenwart nichts zu tun haben, einzuordnen etwa zwischen Nibelungenlied und dem Bismarck-Turm hoch über der Stadt am Heiligenberg. Ziemlich weit weg von denen dort unten. Wer das sagt – mag sein: sogar wohlwollend-selbstironisch -, hat recht.
„Vorbei, verweht, nie wieder“, intoniert der Klassiker.
Alles Leben hat seine Grenze – Alles Erleben auch
Wem die Töne seiner Gegenwart nur mehr Geräusche sind, die Farben Kleckse, die Wörter klingende Schelle: Wo wäre dessen Legitimation zu lautem Klagelied (oder, selten genug, leisem Lobpreis)? Ich spreche sie mir fürderhin ab.
Zu viele Lyriken sind mir nur mehr halbgebildetes Geplinker, zu viele gepriesene Essays, nur mehr preiswerter Schotter. Der nicht mehr liebt, der räsoniere nicht. Liebeleere ist keine Qualität. Schon gar nicht für einen Schreibrichter.
Also beende ich hiermit meine journalistische Arbeit, die ich mit 21 Jahren begann: die als Literaturkritiker, die als kommentierender Schreiber – nicht ohne indes den Dank an meine Leser zu vergessen. Ich werde (demnächst) im nächsten Mai 80 geworden sein. Time to say goodbye?
Ich habe schon vor einiger Zeit für mich beschlossen, diesen eigenen Verfall nur bis zu einem bestimmten Punkt zuzulassen. Ich wollte, ich will Herr des Verfahrens sein. Ich habe es mehrfach angedeutet, nein: angekündigt – ich würde selbst entscheiden, wann es Zeit sei zu gehen. Und so verrät keiner ein Geheimnis, verletzt auch kein Dekorum, wer nun an dieser Stelle sagt: Er hat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt.
„Dann“ – und so weiter
„Ich habe Jahre hinter mir, die mir alles abverlangten. Das mich nicht nur an meine Grenzen brachte, sondern weit darüber hinaus. Wie ich überlebt habe, weiß ich nicht.
Es war eine Zeit, in der ich mir nichts sehnlicher wünschte, als dass das Wunder, das viele in meinem Überleben sahen, niemals eingetreten wäre. Ich habe mir gewünscht, – rechtzeitig – gestorben zu sein. Nicht, weil ich das Leben nicht schätze. Ganz im Gegenteil: Ich liebe das Leben. Ich will nicht sterben. Und genau das ist der Grund, warum ich mir wünsche, schon gestorben zu sein.
Zweimal lag ich im Sterben
Zweimal musste ich mich zurück kämpfen in ein Leben, das für mich nicht mehr existierte. Zwei Operationen am Hirn (gerade „Herz-Stents“) und viele weitere.
Ich bin traumatisiert und wollte genau das nie wahr haben. Was mir am meisten fehlt, bin ich. Ich habe mich verloren. Lange Zeit dachte ich, ich werde keine Minute mehr erleben, die erträglich ist. Ich habe gegen den Tod gekämpft und dann gegen das Leben. Ich wollte niemals sterben, ich wollte immer leben, ich habe immer gekämpft, mehr als alles andere, ich habe sehr lange nur noch gekämpft, nicht mehr gelebt, sondern nur überlebt. Der Tod erschien mir grausam, aber nicht so grausam wie das Leben. Ich lag im Sterben und dann sollte ich plötzlich wieder leben und stand vor der Frage, wie ich das schaffen soll.
Ich erkenne mich nicht wieder
Ich bin mir fremd. Oft sehne ich mich nach einem Ende dieser Tortur, oft wünsche ich mir, ich müsste nicht mehr jeden Tag aufstehen, mehr, nicht mehr (aber, „Salem“ sei – denoch – Dank) um jeden Tag kämpfen, sondern würde endlich – wie immer der aussähe – meinen Frieden finden.
