Im März legt eine Gruppe um den deutschen Ökonomen Bachmann eine Modellrechnung vor, nach der ein deutsches Embargo für russisches Gas verkraftbar ist. In der Fachwelt geht ein Sturm der Empörung los. Jetzt legen die Autoren nach.
Schaffen wir es ohne russisches Gas über den Winter – und wenn ja: zu welchen Kosten? Ökonomen diskutieren diese Frage seit Monaten, zunächst vor dem Hintergrund, ob Deutschland nicht freiwillig auf russisches Gas verzichten sollte, mittlerweile vor der umgedrehten Fragestellung, dass Russland uns das Gas abstellt. Einen breiten Konsens gibt es nicht, auf Twitter dominiert vielmehr ein Lagerkampf verschiedener Ökonomen, der die Ebene des „wissenschaftliches Streits“ längst verlassen hat. Seit Monaten wird der Dissens unter dem Hashtag #Ökonomenstreit ausgetragen.
Einer der Auslöser war im März die sogenannte Bachmann-Studie, die ein deutsches Embargo für russisches Gas für umsetzbar hielt. Andere Ökonomen widersprachen heftig, sogar Bundeskanzler Olaf Scholz tadelte die Studie als „unverantwortlich“. Jetzt legten die Autoren nach: Ihre neue Studie heißt „Wie es zu schaffen ist“ und beschäftigt sich mit der Frage, wie viel Gas Deutschland sparen muss, um ohne russische Importe über den Winter zu kommen. Ihr Fazit: etwa 25 Prozent im Vergleich zu früheren Heizperioden.
Die Kernaussage des früheren Papiers wird mit der aktuellen Analyse unterstrichen. „Vielleicht war die Kommunikation im März nicht optimal von uns“, sagt Studienautor Rüdiger Bachmann von der US-amerikanischen University of Notre Dame zu „Capital“. Einzelne Autoren hätten sich zwar Embargo-Aufrufen angeschlossen. „Aber wir haben im Paper nicht dezidiert ein Embargo von russischem Gas gefordert“, stellt Bachmann klar. „Uns war wichtig: Egal, ob man ein Embargo verhängt oder nicht, wir müssen Gas sparen.“ Dieser Teil sei in der neuen Studie nun zentral, da ein deutscher Importstopp von russischem Gas inzwischen politisch ausgeschlossen sei. Bachmann und zehn Co-Autoren untersuchten unter diesen neuen Bedingungen, wie viel Gas gespart werden müsste.
Hierfür vergleichen sie die Situation heute mit der im März. Nach ihren Berechnungen müsste der Verbrauch zwischen August 2022 und April 2023 um durchschnittlich 25 Prozent gesenkt werden, sollte Russland von heute auf morgen die Gaslieferungen einstellen. Damals hätten es bei einem deutschen Embargo 31 Prozent sein müssen. Durch die knapp 110 Terawattstunden (TWh), die seit April effektiv von Russland nach Deutschland geflossen sind, muss die Bundesrepublik also etwa sechs Prozentpunkte weniger Gas sparen.
Andere Ökonomen widersprechen
Ob das viel oder wenig ist, hängt von der Lesart ab. Ökonomen wie Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) vertreten die Auffassung, dass sechs Prozentpunkte einen gewaltigen Unterschied machen. Das liegt nicht nur am zusätzlichen Gas, sondern vor allem am Faktor Zeit, der den Verbrauchern und Unternehmen gegeben wird – etwa, weil sie ihre Produktion von Gas auf Öl umstellen. „Produktionsprozesse umzubauen, funktioniert nicht über Nacht. Die zusätzlichen Gas-Lieferungen geben Produzenten Freiräume“, sagt Dullien. Auch DIW-Ökonomin Dorothea Schäfer vertritt diese Auffassung: „Der Kauf von Zeit ist keine Schande und meist der erste Schritt zur Bewältigung der Krise.“ Das Ausschleichen von russischem Gas sei gesünder als der kalte Entzug.
