Der ukrainische Blogger Volodymyr Zolkin hat unter dem Hashtag #ищисвоих (etwa: #suchdeineLeute) Videos veröffentlicht, in denen er inhaftierte russische Soldaten zu ihrem Auftrag und ihrer Meinung zum Krieg befragt. Er tut das beharrlich seit Mitte März und wird seitdem für sein Vorgehen kritisiert: Er führe die Gefangenen vor, verletze die Genfer Konventionen, so der Vorwurf. Zolkin weist das zurück. Man weiß nicht viel zum Setting der Interviews, wie jenseits der Kamera mit den Gefangenen umgegangen wird.
Deshalb sind die Aufzeichnungen mit Vorsicht zu genießen.
Aber – dennoch oder eben grade drum – sind sie interessant:
Da sitzen blasse, lädierte Männer aus den entlegensten Winkeln der Russischen Föderation. Den Angaben zufolge Offiziere, Gefreite oder auch Deserteure, die oft maulfaul und unwirsch Rede und Antwort stehen. Die meisten weichen aus, taktieren, flüchten sich in das Mantra: »Wir wussten nicht, dass es in die Ukraine geht, wir dachten, es handelt sich um eine Militärübung.«
Arm und schlecht ausgebildet
Viele Gefangene kommen laut eigener Aussage aus der Provinz, berichten von Dörfern ohne asphaltierte Straßen und Wasseranschlüsse, von Arbeitslosigkeit und der Armee als letztem Weg aus persönlicher Misere. Sie beten herunter, was die ukrainischen Gesprächspartner mutmaßlich hören wollen: dass sie jetzt verstanden hätten, dass die Russen einen friedlichen, souveränen Staat angegriffen, gebrandschatzt, Frauen vergewaltigt und Kinder getötet haben. Dass der Krieg ein Ende haben müsse.
Diese Männer wirken gestresst. Sie haben Angst – den Ukrainern das Falsche zu sagen oder bei einer Rückkehr in die Heimat für die richtige Antwort zur Verantwortung gezogen zu werden. Aber dann und wann gibt es seltsame Momente der Authentizität. Da fragt etwa ein 23-jähriger mutmaßlicher Stabsoffizier, warum die Ukraine eigentlich unbedingt zu Europa gehören wolle. Das könne er gar nicht verstehen. Was soll man darauf antworten?
Wenn die Mutter der Staatspropaganda mehr traut als dem Sohn
Noch irritierender wird es, wenn die Gefangenen vor laufender Kamera ihre Verwandten anrufen. Am anderen Ende der Leitung herrscht keineswegs nur Erleichterung, endlich die Stimme des verschollenen Sohnes, Mannes oder Bruders zu hören. Vielmehr eine beklemmende Stille, ein insgesamt rauer, schicksalsergebener Tonfall, gepaart mit Misstrauen.
Eine Frau will ihren Mann gar nicht sprechen, weil das Gespräch aufgezeichnet wird. Die nächste hat inzwischen einen neuen Freund. Da gibt es den Typ seufzende Großmutter, die darüber klagt, wie sehr sie unter der Situation leide – und darüber vergisst zu fragen, wie sich der Kriegsgefangene eigentlich fühlt. Oder die Mutter, die ihrem eigenen Sohn weniger glaubt als der russischen Staatspropaganda.
Zolkin gibt sich viel Mühe, Putins Lügen zu entwirren. Er führt teils groteske Streitgespräche. Oft muss er den Familien erklären, dass die persönliche Erfahrung der Soldaten, ihr direktes Erleben der Kriegswirklichkeit doch wohl glaubhafter seien als die hanebüchenen Behauptungen des russischen Staatsfernsehens. Er muss Schein und Sein entflechten.
Die Befragten sind oder geben sich ahnungslos, viele wirken nicht besonders gebildet, sie spulen lustlos die Lügen ab, die sie daheim inhaliert haben. Diese Ignoranz schockiert, weil sie gepaart ist mit einem gewissen Unwillen, sie zu überwinden. Ob aus Trägheit oder Angst, wer weiß das schon?