Heizkosten
Nicht nur die Heizkosten steigen ins Unermessliche

Deutschland in der Krise Sehenden Auges in den Absturz

Keiner spricht präzise aus, welche verheerenden Auswirkungen Inflation und Energieknappheit bereits heute haben. Gerade größere Haushalte verlieren in kürzester Zeit rund ein Viertel ihrer Lebensgrundlage, Unternehmen müssen schließen. Dabei führt die aktuelle Energiepolitik die eigentliche Eskalation erst herbei.

Jan Schoenmakers

Autoreninfo

Jan Schoenmakers ist Gründer und Geschäftsführer der Analyse- und Beratungsfirma Hase & Igel, die sich darauf spezialisiert hat, mit Verhaltensdaten – von Google-Suchen über Social Media Gespräche bis zu Werbeausgaben – Entwicklungen in Markt und Gesellschaft zu bewerten. Nach seinem Studium der Medien- und Politikwissenschaft arbeitete der Statistikexperte lange Zeit als Kommunikationsmanager in der Energiewirtschaft.

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Schnell wird sich nun Protest regen: Der Schlag ins Kontor, den Ukraine-Krieg, Russland-Sanktionen und Lieferkettenprobleme der Volkswirtschaft verpassen, sei voraussichtlich geringer als jener durch Corona oder Finanzkrise. Und das stimmt beim Blick aufs BIP oder Konjunkturindikatoren – noch. Doch waren die Auswirkungen auf ganz normale Haushalte und Unternehmen in der Breite nie so verheerend wie jetzt. Denn es geht nicht bloß um teureren Zugang zu Krediten oder vorübergehende Lockdowns mit staatlicher Entschädigung, es geht um beispiellose Preissteigerungen für die basalsten Ausgangs- und Versorgungsgüter – und, gerade für Unternehmen, zunehmend um deren Nichtverfügbarkeit.

Beispiellose Preissteigerungen bei überlebensnotwendigen Gütern

Nehmen wir eine Familie mit vier Kindern, die auf dem Land in einem sanierten Altbau lebt und bei der die beiden berufstätigen Eltern zur Arbeit pendeln. Sie findet sich akut in folgender Situation wieder:

Für das Erdgas zur Beheizung ihres Hauses muss sie aufgrund des vervierfachten (!) Preises fast 5000 Euro mehr pro Jahr zahlen. Für Strom zahlt sie bereits jetzt 300 Euro mehr im Jahr. Und die Mehrkosten werden auf knapp 4000 Euro anwachsen, sobald die Stromanbieter die eigentlichen Preissprünge – ebenfalls eine Vervierfachung – an die Verbraucher weiterreichen dürfen; ein Schritt, zu dem Minister Habeck aufgrund einer drohenden Pleitewelle der Stadtwerke bereits Bereitschaft signalisiert hat. Berufspendeln und die Fahrten zum Einkaufen mit dem Auto – ÖPNV ist auf dem Land dafür zu schlecht ausgebaut – ist durch Preissteigerungen von über 25% auf Kraftstoffe um mehr als 1000 Euro p.a. teurer geworden. Der Lebensmitteleinkauf kostet die Familie auf 12 Monate mindestens 1500 Euro mehr. Und die angekündigten Beitragssteigerungen bei den Sozialversicherungen werden weitere ca. 1000 Euro von der Haushaltskasse abzweigen.

Alles in allem hat diese Familie alleine durch die Teuerung dieser unmittelbaren, täglichen Versorgungsgüter und erzwungenen Abgaben 8800 bis 12.500 Euro (mit/ohne kommende Strompreisexplosion) weniger Geld zur Verfügung. Bei einem Medianeinkommen von 45.000 Euro netto sind das atemberaubende 20 bis 28% weniger Geld für Ernährung und Kleidung, für die Fahrt zum Arbeitsplatz, für die Miete oder das Abbezahlen des Kredites (dessen Verlängerung ebenfalls um mehr als 200 Prozent teurer geworden ist). Wir sprechen über Menschen, die im Dunkeln und Kalten sitzen, weil sie sich Strom und Gas nicht mehr leisten können. Menschen, die ihren Job verlieren, weil der Weg zur Arbeit ihre finanziellen Möglichkeiten übersteigt. Menschen, die ihre Bleibe verlieren, weil sie kein Geld mehr für Miete oder Kredittilgung haben. In einem der bislang reichsten Industrieländer der Welt.