Fragt man hingegen Rüdiger Bachmann und seine Kollegen, sind sechs Prozent nicht sonderlich viel. „Deutschland hat in der Zwischenzeit massive Reputationsverluste erlitten, weil Putin mit Europa Katz und Maus spielen kann. Dinge wie der Rubeltausch auf einem Gazprom-Konto oder das leidige Turbinenthema mit Siemens Energy – all das hätte es bei einem Embargo im März nicht gegeben.“ Außerdem, so die These der Autoren, hätten sich die Unternehmen bei einem Sofort-Embargo schneller an das Gassparen gewöhnt als unter den nun gegebenen Umständen. Jetzt, fünf Monate später, sei wenig passiert. Der Druck zum Gassparen sei nur noch größer geworden. Immerhin bleibe noch ausreichend Zeit bis zum Winter.
Ob es bis dahin aber wirklich realistisch ist, viel Gas einzusparen, darüber streiten die Ökonomen aktuell wieder. Viele Unternehmen stellen bereits jetzt ihre Produktion um, darunter BASF, Veltins und Audi. Das führen auch die Autoren um Bachmann an. Doch ob das Tempo ausreicht, ist fraglich. Für Dullien sind die Unternehmen bereits an der Belastungsgrenze: „Die Umstellungen laufen dort schon auf Hochtouren und haben die Verletzlichkeit verringert. Auch die Privathaushalte haben große Anstrengungen übernommen, etwa Gasheizungen auszutauschen, aber weil es um Millionen Haushalte geht, dauert das länger.“
Bachmann und Co. kritisieren hingegen, dass die Bundesregierung noch immer zu wenig Anreize zum Gassparen setze. Der Preis sei hier nach wie vor der wichtigste Mechanismus, da er das Verhalten massiv beeinflusst. „Die Diskussion wird leider nur von einzelnen Ökonomen geführt und nicht von der Politik“, sagt Bachmann. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen habe das Problem zwar als einer der wenigen verstanden, aber bisher eher mit Aufrufen statt klaren Gesetzen begleitet.
Zwei Ideen für Gasspar-Anreize
Die Autoren schlagen daher in ihrem Papier zwei Möglichkeiten vor, um die Verbraucher zum Gassparen zu animieren: einmal eine Art Gutschrift auf zukünftige Rechnungen beim Energielieferanten. So könnten diejenigen, die Gas sparen, die dann höheren Preise vorübergehend kompensieren. Diejenigen, die gleich oder mehr verbrauchen, müssen allerdings draufzahlen. Die zweite Idee funktioniert umgekehrt: Endkunden müssten hier zunächst eine Steuer entrichten, die sie je nach Sparanstrengung vollständig zurückbekommen – und gegebenenfalls sogar noch einen Bonus obendrauf. Durch beide Mechanismen, so hofft Bachmann, werden ärmere Bevölkerungsteile entlastet, wenngleich Gassparen bei potenziell schlechterer Wärmeisolierung in den Wohnungen schwieriger wird.
Worin sich alle Ökonominnen und Ökonomen einig sind: Sollte Russland das Gas abstellen, kommt man ums Sparen nicht mehr herum – sofern jedenfalls die Folgen für die Wirtschaft abgefedert werden sollen. Wirtschaftswissenschaftler wie Tom Krebs sehen hier ein Potenzial von etwa 20 Prozent. Laut der neuen Bachmann-Studie müssten es 210 Terawattstunden bis April 2023 sein, um mindestens 20 Prozent Reserve zu halten. Leisten müssten die Einsparungen vor allem die Industrie und die Energieerzeugung.
Letztere müssten laut Bachmann alleine 46 Prozent beziehungsweise 60 TWh, einsparen, zum Beispiel indem weniger Gas für die Stromproduktion genutzt wird. Die Industrie müsste immerhin 26 Prozent (90 TWh), die Haushalte prozentual lediglich 16 Prozent (60 TWh) einsparen. Das heißt auch: Jeder muss mitmachen, zum Beispiel indem Wohnungen um 2,5 Grad runtergekühlt werden. Und das dürfte eine hohe politische Hürde werden.
Die Flammen schlagen hoch an der russischen Grenze. Wer im finnischen Ort Virolahti nach Osten schaut, kann sie mit bloßem Auge sehen. Der Grund für das Feuer? Überschüssiges Erdgas. Während in Europa und besonders in Deutschland die Angst vor einer Gasmangellage immer größer wird, mehren sich die Hinweise, dass Russland nicht mehr weiß, wohin mit seinem wertvollen Rohstoff. „Bereits im vergangenen Herbst gab es Berichte, dass Russlands Speicher nahezu vollständig gefüllt waren“ – sagt Malte Küper, Energieexperte am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, im Gespräch. „Russlands Gasspeicher sind zwar gewaltig, aber auch sie kommen angesichts der enormen Mengen, die normalerweise nach Europa fließen würden, an ihre Grenzen.“ Seine Vermutung: In den Speichern dürfte nicht mehr viel Platz sein. Das wiederum bedeutet: Russland muss das Gas, das es weder an den Westen verkaufen möchte, noch einlagern kann, verbrennen.
