Das „Jahrbuch der Lyrik“, das alljährlich im Schöffling Verlag erscheint, ist eine Anthologie, gewissermaßen eine „Blütenlese“  Die Arbeit der Herausgebe, aus den zu einem bestimmten Stichtag eingereichten Gedichten eine Auswahl zu treffen, ist Jahr für Jahr immer wieder eine schwierige Aufgabe. Schließlich ist jedes Blütenlesen immer – auch – ein Gewaltakt: man pflückt, man liest, und dann stellt man die einzelnen Blüten im Strauß zusammen.

Doch nach welchen oder wessen Kriterien lesen und komponieren wir da? Auch wenn die Jahreszahl Aktualität suggeriert – gute Gedichte „benötigen keine Aktualität“ – so jedenfals steht es im Vorwort zum Jahrbuch 2022, herausgegeben von Matthias Kniep und Nadja Küchenmeister.

Finden Sie hier einige von uns ausgewählte Blüten:

 

I Nie noch

Gedichte sind – meist – exemplarische Gesten, die sich im Hören und Lesen jeweils anders und jeweils neu aktualisieren. Das gilt auch für das über 150 Jahre alte Gedicht „‚Hope‘ is the thing with feathers“ der englischen Dichterin Emily Dickinson (1830-1886), das sich im Jahrbuch 2022 in der Übersetzung des Dichters Rainer René Mueller findet:

Emily Dickinson
„‚Hope‘ is the thing with feathers“

„Hoffnung“ das ist dies Federstück –
Das in der Seele hockt –
Und diese Strophe pfeift, wortlos –
Und nicht aufhört, einfach nicht

Und säuselt süß, – im Sturm noch – hörst’s –
Und nie noch hat es so gebraust –
Dass es dies Vögelchen verstörte
Das viele stets so wärmte –

Ich hab’s gehört in diesem so grundstillen Land –
Und über dieser harten See –
Und nie und nicht in höchster Not –
verlangt’s auch nur ein Krümelchen – mir aus der Hand.

Das Original von 1861, ist sanft und elegant, es besitzt Reim und Rhythmus; es kommt federleicht und eingängig einher, ja: balladesk. Die Zeilen haften sich unmittelbar dem Gedächtnis an. Lesen Sie:

„Hope“ is the thing with feathers –
That perches in the soul –
And sings the tune without the words –
And never stops – at all –

And sweetest – in the Gale – is heard –
And sore must be the storm –
That could abash the little Bird
That kept so many warm –

I’ve heard it in the chillest land –
And on the strangest Sea –
Yet – never – in Extremity,
It asked a crumb – of me.

Nehmen wir´s Prosaisch, dann steht da: Die Hoffnung ist ein Vögelchen. Sie sitzt in der Seele, benötigt keine Worte. Ihr Lied widersteht allen Gewalten und wärmt die Verzagten, das hier sprechende „Ich“ hörte die Melodie noch in den eisigsten Zeiten und auf den stürmischsten Meeren. Und doch verlangt die Hoffnung selbst in Notzeiten nichts weiter von diesem „ich“.

Dies Gedicht von der einen nie verlassenden Hoffnung, ist berühmt, vielfach übersetzt und  immer wieder hochaktuell. Das könnte der Grund sein, dass Rainer René Mueller es gerade jetzt neu übersetzen wollte. Dabei ist es wahrscheinlich in seiner großen Einfachheit – eigentlich – unübersetzbar. Was machen wir damit, dass im Englischen alle drei Protagonisten – Hope, thing und Bird – sächlich sind, derweil wir im Deutschen die Hoffnung, das Federstück und der Vogel (das Vögelchen) unterscheiden. Es ist schon eine Krux. Im Englischen nämlich meint das wiederkehrende „it“ also alle drei zugleich, das Deutsche aber unterscheidet – muss sich entscheiden. Mueller hat wohl deshalb Hoffnung „das ist dies Federstück geschrieben und das Wort „dies“ im Gedicht mehrfach wiederkehren lassen, als könne er so „die“ Hoffnung gegen alles grammatische Geschlecht bis in die letzte Zeile transportieren.
Doch auch bei ihm verbindet sich das „es“ der letzten Zeile („Und nie und nicht in höchster Not / verlangt’s auch nur ein Krümelchen – mir aus der Hand.„) sprachlich nur mit einer Metapher – dem Vögelchen.

