Theodor W. Adorno hat den Grundfragen der Dialektik eine seiner Grundvorlesungen gewidmet – worin er als Verfahren die dialektische Reflexion als Verfahren bestimmt, das begreifen will, was sich dem begrifflichen Erfassen entzieht.
Im jeweils gut besetzten grossen Hörsaal der Uni Frankfurt wollte er die Zuhörer bei der Entwicklung seiner Gedanken mitnehmen, Verständnis durch stets erneutes Verdeutlichen und Erläutern erwecken. Als Schriftsteller ging es ihm um die begriffliche Präzision jeder einzelnen Formulierung in ihrer antithetischen Finesse. Trotz allen Unterschieden zwischen dem Pädagogen und dem Autor enigmatisch «komponierter» Texte gibt es doch zwischen dem mündlich Vorgetragenen und dem geschriebenen Buch eine Gemeinsamkeit: Der Wahrheitsgehalt von Adornos Philosophie ist an das gebunden, was er immer wieder die sprachliche Ausdrucksqualität genannt hat.
Notwendigkeit und Erfahrung
Kein Wunder, dass Adorno dieses rhetorische Moment nicht nur in der lebendigen Rede praktisch vorführt, sondern darauf gleich zu Beginn, in der zweiten und der dritten Vorlesungsstunde, ausführlich eingeht. Er spitzt hier programmatisch zu, dialektische Philosophie sei eine Philosophie, «die sich bewegt in der Spannung zwischen zwei Momenten: dem einen, das ich als Moment der Stringenz, der Bündigkeit, der Notwendigkeit bezeichnen möchte, und dem anderen, dem Moment des Ausdrucks oder der Erfahrung».
Seine singuläre Konzeption von Dialektik als Spannung zwischen Extremen erläutert Adorno keineswegs mit einem definitorischen Zugang. Gegen einen solchen sperrt er sich während der ganzen 26 Vorlesungen entgegen den Erwartungen seiner Studenten. Auch einer detaillierten ideenphilosophischen Rekonstruktion verweigert er sich. Er beschränkt sich pointiert auf immanente Kritiken von Hegel und Marx.
Vielmehr geht es Adorno, dem bekennenden Musiktheoretiker, darum, ein «Kraftfeld» ähnlich einem symphonischen Werk entstehen zu lassen, in dem sich das dynamische Wesen einer negativen Dialektik zu erkennen gibt. Ihr Originelles sieht er darin, dass die dialektische Reflexion das zu begreifen sucht, was sich dem operativen Verfahren begrifflichen Erfassens entzieht. Als Ausweg verweist Adorno auf das, was er als «Konstellation der Begriffe» bezeichnet und im Hauptwerk ausführlich erläutert hat.
Mehr als eine raffinierte Denkkunst
Adorno gesteht zu, dass Dialektik als Methode zwar seit je denkende Bewegung in Widersprüchen sei, die sich als «Triplizität» von Thesis, Antithesis und Synthesis entfalteten. Aber sie sei mehr als eine raffinierte Denkkunst, als die man sie gemeinhin diffamiere. Denn die im Erkenntnisprozess aufgespürten Widersprüche haben ihren historischen Ort. Sie wohnen den realen Antagonismen innerhalb der sozialen Realität inne.
Er meint damit indes nichts «An-und-für-sich-Seiendes», nichts Überzeitliches. Vielmehr geht es ihm im Hinblick auf den falschen Zustand um eine aus seiner Sicht veränderbare soziale Gegebenheit: die universale Geltung des abstrakten Tauschprinzips. Dessen Aufhebung sei Bedingung einer «richtigen» Gesellschaft, die aufgehört habe, System zu sein, die dem Zwang der Einheit entronnen sei und so auch, man höre, von Dialektik befreit sei.
Die Welt ist nicht reiner Geist
Seine Philosophie in immer wieder neuen Anläufen erläuternd, stellt Adorno klar, dass für ihn die Welt nicht die des transzendentalen oder absoluten Subjekts sei, so wenig, wie sie reiner Geist sei. Für den erklärten Feind jeder Standpunktphilosophie gilt, wie er es in dieser Vorlesung indes nur anklingen lässt, der Vorrang des Objekts, ohne dass damit die Reflexionskraft des Subjekts marginalisiert würde.
Das erinnert an die zentrale und verbindliche Formulierung aus der «Negativen Dialektik», wonach «Leiden Objektivität» sei, «die auf dem Subjekt lastet». In der Vorlesung spürt man allerdings, dass sich Adorno mit diesem materialistisch gemeinten Postulat gegen Idealismus und Realismus wendet. Er ist beim Wort zu nehmen, wenn er sich mehrfach auf Hölderlin beruft und betont, dass die dialektische Verfahrensweise der Königsweg dafür sei, ins Offene zu denken.
Nimmt man alle Vorlesungen zusammen, die innerhalb der «Nachgelassenen Schriften» zur Dialektik nunmehr vollständig ediert sind, wird man auf redundante Weise mit den variierten Reflexionen konfrontiert, die tatsächlich die «Nervenpunkte» von Adornos philosophischem Denken ausmachen. Aber dank den propädeutisch hilfreichen Gedankenführungen in der freien Rede wird der Gang «durch die Eiswüste der Abstraktion» erleichtert – so hat Adorno das Buch bezeichnet, das die erkenntnistheoretische Summe seiner Variante einer kritischen Theorie enthält.
Theodor W. Adorno: Fragen der Dialektik. Herausgegeben von Christoph Ziermann. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2021. 515 S., Fr. 81.90.