Der Kaffee ist in Italien mitunter eine flotte Angelegenheit. 25 Sekunden brauchen die neusten Maschinen für einen Espresso.
Und, das bedeutet, dass man ungefähr 40 Sekunden nach der Bestellung in einer italienischen Bar – mehr oder weniger sofort – eine Tasse vor sich stehen hat. „Caffè al banco“ nennt sich ein Espresso, den man – schnell schnell! – im Stehen an der Theke trinkt.
Für die immense Bedeutung, die dieses Ritual hat, ist es erstaunlich kurz. Für die immense Bedeutung, die dieses Ritual hat, ist es erstaunlich kurz – und, es ist kaum vorstellbar, dass es irgendwo einen italienischen Ort – und sei er auch noch so klein – ohne Bar gibt.
Die können untereinander verschieden sein, doch ihre Geräusche sind immer gleich:
Seit langem ist bekannt, dass der russischen Invasionsarmee in der Ukraine Soldaten fehlen.
Präsident Wladimir Putin hat mit einem Dekret die Aufstockung der russischen Armee um 137 000 Soldaten verfügt. Das wäre ein Wachstum um etwa zehn Prozent. Auf dem Papier hätte das Land dann 1,15 Millionen aktive Militärpersonen unter der Fahne.
Der Staat versucht an verschiedenen Orten im Land, wehrfähige Männer im Alter zwischen 18 und 60 für neue Freiwilligenbataillone zu rekrutieren. Die Bereitschaft dafür soll unter den Angesprochenen klein sein. Es gibt auch glaubhafte Berichte, dass die Wagner-Freischärlergruppe in Gefängnissen und Arbeitslagern junge Männer für den Krieg sucht und findet.
Nach offiziellen Angaben hatte die Armee bisher eine Obergrenze von 1 Million aktiven Militärpersonen sowie 900 000 Zivilangestellten. Hinzu kommen zwei Millionen Reservisten. Westliche Militärexperten glauben allerdings, dass diese Zahlen aufgebläht sind.
Ein langer Krieg steht bevor
Die Vergrösserung der Armee soll durch intensivere Mobilisierung von Freiwilligen erfolgen, aber konsequenter soll auch die Durchsetzung der Wehrpflicht erfolgen. Die Zahl der 18–27-jährigen Russen, die nicht ausgehoben werden, weil sie über ein medizinisches Gutachten verfügen oder dank der rechtzeitigen Einschreibung an einer Hochschule keinen Dienst leisten müssen, soll gesenkt werden.
Die erneute Mobilisierung zeigt, dass Putin mit einem längeren Krieg rechnet, der wohl auch über den kommenden Winter hinaus dauert. Sie zeigt ebenso, dass der Kreml alle möglichen Massnahmen trifft, um eine allgemeine Mobilmachung zu vermeiden, die aus der «Strafexpedition» im nahen Ausland auch für das russische Publikum einen ausgewachsenen Krieg machen würde.
Putin befindet sich auf einer Gratwanderung. Mit den vorhandenen Kräften ist ein Sieg über die Ukraine nicht zu haben, aber eine Generalmobilisierung könnte ihn die Heimatfront kosten.
Die Unterstützung für den Krieg, von der die Umfragen berichten, hängt nämlich nicht nur von der medialen Propagandamaschine des Regimes ab, sondern auch davon, dass es vor allem ethnische Minderheiten und periphere Gebiete sind, die ihre Söhne dem Krieg opfern. Nach Schätzungen der CIA sind bisher etwa 15 000 russische Soldaten umgekommen.
Junge Offiziere sterben am häufigsten
Eine aufwendige Recherche des russischen Dienstes der BBC (unter anderem auf Friedhöfen im ganzen Land) hat die Zusammensetzung der Gefallenen der Armee untersucht und untermauert diesen Befund. Es sind Regionen wie Dagestan, Burjatien und Krasnodar, aus denen proportional viel mehr Getötete stammen als aus der Grossregion Moskau, wo fast ein Zehntel der Bevölkerung lebt.
