Angst vor dem Weltuntergang? Bedenke was Apokalypse bedeutet, bedenke das Ende – Der Ukraine-Krieg macht Angst. Politik und Psychologie wollen sie unter allen Umständen bezwingen. Warum es dennoch wichtig ist, die Furcht vor dem Tod zuzulassen. Ja, es ist schwer, gerade nicht zu denken, dass das Ende von allem bereits begonnen hat. Dass Kiew, Charkiw, Cherson, die Nato,
der Westen, der Osten, Russland, die USA, die Wohnung mit dem mittelalterlichen Brunnenkeller drunter, in der man alt zu werden gedachte, die Urlaubsbilder und Erinnerungen, Nachbarn und Kollegen, Vater, Mutter und, naja Frau und Kind samt Hund und einem selbst bald verglühen in einem atomaren Blitzlicht. Und mit jeder Sondersendung zur Ukraine, jeder Live-Schalte ins Kriegsgebiet, jeder Ferndiagnose, ob Putin (Best Case) nur ein massenmordender Stratege oder (Worst Case) bereits ein wahnsinniger Diktator im Weltvernichtungsmodus ist, fürchtet man mehr, erst Zeuge und dann Opfer einer Apokalypse in progress zu sein. Wut, Trauer, Furcht wechseln sich ab mit Hilflosigkeit. Letztere äußert sich oft in rührend-sinnlosen Schutzhandlungen: der Inspektion des Kellers (Hält mein Keller einem taktischen Atommarschflugkörper stand?) oder dem Eruieren der besten ICE-Fluchtrouten für den Ernstfall (dabei fährt die Deutsche Bahn ja nicht mal mehr bei Sturm).
Doomscrolling nennt man den exzessiven Konsum schlechter Nachrichten. Psychisch anfällige Menschen macht das krank, unglücklich macht es sowieso. Doch was tun, wenn der Weltuntergang via Fernsehen, Radio, Smartphone überall zu sein scheint und Eskapismus nur kurz kommt vor Fahnenflucht? Eine Bundeswehr-Ärztin riet unlängst auf Twitter: Medienkonsum reduzieren, Überforderung akzeptieren, Gefährdung analysieren. Außerdem könne man ja die eigene Resilienz stärken, indem man sich aus dem Sessel erhebt und einen Flüchtling aufnimmt. Oder sitzen bleibt und spendet. Am wichtigsten aber sei es, zu akzeptieren: „Es geht nicht um dich!“ Zu viel Doomscrolling mache egozentrisch. Irgendwann übersehe man, dass die russische Vakuumbombe nicht der deutschen Couchkartoffel gilt, sondern den Menschen im Radius ihrer Vernichtung.
Das stimmt natürlich. Und doch ist es unmöglich, sich nicht mitgemeint zu fühlen, wenn Putin, wie am 27. Februar im Kreml, seinem entgeisterten Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Stabschef Waleri Gerassimow befiehlt, die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Und das nur wegen der „unfreundlichen Maßnahmen“ des Westens sowie einiger „aggressiver Aussagen“. Der Befehl war eine Drohung an alles und jeden von einem, der alles und jeden vernichten kann. Natürlich nimmt man das persönlich. An einen Atomkrieg kann man sich nicht anpassen, egal wie resilient man ist. Angst ist ergo das einzig Vernünftige und Zweckoptimismus eine gefühlige Verkennung der Realität. Drum malt man sich das Schlimmste aus. Denn das Schlimmste ist in solchen Situationen tatsächlich möglich, wenngleich nicht automatisch wahrscheinlich.
So wurden Generationen von Jugendlichen im ausgehenden 20. Jahrhundert durch die Bücher Gudrun Pausewangs auf einen Atomkrieg konditioniert, der dann doch nicht kam. Endzeitfilme wie „The Day After“ oder „When the Wind Blows“ gehörten zum öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag. Und jedes Popsternchen, das etwas Ähnliches sein wollte wie ein Künstler, schnulzte seine eigene Hymne auf den Untergang. Dabei hatte man als Jugendlicher in den Spätachtzigern gefühlt schon genug damit zu tun, die Pubertät zu überleben, und dann deprimierte einen die mediale Dauermahnung in Dudelfunk und Deutschunterricht auch noch für alles, was danach kommt: „Bedenke, dass du sterblich bist!“ So sollte kein potenzieller kalter Krieger je vergessen können, dass auch er zu 70 Prozent aus Wasser besteht, das verdampfen kann.