Andere deutschsprachigen Übersetzungen wissen ebenfalls keinen wirklichen Rat in dieser Geschlechterfrage. „Nie nahm er, nicht im Äußersten / Eine Krume an – von Mir.“, lautet das Gedichtende bei Werner von Koppenfels; und bei Gunhild Kübler: „Doch wollt er selbst im Notfall nie / Ein Krümelchen von mir. “ Das Französische kann sich in solchen Fällen mit dem neutralen „ça“ behelfen.

Sprachen sprechen verschiedene Sprachen

Und wenn alles gut geht, gehen die Verluste mit Gewinnen einher, denn Übersetzungen unternehmen verschiedene Zugänge zum übersetzenden Gedicht; so weitet sich der Innen- und der Echoraum des Originals. Dabei schöpfen die übersetzenden Dichter immer neu aus den Möglichkeiten der eigenen Sprache. Rainer René Mueller zum Beispiel hat sich entschieden, die Verneinung, welche die erste und die dritte Strophe verbindet („nicht“, „nie und nicht“) durch ein „nie noch“ in der zweiten Strophe zu verstärken. Man sieht, die Hoffnung hört nicht auf. – Auch die Zeile „Und säuselt süß – im Sturm noch – hörst’s“ schreibt sich der Dickinson-Rezeption ein.

II. Weiterlesen

Marie T. Martin – „Nottiere“

Notiere, wann die Nottiere kommen, sie haben lange
geschlafen, jetzt werden sie gebraucht: ihr tröstendes Fell,
ihre zischenden knurrenden Stimmen, ihr Brummen
und Fauchen, ihr tiefer Blick. Notiere, wann die Nottiere
kommen, damit du Bescheid weißt und bereit stehst oder
liegst, wenn du zum Stehen nicht mehr in der Lage bist,
denn die Lage ist ernst. Nottiere sind von Nöten, Feuer-
fuchs, anarchischer Bartbär, Graupelreiher: Eine Horde
Hartkäfer und Wirbelwirbler und viele mehr. Sie stören alles
auf, graben alles um, kehren das Unterste zuoberst mit scharfen
Krallen und schnellen Pranken, bis der Boden schwankt.
Notiere, wann die Nottiere kommen, mit Stacheln, Schuppen,
mit Krachen und Geheul brechen sie durch das Unterholz,
dort, wo es noch welches gibt. Sie fließen in deine Zellen,
sie fließen noch im Hellen in dein Zimmer, bevor du
nachtaktiv wirst. Notiere, wann die Nottiere kommen,
wann die Flut steigt und die Werte sinken, wenn am Himmel
ein ums andere Flugzeug blinkt – und die Augen der Tiere
im Dämmerlicht glühen. Mach dich bereit, pack deine Sachen,
das wenige was du noch hast muss reichen.

Hier wird weniger der Hoffnung das Lied gesungen; Marie T. Martin hat vielmehr allen Nottieren dieser Welt, die uns – bedrohlich, tröstend? – in unserer Not begleiten, im Gedicht ein Gehege geschaffen, wo sie sich zeigen können, wie Maurice Sendaks „Wilde Kerle“. Der magische Ton, der alle Verse der Autorin auszeichnet, rührt nicht zuletzt aus der Ansprache an ein fiktives Du. – „Später wird sich enthüllen, welche Sätze wichtig gewesen wären„, schreibt sie einmal. Marie T. Martin ist im November 2021 nach kurzer schwerer Krankheit mit nicht einmal 40 Jahren gestorben.
Weitere Gedichte von ihr werden wir in den kommenden Jahrbüchern vermissen.

