Der türkische Präsident Erdogan gibt sein Veto auf. Bild: Imago
Die Türkei stimmt zu, Schweden und Finnland in die NATO aufzunehmen. Doch Erdogan verlangt Zugeständnisse für die Aufgabe der Blockadehaltung: Das Memorandum, auf das sich die drei Staaten verständigen, geht auf alle seine Bedingungen ein.

Dreieinhalb Stunden lang saßen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der finnische Präsident Sauli Niinistö und die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson am Dienstag zusammen in einem schmucklosen Raum auf dem Messegelände von Madrid. Mit dabei waren ihre Außenminister. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab den Vermittler. Er hatte die Anführer eingeladen, um den gordischen Knoten zu durchschlagen, der die Allianz seit Mitte Mai belastete: das türkische Veto gegen die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Allianz. So gut wie nichts drang während der Sitzung nach draußen. NATO-Beamte taten ihr Bestes, um die Erwartungen niedrig zu halten. Dann aber, um kurz nach acht, wurden die wartenden Journalisten in Pressesaal Nummer 14 beorder

Was folgte, hätte aus einem Theaterstück von Samuel Beckett stammen können, dem großen Mann des absurden Theaters. In dem Saal stand ein Tisch mit drei Stühlen, dahinter die Fahnen der drei Länder. Damit war klar, dass es eine Einigung gab. Doch als die Verhandler eine Viertelstunde später den Raum betraten, sagte keiner von ihnen auch nur ein Wort. Die Außenminister nahmen am Tisch Platz, dahinter die Staats- und Regierungschefs. Den Ministern wurden Dokumentenmappen gereicht, sie unterschrieben etwas. „Ich denke, wir können uns jetzt die Hände schütteln“, zischte Stoltenberg aus dem Hintergrund, als das vorüber war. Ein paar Leute im Saal klatschten, vor allem türkische Journalisten. Dann verließen die Verhandler den Raum wieder, so wortlos, wie sie gekommen waren.
Es war dann Stoltenberg vorbehalten, die Einigung in Pressesaal Nummer eins, ungefähr einen Kilometer entfernt, zu verkünden und zu erläutern. „Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir jetzt ein Abkommen haben, das Finnland und Schweden den Weg zum Nato-Beitritt ebnet“, sagte der Norweger. Die Türkei, Schweden und Finnland hätten eine Absichtserklärung unterzeichnet, die auf die türkischen Bedenken eingehe. Schon am Mittwochmorgen würden die Staats- und Regierungschefs der Allianz eine Einladung zu Beitrittsverhandlungen aussprechen. Das ist eine reine Formalie, ein NATO-Beamter verglich sie kürzlich mit dem Ehegelübde. Die neuen Mitglieder müssen versprechen, dass sie in guten wie in schlechten Tagen zur kollektiven Verteidigung stehen und dass sie ihren Teil zum gemeinsamen Haushalt der Allianz beitragen. „Unmittelbar nach dem Gipfel“ könnten die Beitrittsprotokolle unterzeichnet werden, stellte Stoltenberg in Aussicht. Danach beginnt die Ratifizierung in allen Mitgliedsstaaten.

Türkei fordert Auslieferung kurdischer Extremisten

Das Memorandum, auf das sich die drei Staaten verständigt hatten, geht auf alle Bedingungen ein, die Ankara Schweden und Finnland gestellt hatte. Sie benennen die PKK klar als Terrororganisation und sagen zu, gegen alle ihre Aktivitäten vorzugehen, einschließlich mit ihnen verbündeter Gruppen und Netzwerke. Das schließt aus türkischer Sicht die syrisch-kurdische Volksmiliz YPG ein. Sie wird in einem eigenen Absatz der Erklärung erwähnt. Darin sagen die beiden Beitrittskandidaten zu, der Gruppe keinerlei Unterstützung zu gewähren. Das war Erdogan sehr wichtig. Er kritisiert seit Jahren, dass die Vereinigten Staaten die YPG in Syrien als Verbündeten im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ betrachten und wohl auch ausrüsten. Daran wird sich freilich auch durch dieses Memorandum nichts ändern – es bindet nur die drei Staaten.