Knapp ein Fünftel der Gefallenen sind laut der BBC-Studie Offiziere, unter ihnen besonders viele Subalternoffiziere. Das Risiko, getötet zu werden, ist für einen Zugführer dreimal grösser als für seine Untergebenen.
Besonders hoch ist die Sterberate bei Infanteristen und Fallschirmjägern. Dass viele Infanteristen getötet werden, überrascht vielleicht weniger als der hohe Blutzoll unter den Elitesoldaten. Die Autoren erklären ihn damit, dass die ungenügenden Leistungen der motorisierten Infanterie immer wieder dazu führten, dass sie von Fallschirmjägern herausgehauen oder verstärkt werden müssten. Vor allem zu Beginn des Krieges blieben die hinter den ukrainischen Linien gelandeten Truppen oft ohne Unterstützung und wurden vom Gegner aufgerieben.
In jüngster Zeit sind es aber vor allem «Freiwillige», die im Krieg fallen. Das verwundert nicht. Denn sie werden fast durchs Band ohne nennenswerte Ausbildung nach drei bis sieben Tagen als Kanonenfutter an die Front geworfen. Über die Hälfte soll älter als 40 sein. Viele dieser Männer stammen aus den separatistischen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk, manche auch aus den russisch besetzten Gebieten. Oft werden sie zum Kriegsdienst gepresst.
Das Kreml-Dekret ändert an diesem Mobilisierungs-Malaise vorerst sicher nichts. Militärexperten sind skeptisch, ob es Putin gelingt, aus seinen Streitkräften tatsächlich eine Ein-Millionen-Armee zu machen.
Dank Supwercomputern werden Wettervorhersagen genauer.
Dennoch liegen die Prognosen von Handy-Apps oft daneben.
Hier erklärt ein Experte, woran das liegt – und welche Dienste er empfiehlt.
Sie gehört zu den eklatantesten Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg: die Leningrader Blockade. Fast zweieinhalb Jahre schließt die deutsche Wehrmacht die nordrussische Stadt zwischen September 1942 und Januar 1944 ein. Über eine Million Menschen sterben.Hitler persönlich hat die Blockade angeordnet.
Er will die 2,5 Millionen Einwohner nicht versorgen – Der Hungertod der Leningrader ist Teil des Kalküls.
Das „Jahrbuch der Lyrik“, das alljährlich im Schöffling Verlag erscheint, ist eine Anthologie, gewissermaßen eine „Blütenlese“ Die Arbeit der Herausgebe, aus den zu einem bestimmten Stichtag eingereichten Gedichten eine Auswahl zu treffen, ist Jahr für Jahr immer wieder eine schwierige Aufgabe. Schließlich ist jedes Blütenlesen immer – auch – ein Gewaltakt: man pflückt, man liest, und dann stellt man die einzelnen Blüten im Strauß zusammen.
Doch nach welchen oder wessen Kriterien lesen und komponieren wir da? Auch wenn die Jahreszahl Aktualität suggeriert – gute Gedichte „benötigen keine Aktualität“ – so jedenfals steht es im Vorwort zum Jahrbuch 2022, herausgegeben von Matthias Kniep und Nadja Küchenmeister.
Finden Sie hier einige von uns ausgewählte Blüten:
Diese Veröffentlichung wollte er als den großangelegten Versuch einer „philosophischen Hermeneutik“ verstanden wissen, wobei es dem Philosophen Gadamer dezidiert um „Wahrheit“ statt „Methode“ geht als Verfahrensweise, die sachliche oder symbolische Zusammenhänge nach intersubjektiv kontrollierten Regeln, also nach dem Vorbild der mathematisch-naturwissenschaftlichen „Methode“ zu analysieren sucht.
Dieses Werk löste in der Folgezeit auch eine verstärkte hermeneutische Reflexion in der deutschen Literaturwissenschaft aus.
Wir erinnern uns vieler Stunden mit unserem Freund Gadamer in Heidelberg in der Grabengasse 9 und gedenken seiner, indem wir sein Hauptwerk (versuchen) in Erinnerung zu bringen.