Katia Sophia Ditzler – „man stirbt auf mt root und auf“

Doppeltes Quiyan Jueju zum Thema Tod –
Meitnerium, Hypothetisches O Atomgewicht 268

man     stirbt    auf    mt.    root    und     auf
mt.      mort    und    auf     mt.    blanc   und
auf       mt.     drum  und    auf     mt.     cook
und      auf      mt.    hood  und     auf     mt.
yale     und     auf     mt     bates   und    auf
mt.      bear    und    auf    mt.      wood  und
auf      mt.      steele und   auf       mt.    wales
und     auf      mt      ratz   yeah    yeah   yeah

Wo das an Konzeptkunst erinnernde Telegramm-Gedicht (alles Einsilber) mit den tödlichen Gefahren des Gipfelstürmens („man stirbt auf“) beginnt, gerät mit dem sich wiederholenden „und auf“ beim Lesen immer mehr das Glück der Besteigung in den Blick: yeah, yeah, yeah. Bei genauerem Studium des Kleingedruckten, das die Autorin, Katia Sophia Ditzler als Titelunterzeile eingefügt hat, wird zudem deutlich, dass die Berge tatsächlich die Sicht auf anderes verstellen. Denn „mt.“ meint vielleicht auch die chemische Formel für „Meitnerium“. Und so wäre auch dieses Gedicht eine Art Verlustanzeige, eine Klage darüber, dass Lise Meitner den Nobelpreis nicht bekam, also den Gipfel zu Lebzeiten nie erstürmen durfte, obgleich sie mit Otto Hahn die Kernspaltung erforschte.
Ditzlers Zeilen jedenfalls lassen sie hochleben.

Markus Manfred Jung – „schwarz wald“

summer glascht
d hitz stoht

wer git jetz schatte
de bäum

Das kürzeste Gedicht im Band ist am Rande des Schweigens angesiedelt. Wäre es in Schriftdeutsch abgefasst, würden wir es nicht zuletzt wegen seiner Nähe zum Haiku als bewusst gestaltet empfinden. Im Dialekt aber, jener präliterarischen Form mündlicher Überlieferung, erscheint eine Äußerung meist ursprünglicher, persönlicher. Und so mag es keineswegs verwundern, wenn wir uns jedes Mal, lesen wir dies Gedicht laut – vorstellen, wie ein Schwarzwaldbauer – oder ist es eine Bäurin? – die Zeilen vor sich hin grummelt.

Hinzu kommt, dass es in der Mundart mindestens zwei Lesarten dieser Zeilen gibt: „Sommer glänzt, die Hitze steht. Wer gibt jetzt Schatten? Die Bäume!“ oder: „Wer gibt jetzt den Bäumen Schatten?“ Ja, auch die Bäume, die Schattenspender, könnten vielleicht Schatten brauchen. Mundart hat es in sich.

Zum Weiterlesen:

Jahrbuch der Lyrik 2022, hg. von Matthias Kniep und Nadja Küchenmeister, Wallstein Verlag, 264 S., 22 Euro

Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte, dt. von Gunhild Kübler, Hanser Literaturverlage, 52 Euro

Emily Dickinson, Dichtungen, dt. Werner von Koppenfels, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung

Emily Dickinson, Guten Morgen Mitternacht. Gedichte und Briefe, dt. Lola Gruenthal, Erstausgabe 1987 im Henssel Verlag, Berlin; zuletzt 2011 bei Diogenes (meine Lieblingsübersetzerin von Dickinson)

Katia Sophia Ditzler, Lieder der Dreistigkeit.
Gedichte, Elif Verlag, 86 S. (erscheint am 10. Oktober 2022)

Marie T. Martin, Rückruf. Gedichte, poetenladen, 96 S., 18,80 Euro

Rainer René Mueller, Gesammelte Gedichte,
Wallstein Verlag, 526 S., 38 Euro

Markus Manfred Jung, Ankommen in Laufenburg, Drey Verlag, 96 S., z. Zt. nur antiquarisch

Aug 2022 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren