(Un)Glücksfall für die Wissenschaft

Es ist der 13. September 1848. Phineas Gage, ein Vorarbeiter einer nordamerikanischen Eisenbahngesellschaft arbeitet zusammen mit seinen Arbeitskollegen, so wie an jedem anderen Tag auch. Es ist eine schwere und nicht ganz ungefährliche Arbeit. Die Männer müssen tiefe Löcher ins Gestein bohren, diese mit Schießpulver und Sand stopfen, um die Felsen zu sprengen.

 

An diesem Tag jedoch vergisst Phineas mit Sand nachzufüllen und stampft das Schießpulver fest. Ein kleiner Funken reicht und in der nächsten Sekunde schießt sich die Eisenstange durch seine Wange und seinen Hinterkopf durch.
Erstaunlicherweise steht er nach wenigen Minuten wieder auf den Beinen, trotz riesigem Loch im Schädel und einem verlorenen Auge, kann sprechen und gehen.
Jedoch war er nicht mehr der selbe Mensch wie zuvor. Er sei impulsiv, unfähig zu planen und zu entscheiden, launisch und respektlos, so seine Kollegen und Vorgesetzten 1.
Das Unglück was Phineas widerfahren ist, war aufschlussreich für die Wissenschaft. Es war der Ausgangspunkt für die Suche nach der Steuerung von sozialem und emotionalem Verhalten im Gehirn.

Soziales Verhalten im Frontalhirn

Phineas Gage wurde bei dem Unfall ein Teil seines Frontalhirns lädiert. Lebensnotwendige Hirnfunktionen wie Atmung und Blutdruck werden vom Hypothalamus gesteuert, der bei diesem Unglück nicht beschädigt wurde.
Das Frontalhirn ist Teil des Großhirns. Hier sitzen die Funktionen für die Motorik und ist unter anderem zuständig für Überwachung und Analyse des Verhaltens. 3,4
Im orbitofrontalen Kortex finden neurophysiologische Prozesse statt, die emotionale Prozesse und Persönlichkeit regulieren. Der dorsolaterale präfrontale Kortex ist für Problemlösung, Planung und Denken zuständig. 5
Nicht umsonst wird dieser Teil des Gehirns auch das „Organ der Zivilisation“ genannt.
Bei Erkrankungen des Frontalhirns, wie etwa Tumoren oder Infarkten, sind Psyche und Persönlichkeit betroffen. 3
Phineas Gage war nicht mehr in der Lage angemessen mit seinem Umfeld zu interagieren. Anders formuliert, er war sozial nicht mehr kompetent und eckte mit seiner gewohnten gesellschaftlichen Umgebung an.

Was ist soziale und emotionale Intelligenz?

Emotional intelligente Menschen sind, so die Wissenschaftler Mayer, Salovey und Caruso, sich selbst und ihrer Umwelt bewusst. Mayer, Salovey und Caruso haben einen Test entwickelt, um emotionale Intelligenz zu messen. Der Test berücksichtigt die Wahrnehmung und das Verstehen von Emotionen, in Gesichtern, Geschichten und Musik. Außerdem fließt der Umgang mit Emotionen und wie man sie nutzen könnte, um adaptives und kreatives Denken zu ermöglichen, mit in die Bewertung ein.
In späteren Studien zeigte sich, dass Menschen mit hohem Testwert zu emotionaler Intelligenz (EQ), qualitativ höhere Interaktionen mit Freunden haben. Durch ihre Sensibilität haben sie ein gutes Gefühl dafür, wie man mit einem trauernden Freund umgeht, oder einen Arbeitskollegen motivieren kann.6
Soziale Intelligenz, teilweise inbegriffen als Komponente emotionaler Kompetenz, erlaubt soziale Situationen zu verstehen und entsprechend zu verhalten und zu kommunizieren. Sie fördert Beziehungen zu knüpfen und zu halten. 6,7 Menschen mit hoher sozialer Intelligenz, erstmals von Edward Thorndike in den 1920ern beschrieben, verstehen soziale Situationen wie „Seefahrer das Wetter“ oder begabte Fußballspieler die Verteidigung während des Spiels.6

Warum brauchen wir emotionale und soziale Intelligenz?

