In den vergangenen Tagen erreichten Schlagzeilen über eine neue Krankheit Millionen von Menschen: »Affenpocken: Stecken sich Homosexuelle häufiger an?
Auch im SPIEGEL ist zu lesen: »Warum Männer, die Sex mit Männern haben, zu Vorsicht aufgefordert sind«. Auch wenn dahinter zum Teil ausgewogene Berichte stehen, stellt sich die Frage: Warum schaffen es im Jahr 2022 – mitten in einer anderen, noch anhaltenden Pandemie – weiterhin irreführende Informationen und schlimmstenfalls Panikmache auf Bildschirme und Titelseiten?
Zunächst die Fakten
Die für die Krankheit entscheidende Ausbreitung des Orthopoxvirus kann theoretisch jede Person treffen, die engen (sexuellen oder einfach nur physischen) Kontakt mit einer anderen, infizierten Person hatte. Die Infektion wurde in der Vergangenheit schon bei Frauen, Männern und Kindern nachgewiesen. Was auch stimmt: Schwule Männer sind ebenfalls betroffen. Das bedeutet aber nicht, dass der Rest der Gesellschaft immun gegen die sogenannten Affenpocken ist.
Fachleute sagen, dass eine erhöhte Sensibilisierung, ältere Pockenimpfungen, strenge Quarantänemaßnahmen und eine effiziente Nachverfolgung von Infektionsketten gut wirken. Hinzu kommt, dass der Erreger – anders als im Fall von Covid-19 zu Beginn der Coronapandemie – schon länger bekannt ist.
Die Bezeichnung ist unglücklich
Dabei ist der Name Affenpocken irreführend: Von einer unglücklichen Bezeichnung spricht im RBB zum Beispiel Timo Ulrichs, Epidemiologe von der Akkon-Hochschule Berlin. Und die Wissenschaftsjournalistin Kathrin Kühn sagte im Deutschlandfunk : »Affenpocken – das ist neu und erfüllt viele Sensationskriterien.«
Zwar wurde der Erreger Ende der Fünfzigerjahre in einem dänischen Labor tatsächlich in einem Affen zum ersten Mal nachgewiesen. Angenommen wird aber, dass das Virus in Nagetieren und anderen kleinen Säugetieren zirkuliert. Affe und Mensch werden in der Forschung als Fehlwirte bezeichnet, auf die das Virus durch engen Kontakt erst später übergesprungen ist.
Dennoch hat sich die Bezeichnung Affenpocken durchgesetzt, weil die Krankheit – in Verbindung mit einer dürftigen Gesundheitsversorgung – bisher vor allem in West- und Zentralafrika aufgetreten ist. Bekannt ist auch: Im kolonialen Blick steht der Affe als entmenschlichendes Symbol für Afrikaner.
Rassistische Bildsprache
Für ein exotisierendes Framing – also die Darstellung, dass diese Krankheit vor allem etwas mit Afrikaner*innen und nichts mit »uns« zu tun hat – sorgt auch eine eindeutig rassistische Bildsprache bei der Berichterstattung: Obwohl die jüngsten Ausbrüche in mehreren europäischen Ländern nicht unbedingt Schwarze Menschen betrifft, sieht man dennoch überall Bilder von Schwarzen Körpern, die von dem für die Erkrankung typischen eiternden Ausschlag befallen sind.
Auf einer Bildmontage ist plakativ neben den Händen einer Schwarzen, infizierten Person etwa der Kopf von Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu sehen. Ein kenianischer Fernsehsender traf auf Twitter einen Nerv, in dem er realitätsnah in Verbindung mit den Ausbrüchen in Europa das Bild eines weißen Mannes mit dem Ausschlag im Gesicht verbreitete.
Insgesamt wurden in sehr wenigen Tagen Berichterstattung also zwei imaginierte Wahrheiten etabliert:
Der Erreger betrifft nur Männer, die Sex mit Männern haben.
Der Erreger betrifft nur Schwarze oder aus Afrika stammende Menschen. Beides stimmt so nicht.
Mehrere Gesundheitsorganisationen wie die Aids-Hilfe warnen deswegen schon davor, Panik und unangemessene Ängste entstehen zu lassen. Teile der aktuellen Berichterstattung und Schuldzuweisungen aus Teilen der Mehrheitsgesellschaft erinnern stark an die Diskussionen während der Aids-Epidemie in den Achtziger- und Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts.
Damals wurde HIV/Aids als Problem schwuler Männer abgetan. Sie wurden deswegen massiv stigmatisiert und mussten selbst überall auf der Welt dafür kämpfen, dass Forschung und Präventionsmaßnahmen gegen HIV/Aids gestärkt wurden. Diese schwulenfeindliche Stigmatisierung hat sich bis heute in das kollektive Gedächtnis vieler queerer Communities eingebrannt.
Was es jetzt braucht
Hier liegt auch im Jahr 2022 eine Gefahr: Die aktuelle Darstellung, dass die erneute Ausbreitung der sogenannten Affenpocken lediglich ein Problem von sexuellen Minderheiten sei, könnte wieder dafür sorgen, dass nötige Maßnahmen zur Prävention und zum Schutz der Gesamtbevölkerung ausbleiben.
Die Stigmatisierung von queeren Communities im Kontext von Epidemien ist generell gefährlich – vor allem für die Gesundheit der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft. Am Beispiel HIV wird das deutlich: So waren in England zuletzt erstmals mehr heterosexuelle Menschen vom HI-Virus betroffen als schwule oder bisexuelle Menschen. Hinzukommt, dass die heterosexuellen Menschen häufiger erst in einem späten Stadium diagnostiziert werden.
Das hat in erster Linie etwas damit zu tun, dass die Infektionszahlen unter schwulen und queeren Männern dank queerem Aktivismus, medizinischer Forschung und einer fortschrittlichen Gesundheitsversorgung stark zurückgegangen sind. Während sich auf der anderen Seite eine große Bevölkerungsgruppe in Sicherheit wähnt und nicht die gesundheitliche Sensibilisierung mitbringt, wie sie in queeren Communities herrscht.
Um die aktuelle Ausbreitung der Nagetierpocken, aber auch anderer Infektionskrankheiten einzudämmen, braucht es also eine ganzheitliche, stigmatisierungsfreie und wissenschaftsbasierte Betrachtung und Berichterstattung.