Jean-Paul Sartre, französischer Schriftsteller und Philosoph, beschrieb den Intellektuellen als einen „Menschen, der sich in all das einmischt, das ihn eigentlich nichts angeht“. Mit der Zeit und den Trägern des inoffiziellen Titels des „Intellektuellen“ entwickelte sich das Wort zu einem Begriff.
Ein Essay
Ein Plädoyer für mehr Einmischung der Kultur und Philosophie: Warum wir mehr Intellektuelle und weniger Experten brauchen
Die Welt wird komplexer. Das zieht Experten an und lässt Intellektuelle verstummen. Dabei brauchen wir sie jetzt umso dringender. Ein Plädoyer für mehr Einmischung der Kultur und Philosophie in die Politik.
Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt liebten die Debatte – und hinterliessen ein intellektuelles Vakuum
Sehnsucht nach den intellektuellen Lichtgestalten des letzten Jahrhunderts ist gross im Land. Wann immer ein Denker hervortritt und sich politisch äussert – etwa Lukas Bärfuss 2015 mit seinem Wut-Essay «Die Schweiz ist des Wahnsinns» –, wird gefragt: Ist er der neue Max Frisch? Kaum eine europapolitische Diskussion kann geführt werden, ohne dass einer Friedrich Dürrenmatt zitiert und die Schweiz als Gefängnis darstellt, deren Bewohner gleichzeitig Gefangene und Wärter seien.
Klar, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt waren Jahrhundertschriftsteller; man hätte beiden den Nobelpreis verleihen können. Dennoch stellt sich die Frage: Woher rührt das intellektuelle Vakuum, das sie hinterlassen haben? Sind die heutigen Schriftsteller, Philosophen und Künstler einfach weniger politisch? Nehmen wir sie weniger wahr? Vielleicht.
Vor allem aber: Die Welt hat sich verändert. Sie ist in den letzten Jahrzehnten ungemein komplex geworden.
Ein moralischer Kompass ist gesucht
Finanz- und Eurokrise, Gendergap und Verhüllungsdebatte, Facebook und Überwachungsskandal: Von Intellektuellen erwarten wir, dass sie uns Zusammenhänge aufzeigen, die über ein spezifisches Ereignis hinausgehen, und dass sie eine auf universellen Werten beruhende Perspektive schildern, die uns als moralischer Kompass dient. Ohne Zweifel ein hoher Anspruch.
Bei den Kaskaden der Finanzmarktkrise, die sich sowohl durch algorithmische Eigendynamik als auch durch psychologische Unzulänglichkeiten potenziert haben, wären wohl auch Frisch und Dürrenmatt an die Grenze ihres Intellekts gestossen. Wie eine Metapher zimmern, die so prägnant ist wie das Gefängnisbild der Schweiz?
Was Intellektuelle heute brauchen
Die Herausforderung ist gestiegen. Das heisst aber nicht, dass es keine Denkerinnen und Denker mehr gibt, die sich daran wagen. Die «Schweiz am Wochenende» hat die 50 einflussreichsten Intellektuellen gesucht – und sie gefunden.
Das grosse Ranking finden Sie hier:
GROSSES RANKING
Unser Intellektuellen-Index fusst auf zwei Pfeilern: Einerseits auf einer quantitativen Datenauswertung, in der, neben der Präsenz in den traditionellen und in den sozialen Medien, die Reichweite des jeweiligen Wikipedia-Eintrags berücksichtigt wurde. Andererseits auf einem qualitativen Jury-Urteil unserer Kulturredaktion.
Auf den ersten Rang geschafft hat es Sibylle Berg. Das ist keine Überraschung. Die Schriftstellerin ist fast schon der Prototyp einer Intellektuellen im 21. Jahrhundert. Sie ist auf den sozialen Medien präsent, aber auch regelmässig in Zeitungen und Magazinen als Interview-Partnerin oder Kolumnistin zu lesen. Ein Sendungsbewusstsein ist nötig, um gehört zu werden.
Vor allem aber arbeitet sie sich an der Komplexität der Welt ab. Für ihren Roman «GRM Brainfuck», der die totale Überwachung zum Thema hat, führte sie über 50 Experteninterviews, die teils sehr explizit in den Text eingeflossen sind. 16 davon hat sie in ihrem Buch «Nerds retten die Welt» versammelt. Wer etwas sagen will, muss viel wissen. Berg, die sich selber als Nerd bezeichnet, verfügt über die Gabe, ihr Spezialwissen so zu nutzen, dass daraus Texte entstehen, die grosse Zusammenhänge beleuchten und von der Masse gelesen werden. «GRM Brainfuck» wurde zum Bestseller und erhielt den s.