Lange, sehr lange war ich nicht ich selbst, ich habe Stück für Stück die Freude am Leben verloren. Ich war traurig, ich war ängstlich, um nicht zu sagen panisch, ich habe jedes Selbstbewusstsein verloren, mein Leben bestand aus Angst, aus Schmerzen, aus Behandlungen, ich hatte keine Zukunft mehr und das machte die Gegenwart für mich fast unerträglich.
In dieser Zeit verlor ich jede Lebenslust, Schmerzen und Schwäche waren alles, was ich fühlte. Es gab kaum etwas, was mich am Leben hielt. Freunde. Doch auch hier musste ich Verluste hinnehmen.
War ich es, der sie alle vergrault hat? Oder das Alter das sie daran erinnert, dass auch sie … ? Ist diese Frage nicht hinfällig?
Ich fange gerade wieder an, mich zu sehen, mich zu mögen. Mein Leben besteht aus vielen Hürden, aus Schmerzen, aus niederschmetternden Diagnosen, aus gescheiterten Behandlungen und aus immer neuen Hoffnungen. Das ist mein Leben. Und, ich habe nur dieses eine. Ich habe mich soweit zurückgekämpft, dass ich dieses Leben, die Stunden, Tage, vielleicht ja Monate oder Jahre, wieder schätzen kann. Mein Leben ist (mir!) wertvoll, jeder Tag ist ein Tag mehr in meinem Leben, nur ich mache genau diese Erfahrungen, nur ich spüre die Verzweiflung, die Angst, die Schmerzen, die Einsamkeit; und nur ich empfinde dieses unendliche Glück der schönen, guten Augenblicke.
Eine Woche, vor mittlerweile einiger Zeit mit Freunden in Litochoron unterhalb des Olymp – oder aber der gestrige Abend in Heidelberg – Abende mit Freunden, nach stressigen und (naja) einigen erfolgreichen Tagen, an denen ich wieder etwas geschrieben habe, die Sonne nach einem verregneten Tag, ein Konzert (Verdis Requiem im Kloster Eberbach!), gute Gespräche, die Vorfreude auf eine Reise. Ich sehe nicht mehr „das letzte Mal“, denn das gibt es jetzt nicht mehr. Alles, was jetzt kommt ist ein sehr großes Geschenk. Es wird nicht lange so gut sein. Es werden wieder andere Zeiten kommen, mit immer mehr Einschränkungen, umso mehr schätze ich das Jetzt. Schon lange konnte ich das nicht mehr.
Es ist nicht alles gut, aber es ist, was ich habe. Dafür bin ich dankbar und ich möchte diese Dankbarkeit mit möglichst vielen teilen. Das größte Geschenk, das wertvollste Gut ist Zeit. Zeit für mich, Zeit für andere, Zeit auch von anderen. Ich möchte mich erklären, ich möchte, dass ich gleichzeitig sehr wütend auf mein Leben sein darf, mir mein altes Leben zurück wünsche; dass ich so viel Angst vor dem habe, was kommt, dass ich wie gelähmt bin, dass mir der Tod dann leichter erscheinen möchte, weniger erschreckend und ich dennoch das Leben liebe, es genießen möchte, nicht möchte, dass es endet und darüber traurig bin, dass ich Pläne machen darf, auch wenn mir die Zeit dazu fehlte.
Ich vermisse jetzt schon alles, was ich verpassen werde. Noch mehr vermisse ich die, die es mit mir nicht mehr ausgehalten haben, die mir aber sehr wichtig waren. Ich würde gern meine Geschichte erzählt-, mich erklärt haben.
Und ich möchte, dass jeder den Unterschied zwischen Leben und Überleben erkennt. Das hatte ich tatsächlich einmal vor.
Zwar zu faul, das zu tun? Ja, auch. Aber, wahrscheinlich, eher zu feige!
Erst das Leben wird dem Überleben – vielleicht – einen Sinn gegeben haben: πάντα ῥεῖ !