Holz, Stahl, Kupfer, Beton haben sich im Preis verdrei- oder gar vervierfacht

Oder nehmen wir den mittelständischen Betrieb: Dieselben Preissteigerungen bei Strom, Gas und Kraftstoffen nehmen ihm wirtschaftlich die Luft zum Atmen und machen die Produktion in dem Land, dessen Wettbewerbsfähigkeit bereits vor der Krise unter den höchsten Energiekosten litt, unwirtschaftlich. Dennoch möchte der Betrieb nicht die Flinte ins Korn werfen. Doch auch seine Primärmaterialien – Holz, Stahl, Kupfer, Beton – haben sich um mindestens zweistellige Prozentzahlen verteuert, teilweise im Preis ebenfalls verdrei- oder gar vervierfacht. Und immer häufiger bekommt er gar keine Lieferungen mehr oder nur mit Monaten Verzögerung. Auch Kredite zur Vorfinanzierung solcher Lieferungen haben sich um ein Vielfaches verteuert. Zeitgleich drängen die Beschäftigten auf Lohnsteigerungen, weil sie einen Kaufkraftausgleich angesichts der Rekordinflation wünschen.

 

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Der Betrieb steht nicht mehr nur mit dem Rücken zur Wand – er ist bereits weiter: Mithilfe einer Unternehmensberatung werden händeringend Käufer zum Discountpreis gesucht, die die Firma übernehmen, solange sie überhaupt noch etwas wert ist, und wenigstens einige Jobs erhalten.

Das ist die Realität in Deutschland im dritten Quartal 2022. Doch Wirtschaftsminister Habeck empfiehlt kürzere Duschzeiten oder kleinere Flachbildfernseher – und erweckt damit den Eindruck, dass man mit milden Opfern auf der Wellenlänge des schicken Minimalismus Neuköllner Hipster durch die Krise käme. Kanzler Scholz feiert sich derweil gar dafür, man habe den Bürgern „90 Prozent der gestiegenen Kosten“ vom Hals gehalten. Die Vermutung drängt sich auf, dass Deutschlands Spitzenpolitiker schon sehr lange nicht mehr einen normalen Haushalt selbst geführt oder ein normales Unternehmen besucht haben.

Die Energiepolitik wird die Krise noch um ein Vielfaches verschärfen

Der Bezugsverlust der Regierung zur Realität von Wertschöpfung, Markt und Infrastruktur zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in der Energiepolitik. Zu einem erheblichen Teil ist die aktuelle Krise eine Energiepreis- und Energieknappheitskrise. Der Kanzler kann nicht mehr garantieren, dass die Bürger im Winter noch heizen können, der Wirtschaftsminister empfiehlt Unternehmen, sich mit Notstromaggregaten einzudecken, und auf eine aktuelle Anfrage musste Habecks Ministerium zugeben, dass die Abhängigkeit von russischem Öl mehr als doppelt so groß ist, wie vom Minister beim Werben für ein Öl-Embargo angegeben.

Doch sieht man sich vergebens nach einem tragfähigen Plan B um: Der LNG-Markt ist nicht ausreichend liquide, sehr teuer, und es gibt auf Jahre keine genügenden Transportkapazitäten. Fracking ist politisch nicht gewollt und bräuchte langen Vorlauf. Alternative Brennstoffe von Holzpellets über Biogas bis E-Fuels wurden über mehr als zehn Jahre politisch abgewürgt.

So lautet die einzige Antwort der Bundesregierung auf die Energieknappheit in allen Sektoren: Strom, Strom und noch mehr Strom. Das russische Gas beim Heizen? Millionen Wärmepumpen sollen stattdessen mit Strom Wärme erzeugen. Prozesswärme der Industrie? Die Umrüstung auf Wasserstoff wird vorangetrieben, der mit Strom synthetisiert werden soll. Das russische Öl in der Mobilität: Batterie-Elektroautos (übrigens alleine von den Materialkosten her mehr als doppelt so teuer wie Verbrenner) sollen es richten, alle anderen Technologien werden von Rot-Grün für tot erklärt.

Was indes Minister Habeck genauso wenig verrät wie der Kanzler, ist, wo der ganze Strom herkommen soll. Bereits heute ist die Lage am Strommarkt angespannt durch den kurzfristigen Wegfall der Stromerzeugung aus Erdgas, die 2021 immerhin 15 Prozent des Gesamtvolumens ausgemacht hat. Versorger und zunehmend auch Kunden müssen eine Verdrei-, Vervier-, Verfünffachung der Strompreise erdulden, für kurzfristig benötigte Mengen teils noch mehr. Das treibt Energieunternehmen an den Rand der Pleite und darüber hinaus. Auch im Stromnetz ist die Lage jetzt schon prekär, für den Winter rechnen Experten in Politik und Wirtschaft mit Blackouts.