Twitter und Co können helfen, sind aber nicht zentral
Die sozialen Medien können den Intellektuellen als Sprachrohr dienen. Doch sie sind nicht zentral. Von den zehn Erstplatzierten im Ranking haben fünf gar keinen Twitter-Account. «Eine gute Präsenz auf Wikipedia und viele weit oben rangierende Einträge auf Google sind viel wichtiger als die Aktivität in den sozialen Medien», sagt der Netzwerkforscher Peter Gloor vom Massachusetts Institute of Technology, der für die «Schweiz am Wochenende» die Datenanalyse betreut hat. Diese Faktoren liessen sich auch viel weniger leicht manipulieren und seien deshalb höher zu werten.
Dennoch ist es heute für Denker eines traditionelleren Schlags schwerer, in der hyperaktiven Netzwelt sichtbar zu bleiben. So landet etwa der Germanist Peter von Matt, der von vielen Medien gern für eine intellektuelle Perspektive herangezogen wird, bei uns nur auf Platz 22. Wohingegen jüngere Köpfe mit ihren spielerisch-intelligenten Einwürfen auf den sozialen Medien vorrücken, etwa die Satirikerin Hazel Brugger (Platz 4).
Gerade weil in den schlimmsten Phasen der Pandemie Auftritte nicht möglich waren, boten Twitter und Co eine Bühne, um sich in die soziale Debatte einzumischen. Doch wie gross ist die Resonanz?
Führte die Pandemie zum «intellektuellen Lockdown«?
Die Stimmen der Intellektuellen waren in den Coronadebatten auf jeden Fall leiser als jene der Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft. Martin Meyer (Platz 27), der ehemalige Feuilleton-Chef der NZZ und Verfasser des bis dato einzigen namhaften Coronaromans, beklagt in einem Interview mit der «Schweiz am Wochenende» einen «intellektuellen Lockdown». Der Lockdown habe tatsächlich zum Stillstand des Denkens geführt, diagnostiziert er und bemängelt die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Pandemie.
Die Kritik mag scharf sein, im Kern trifft sie zu. Die Pandemie ist zwar ein globales, interdisziplinäres Thema, aber eben auch eines, das Fachwissen voraussetzt – und wer hat sich zuvor mit R-Werten und Virusmutationen befasst? Und so wird plötzlich die wissenschaftliche Hackordnung umgekehrt: Wir hängen an den Lippen der Epidemiologen und Virologen, die in der medizinischen Rangierung bisher weit hinter den Herzchirurgen und Neurologen zu finden waren. Die Krone der Wissenschaft – die Philosophie – scheint ganz unten verortet zu sein.
Intellektuelle sind die Antwort auf die Expertokratie
Die Coronakrise verdeutlicht, was schon die Finanzmarktkrise und
die Eurokrise gezeigt haben: Je mehr Expertise gefragt ist, desto schwieriger wird es für die Intellektuellen. Gleichzeitig gilt: Je komplexer die Welt wird und je mehr Expertenwissen gefragt ist, um sie zu verstehen, desto wichtiger wird die Rolle der Intellektuellen. Der Philosoph Michael Hampe beklagt die «soziale Entmündigung durch die Expertokratie». Wenn bloss Experten die Welt noch in Teilen verstehen, fehlt der Blick auf das Ganze.
Der Historiker Stephan Moebius drückt es so aus:
«Man sehnt sich nicht nur nach Experten, sondern nach engagierten Intellektuellen, die ihr Expertentum und ihre intellektuelle Tätigkeit mit Moralvorstellungen verbinden.»
Daraus geht hervor: Intellektuelle Tätigkeit allein reicht nicht, es braucht auch Expertentum. Nur wenn beides zusammenkommt, entsteht etwas, das über eine nüchterne Expertise hinausgeht.
Zum Glück gibt es in der Schweiz Denkerinnen und Denker, die über das nötige Wissen und einen scharfen Verstand verfügen, um in Krisenzeiten Orientierung zu geben. In ihren Kanon sollten mehr einstimmen. Je lauter ihre Stimmen erklingen, desto leiser werden die Rufe nach Frisch und Dürrenmatt.