Inszeniert Wladimir Putin einen Atomunfall in dem von russischen Truppen besetzten Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine? Um dann der Ukraine die Schuld daran zu geben, dass Radioaktivität austritt?
Diese Sorge bewegt viele Menschen seit Tagen. Am Freitag hat ein Bericht der „New York Times“ die Angst nochmals wachsen lassen.
Die russischen Nuklearexperten des russischen Staatsbetriebs Rosatom, unter deren Kontrolle das größte Akw in Europa seit der Eroberung durch russisches Militär im März steht, hätten die Anlage am Donnerstag verlassen.
Parallel wurde ein Video im Netz geteilt, dass russische Militärfahrzeuge innerhalb der Gebäude mit den Reaktorblöcken zeigt. Die im Kernkraftwerk eingesperrten ukrainischen Angestellten seien in Todesangst, berichtet das Blatt unter Berufung auf einen Augenzeugen im Akw.
Neue Dimension der Vorwürfe: ein gezielter GAU
Seit Wochen hatten Fachleute vor einem unbeabsichtigten Atomunfall infolge der Kämpfe um Saporischschja gewarnt. Russisches Militär benutze das Akw als Schutzschild, heißt es in zahlreichen Militäranalysen.
Seine Truppen beschießen von dort mit verschiedenen Waffen ukrainische Stellungen in der Erwartung, dass die Ukrainer nicht mit ihrem Arsenal zurückfeuern können aus Sorge, einen GAU auszulösen.
Neben Verwaltungsgebäuden waren bei den Kämpfen auch die mehrere Betonschichten starken Außenhüllen der Reaktoren getroffen worden. Sie hielten bisher jedoch stand.
Die neuen Vorwürfe gehen über das allgemeine Kriegsrisiko hinaus. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beschuldigte Moskau bei seinem Treffen mit UN-Generalsekretär António Guterres und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyib Erdogan am Donnerstag in Lviv, es wolle eine Atomkatastrophe gezielt herbeiführen.
Russland beschuldigt neben der Ukraine die USA
Das russische Verteidigungsministerium behauptet umgekehrt, die Ukraine bereite „eine Terrorattacke“ auf das Akw vor. Ihr Militär, sagte Nikolai Patruschew, Sekretär des russischen nationalen Sicherheitsrats, am Freitag, beschieße das Akw mit Waffen aus US-Lieferungen. „Wenn es zu einer Katastrophe kommt, werden die Folgen in allen Ecken der Welt zu spüren sein. Die Verantwortung dafür werden Washington, London und ihre Handlanger tragen.“
Den Vorwurf der „Provokationen“ nahm Russland am Freitag auch zum Anlass, sich wegen der Situation des Atomkraftwerks in Saporischschja an den UN-Sicherheitsrat zu wenden.
Warum die Ukraine ein Interesse daran haben sollte, die Region um Saporischschja und Dnipro, zwei der größten Städte des Landes, radioaktiv zu verseuchen, das erklärt die russische Propaganda nicht. Umgekehrt aber schürt Putin seit Kriegsbeginn konsequent westliche Ängste vor der atomaren Gefahr.
Er möchte erreichen, dass westliche Regierungen die militärische Unterstützung der Ukraine aufgeben und er einen Waffenstillstand zu seinen Bedingungen schließen kann. Mal droht der Kreml mit dem Einsatz von Atomwaffen, mal warnt er vor Reaktorkatastrophen in einem der ukrainischen Akws, anfangs Tschernobyl, nun Saporischschja.
Putin warnt vor „großer Katastrophe“
In einem Telefonat am Freitag mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron warnte der Kremlchef vor einer „großen Katastrophe“, die durch den Beschuss des Kraftwerks riskiert werde, teilte der Kreml am Nachmittag (Ortszeit) mit. Putin und Macron hätten sich darauf verständigt, dass Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) „sobald wie möglich“ besichtigen sollten. In einer Mitteilung des Élyséepalastes heißt es, der russische Präsident habe „sein Einverständnis erklärt“.
Technische Moderne als Symbol fürs Nationalbewusstsein
Die internationale Gemeinschaft verlangt den Abzug des Militärs aus dem Akw und freien Zugang für Experten der IAEA. Russland lehnte bislang beides ab. Es müsse die Kontrolle über die Akws behalten, denn die Ukraine sei nicht in der Lage, deren Sicherheit zu garantieren. Ob das Telefonat Putins und Macrons wirklich etwas an der Situation in Saporischschja ändern wird, ist noch unklar.
Dieses Narrativ spielt in Putins Gedankenwelt eine zentrale Rolle, analysiert Veronika Wendland, Osteuropahistorikerin am Herder-Institut in Marburg und Spezialistin für Technikgeschichte. Die Entwicklung des ukrainischen Nationalbewusstseins und der eigenstaatlichen Identität sei eng mit Techno-Symbolen verbunden.
Dazu gehöre die Beherrschung der Atomkraft und die energiepolitische Unabhängigkeit des Landes, erläuterte Wendland kürzlich bei einem Vortrag an der Universität Mainz. In Putins Welt hingegen ist die Ukraine auf russische Führung angewiesen, um etwas zu leisten.
Kritik an Neutralität der Medien
im Konflikt zwischen Kiew und Moskau
Für Miriam Kosmehl, Osteuropa-Expertin der Bertelsmann-Stiftung, ist die Berichterstattung über die Gefahren durch das Akw Saporischschja ein Beispiel für ein falsches Bemühen um Neutralität. Westliche Medien tendierten dazu, ukrainische und russische Behauptungen gleichberechtigt nebeneinander zu stellen. „Eine Seite lügt gezielt.“
Die Erfahrung über sechs Monate Krieg habe gezeigt, dass „ein generelles Misstrauen gegen Russland angebracht“ ist. Berichte im Ton der Äquidistanz, weil man doch beiden Seiten mit Misstrauen begegnen müsse, „leugnen die Realität, mit der wir es hier zu tun haben“, bemängelt Kosmehl.
Moskau „führt mit der von ihm selbst geschaffenen, angeblich unklaren Gemengelage westliche Öffentlichkeiten in die Irre“, sagt die Expertin. Im Akw Saporischschja „arbeiten ukrainische Atomexperten seit langem unter vorgehaltener Waffe. Russische Truppen lagern Waffen in einem Atomkraftwerk und beschießen von dort aus Ukrainer.“