Im Job

Arbeitgebenden ist es zunehmend wichtig, dass ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer neben der fachlichen auch eine soziale Kompetenz mitbringen. Die Arbeitswelt muss dynamisch agieren und auf Kundenwünsche eingehen. Expertinnen und Experten müssen sich besser vernetzen und koordinieren, um Fachwissen ein- und umzusetzen.7 Nicht nur für Arbeitnehmende sind soziale Kompetenzen (Soft-Skills) wichtig, um erfolgreich im Job zu sein. Auch Arbeitgebende und Führungskräfte können damit ein angenehmeres Arbeitsklima schaffen.8

Als Kind

Wir alle lernen schon im Kindergarten und in der Schule, wie wir mit einander umgehen sollten. Dazu gehört Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen und dabei Hilfe anzubieten oder andere zu loben. Außerdem lernen wir eigene Emotionen zu kontrollieren in emotional stressigen Situationen (z.B. wenn das Spielzeug weggenommen wird) und soziale Regeln anzuerkennen oder sich durchzusetzen. Gespräche zu initiieren oder Freundschaften zu schließen ist dafür wichtig. Sich sozial kompetent zu verhalten, setzt Selbstwirksamkeit voraus. Unter Selbstwirksamkeit versteht man, dass man von sich selbst überzeugt ist, auch schwierige Herausforderung aus eigener Kraft zu meistern.9 Zweifel an eigenen sozialen Fähigkeiten führen zur Vermeidung sozialer Situationen oder unsicherem Verhalten.
Die Schule ist der Lebensmittelpunkt vieler Schülerinnen und Schüler und dort können Kinder lernen, sich sozial zu verhalten, Freunde zu finden und sich persönlich zu entwickeln.10 Alles Kompetenzen die jede und jeden auch im Erwachsenenalter begleiten.

“Wir sind soziale Wesen”

„Wir fühlen das Bedürfnis, uns mit anderen zu verbinden, mit einigen – wenn möglich – sogar in dauerhaften, engen Beziehungen“, stellt Persönlichkeitstheoretiker Alfred Adler fest.
Soziale Bindungen haben die Überlebenschancen unserer Vorfahren verbessert. So bleiben Kinder in Elternnähe und Eltern in Kindernähe. Unter Erwachsenen fördert es die Begegnung, um für Nachwuchs zu sorgen und diesen zu versorgen.
Durch Zusammenarbeit in der Gruppe lernten unsere Vorfahren, dass sechs oder zehn Hände ein Mammut besser erlegen können als nur zwei. Auf der Nahrungssuche gaben sie sich gegenseitig Schutz. Wer sich in Gruppen bewegte war erfolgreicher, auch genetisch. Die, die bedürftig nach Zugehörigkeit waren, setzten sich im Genpool durch und dominieren bis heute.
Nicht nur in der Prähistorie profitieren die Menschen von Bindungen. Menschen die sich gut in einer Beziehung aufgehoben fühlen, sind gesünder, haben ein geringeres Risiko psychisch zu erkranken und frühzeitig zu versterben, als solche die kein soziales Netz haben.6

Sozial kompetente künstliche Intelligenz

Kann KI auch sozial kompetent sein? Kinder und Jugendlicher lernen fast alle Soft-Skills die man später im Leben braucht und auch im späteren Leben lernt man nicht aus. Wenn Menschen so etwas lernen können, dann könnte eine Maschine so etwas doch auch, oder?
Machine Learning ist die Grundlage, auf der fast jede künstliche Intelligenz (KI) basiert. Künstliche neuronale Netzwerke können trainiert werden, um Muster zu erkennen und diese später auf riesige, echte Datenmengen anwenden. Fast Jede und Jeder von uns hat bereits Berührungspunkte mit KI, wie zum Beispiel mit dem Sprachassistenten „Siri“.11
Ein sozial intelligenter Computer, oder auch Social Emotional Artificial Intelligence (SEAI), sollte in der Lage sein, in Echtzeit Informationen in sozialen Situationen zu erkennen und dementsprechend „menschlich“ zu reagieren. Menschlich bedeutet in diesem Zusammenhang aus Situationen zu lernen, sich eine Meinung zu bilden und selbstständig Entscheidungen zu treffen.12 Dadurch soll ermöglicht werden, dass Mensch und Maschine produktiver zusammenarbeiten.
Forschende arbeiteten daran einen intelligenten Chatbot (eine KI, die direkt mit Menschen über einen Chat kommunizieren kann) zu konstruieren, dass die KI das Gefühl des Users einordnen und entsprechend reagieren kann. Der Chatbot könnte zukünftig neben gängigen Aufgaben wie Kundensupport, auch dabei helfen, Stress und Depressionen bei Benutzerinnen und Benutzern zu lindern. 14

Quellen

1.           Phineas Gage: Wie eine Eisenstange im Schädel Medizingeschichte schrieb – [GEO]. https://www.geo.de/wissen/23805-rtkl-neurowissenschaft-eine-stange-durchschlug-seinen-schaedel-warum-der-fall-von.
2.           Hypothalamus – DocCheck Flexikon. https://flexikon.doccheck.com/de/Hypothalamus.
3.           Frontallappen – Aufbau, Funktion & Krankheiten | MedLexi.de. https://medlexi.de/Frontallappen.
4.           Frontallappen – DocCheck Flexikon. https://flexikon.doccheck.com/de/Frontalhirn.
5.           Frontalhirnsyndrom – DocCheck Flexikon. https://flexikon.doccheck.com/de/Frontalhirnsyndrom.
6.           Myers, D. G. Psychologie 3. Aufl age.
7.           Wofür braucht man soziale Kompetenz? – Zentrum für Soziale Kompetenz. https://soziale-kompetenz.uni-graz.at/de/das-zentrum/mission-aufgaben-angebote/wofuer-braucht-man-soziale-kompetenz/.
8.           Helmold, M. Emotionale Intelligenz und Leadershipkompetenzen. Leadership 61–67 (2022) doi:10.1007/978-3-658-36364-2_5.
9.           Selbstwirksamkeit . Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/1535/selbstwirksamkeit-selbstwirksamkeitserwartung.
10.        Jerusalem, M. & Klein-Heßling, J. Entwicklungstrends und Förderung in der Schule. doi:10.1026/0044-3409.210.4.164.
11.        Künstliche Intelligenz – Spektrum der Wissenschaft. https://www.spektrum.de/thema/kuenstliche-intelligenz/1301266.
12.        Cominelli, L., Mazzei, D. & de Rossi, D. E. SEAI: Social emotional artificial intelligence based on Damasio’s theory of mind. Frontiers Robotics AI 5, 6 (2018).
13.        Mensch-Maschine-Schnittstellen: Mit sozialer, emotionaler Intelligenz das Potenzial von KI ausschöpfen – computerwoche.de. https://www.computerwoche.de/a/mit-sozialer-emotionaler-intelligenz-das-potenzial-von-ki-ausschoepfen,3547388.
14.        Patel, F., Thakore, R., Nandwani, I. & Bharti, S. K. Combating depression in students using an intelligent ChatBot: A cognitive behavioral therapy. 2019 IEEE 16th India Council International Conference, INDICON 2019 – Symposium Proceedings (2019) doi:10.1109/INDICON47234.2019.9030346.

Aug 2022 | In Arbeit | Kommentieren