Exponentielle Preisexplosionen am Strommarkt

In dieser Lage will die Bundesregierung die letzten Atomkraftwerke mitten im Winter von Netz nehmen und damit noch einmal knapp 12 Prozent Strom aus dem System ziehen. Binnen eines Jahres wird dann mehr als ein Viertel der Stromerzeugung fehlen, das Gut Strom wird noch wesentlich knapper. Eine Wärmepumpe indes verdoppelt den Stromverbrauch eines Haushaltes ungefähr. Ein Elektroauto ebenfalls. Das Rezept der Bundesregierung bedeutet also: für mehr Unabhängigkeit von Russland Verdreifachung des Stromverbrauchs von Haushalten – während Strom bereits heute so teuer ist wie nirgendwo sonst auf der Welt und durch die künstliche Verknappung in der Erzeugung noch weiter dramatisch verteuert wird.

Das bewegt sich in seiner Plausibilität irgendwo zwischen der Quadratur des Kreises und dem Perpetuum Mobile. Denn mit keinem Geld der Welt bekommt man Strom, der gar nicht erst erzeugt wird. Und mit keinem Geld der Welt kann man ihn durch Netze transportieren, die jetzt bereits am Limit stehen und deren zumindest regionalen Zusammenbruch die Bundesregierung schon diesen Winter fürchtet. Die Folgen dieser Politik werden exponentielle Preisexplosionen am Strommarkt sein, die Haushalten und Wirtschaft noch mehr die Luft zum Atmen nehmen, als es derzeit bereits die Knappheit und Teuerung beim Gas tut – deren erwartbare Folge ein aktuelles Gutachten von Prognos derzeit mit 5,6 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen beziffert.

Und das bezieht nicht die Schäden ein, die Blackouts hinterlassen. Bereits heute ist Stromausfall verheerend: kein Licht, kein Mobilfunknetz, kein Trinkwasser, keine Maschinen von der Fertigung bis ins Krankenhaus, keine Datenverarbeitung. In der Welt, die die Bundesregierung anstrebt, gehen die Folgen noch viel weiter: Kein Strom bedeutet dann auch keinerlei Wärme und keinerlei Mobilität. Das Land fällt in solchen Situationen vorindustrielle Zustände – bzw. schlimmer als das: in Anarchie, da wir im Zeitalter der Elektrifizierung und Digitalisierung gänzlich unvorbereitet auf ein Leben ohne Strom sind. Der absolute Fokus auf Strom ist überdies der Traum eines jeden Terroristen, Saboteurs oder einer jeden feindlichen Macht – denn die Strominfrastruktur ist wesentlich leichter anzugreifen als jene für Erdgas, Erdöl oder gar Holz.

Das Haus brennt ab und keiner ruft „Feuer“

Nichts an dieser Krise ist unvermeidbar. Ob Atomausstieg oder der Ausstieg aus dem Verbrenner, ob Sanktionen gegen Russland oder die politische Blockade alternativer Brennstoffe, ob ungeschickte öffentliche Beschaffungsversuche oder eine irrlichternde Kommunikation, die Vertrauen in den Märkten zerstört: All das sind politisch gewählte Schritte, die jederzeit geändert werden könnten. Schritte, die künstliche Knappheit erzeugen, die Märkte in Panik versetzen und Preise in Höhen treiben, die unsere Volkswirtschaft im Rekordtempo erdrücken.

Doch während das Haus brennt und die Verantwortlichen den Wasserschlauch unbenutzt lassen (böse Zungen würden sagen: eher noch mit Zündhölzern daneben stehen), ist die Stimme der Opposition ebenso schwach zu hören wie kritische Töne aus den Medien. Alle erkennen zwar eine „Krise“ oder eine „ernste Lage“ an, doch keiner traut sich, die Katastrophe auch so zu nennen – und darauf hinzuweisen, dass sie fabriziert ist, kein Naturereignis.

Wie kann es sein, dass derart dramatische Entwicklungen nicht das alles bestimmende Thema sind? Dass unsere Politiker überhaupt noch Zeit auf irgendetwas anderes verwenden, als diese Existenzkrise zu bewältigen? Eine solche Notlage hatten wir seit Gründung der Bundesrepublik noch nie. Doch wir sprechen mehr über die Situation in Charkiw als über die in Bottrop, mehr über die Maskenstrategie für den Corona-Herbst als darüber, wie viele Haushalte und Unternehmen diesen Heizwinter wirtschaftlich nicht überstehen werden.

Unsere Politik kommt in Symbolik und Effektivität einer Selbstverbrennung aus Protest gegen Ukraine-Krieg und Klimawandel gleich. Ein aufsehenerregendes Statement, aber fatal. Wo bleibt die Solidarität mit den eigenen Bürgern, deren Nutzen zu mehren und von denen Schaden abzuwenden das Grundgesetz befiehlt? Und wie wollen wir der Ukraine gegen russische Aggressoren helfen, wie wollen wir Indien zum Klimaschutz inspirieren, wenn wir dabei in erster Linie unsere eigene wirtschaftliche Lebensgrundlage zerstören?

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Juli 2022 | In Arbeit | Kommentieren