Schweden und Finnland verweisen auf Gesetzesänderungen, um zu unterstreichen, dass sie es ernst meinen mit dem Kampf gegen Terrorismus. In Schweden wird am 1. Juli ein neues Gesetz in Kraft treten, das terroristische Taten breiter fasst und höhere Strafen vorsieht. Man erlebe gerade die „größte Überarbeitung“ der Gesetzgebung gegen Terrorismus in dreißig Jahren, hatte die schwedische Regierungschefin Magdalena Andersson am Montag gesagt. Zuvor seien schon die Gesetze gegen die Finanzierung von Terrorismus verschärft worden, als Nächstes werde die Verfassung angepasst, um die Beteiligung an terroristischen Organisationen bestrafen zu können. „Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass Schweden im Kampf gegen Terrorismus weiter entschlossen an der Seite gleichgesinnter Staaten stehen wird.“

Das allein reichte Ankara aber noch nicht. Die türkische Regierung forderte die Auslieferung mehrerer kurdischer Extremisten. Auch das kommt in dem Memorandum vor. Schweden und Finnland wollen mit der Türkei Auslieferungsabkommen schließen, natürlich in Übereinstimmung mit europäischem Recht. Am Montag hatte Andersson darauf verwiesen, dass die Justiz derlei Anträge „unverzüglich und umsichtig“ bearbeite. In einem Rechtsstaat kann und darf die Politik nicht in solche Verfahren eingreifen. Allerdings kann sie, wie Andersson auch sagte, Personen ausweisen, die nicht verurteilt sind, aber eine öffentliche Gefahr darstellen. Eine „beträchtliche Zahl“ solcher Fälle werde gerade geprüft – das dürfte der Regierung eine Brücke bauen.

Es war auch der wichtigste Grund, warum der Schlüssel zu einer Einigung in Stockholm lag und nicht in Helsinki. In Schweden leben mehrere kurdische Aktivisten, die Ankara für Terroristen hält; in Finnland ist das nicht der Fall. Der andere Grund betrifft das Waffenembargo gegen die Türkei. Zwar lehnten es beide Länder nach dem türkischen Einmarsch in Syrien 2019 ab, Ankara Kriegsgerät zu liefern. Doch sind die schwedischen Gesetze noch restriktiver als die finnischen: Grundsätzlich ist dort jede Waffenlieferung ins Ausland verboten, es sei denn, die Regierung erteilt eine Ausnahmegenehmigung. Außerdem ist die schwedische Rüstungsindustrie bedeutsamer als die finnische – damit also auch interessanter für Ankara.

Andersson ging auch auf diesen Punkt ein. Die NATO-Mitgliedschaft werde Implikationen für die Kontrolle der Ausfuhr von Verteidigungsgütern an alle Verbündeten haben, sagte sie. „Solidarität im Bündnis wird sich in unserem nationalen Regelwerk widerspiegeln.“ Das durfte man als Ankündigung werten, dass Schweden von seinem rigorosen Kurs abweichen will – und dass die Türkei keine Sonderbehandlung bekommen wird. Auch Finnland zeigte sich dafür aufgeschlossen. Den Grundsatz, Waffen nicht in Spannungsgebiete zu liefern, habe man ja gerade in der Ukraine aufgegeben, sagte kürzlich ein Diplomat des Landes. Er wies zudem darauf hin, dass laufende Verträge mit der Türkei ohnehin nicht ausgesetzt worden seien. Im Memorandum heißt es dazu nun, dass beide Länder ihre Regeln für Rüstungsausfuhren so überarbeiten würden, dass dies ihren Verpflichtungen als NATO-Verbünde entspreche.

Da fehlte wohl nur noch ein Element, um Erdogan von seinem Veto abzubringen. Es kommt in dem Dokument nicht vor, wird aber an diesem Mittwoch eine Rolle spielen, wenn der türkische Präsident den amerikanischen trifft. Er werde dann mit Joe Biden über den Kauf von F-16-Kampfflugzeugen sprechen, kündigte Erdogan am Dienstag an. Die hätte die Türkei gerne als Ersatz für F-35-Kampfflugzeuge, die Washington strich, als Ankara ein russisches Raketenabwehrsystem beschaffte. Erdogan warf Amerika eine „Hinhaltetaktik“ vor. Die wiederum war zuletzt Teil der schwierigen Verhandlungen über die Erweiterung der Allianz.

Das dürfte sich nun ändern. US-Präsident Joe Biden gratulierte der Türkei, Finnland und Schweden zur Unterzeichnung des entsprechenden Memorandums, hieß es in einer Mitteilung Bidens vom Dienstagabend. Damit werde der Weg dafür geebnet, „dass die Bündnispartner Finnland und Schweden auf dem Madrider Gipfel zum Nato-Beitritt einladen können“. Die Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens „wird die kollektive Sicherheit der Nato stärken und dem gesamten transatlantischen Bündnis zugute kommen“.

Weiter hieß es in Bidens Mitteilung: „Zu Beginn dieses historischen Nato-Gipfels in Madrid ist unser Bündnis stärker, geeinter und entschlossener denn je.“

Jun 2022 | In Arbeit | Kommentieren