Der Schriftsteller und Schwarzseher Günther Anders brachte das Selbstverständnis der Epoche bereits 1959 auf den Punkt: „Dieses Zeitalter“, schreibt Anders, „ist das letzte. Die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung kann niemals enden – es sei denn durch das Ende selbst.“ Es war zum Depressivwerden. Nur wurden die meisten eben nicht depressiv. Weil, es gab ja noch Raider, „Spaß am Dienstag“ sowie den frühen, also dünnen Boris Becker. Das kleine Glück und die große Angst hielten sich erstaunlich lange die Waage.
Und dann kam doch alles anders, als Günther Anders dachte. Abrüstung, friedliche Revolution, das Ende der Geschichte – das Jahr 1989 ließ alle plötzlich wieder an die Menschheit glauben. Die Apokalypse wurde verschoben, und auch die Romane Gudrun Pausewangs fielen der Abrüstung zum Opfer, wurden von der Pflicht- zur Kann-man-mal-machen-Lektüre im Deutsch- oder besser noch Geschichtsunterricht. Endzeitfantasien gab’s zwar weiter, doch taten sie kaum mehr wirklich weh. Zombie-Apokalypse, Alien-Invasion, nordische Götter, die mit dem Hammer die Galaxis zu Klump hauen – damit kitzelt man sich heute in 3-D die Nerven und weiß doch: Diese Enden kommen nie. Weltpolitisch pfeifen seit 1989 die Optimisten den „Wind of Change“ von allen Dächern. Kein Rückfall in die Barbarei konnte ihren Glauben an das Gute bislang trüben, an Logik, Ruhe, Zuversicht und eine demonstrierte Entschlossenheit.
Selbst das Schlimmste muss zu etwas Gutem führen
Mit diesen vier Zaubermitteln versucht Bundeskanzler Olaf Scholz Putin vom Frieden zu überzeugen. Ob auch er Angst hat vorm Versagen, das gleichbedeutend sein könnte mit dem Ende aller Dinge? Scholz würde wohl lieber an seiner Zunge ersticken, als Gefühlen den gebührenden Raum zu geben. Damit ist er nicht allein. Die Angst wurde auch vor Putin im Westen schon geleugnet, verniedlicht und pathologisiert. Weil sie politisch keine Heimat hat, können Demagogen mit ihr machen, was sie wollen:
Da sitzt Putin an seinem Tisch im Kreml und will die Ukraine entnazifizieren. Dafür imaginiert er Genozide, die es niemals gab, und die den geschichtsbewussten Wessi gerade deshalb so schockieren. Nein, das kann er nicht ernst meinen, denken wir. Denn wenn doch, wäre das verrückt. Und nichts macht dem Wessi mehr Angst als ein durchgeknallter Dr. Seltsam mit ´ner Bombe unterm Hintern. Aber nicht so sehr der Bombe selbst wegen, sondern weil Putin dem Westen beweisen will, dass unerschütterlicher Optimismus und unerschütterlicher Glauben an die Vernunft auch nur zwei Formen von Wahnsinn sind. Derweil sitzt man im Westen staunend vor der Glotze und fragt sich: Waren wir blind? Ja, waren wir. Lange wollte sich keiner das Schlimmste auch nur vorstellen. So ging die Fantasie verloren für alle möglichen Enden dieser Welt.
Alsdann lieber wegsehen, nicht dran denken
Resilienz heißt eben auch, zu wissen, wann man den Fernseher auszuschalten hat. Wer will schon krank werden oder unglücklich sein? Zu viel Wissen stört den Zustand wohligen Dahinlebens, den man hierzulande Alltag nennt. In diesem Zustand wird das gute Leben demonstriert. Brüche und Tragödien kommen zwar vor, doch bleiben sie privat. Darüber spricht man nicht, und wenn doch, hat man das dunkle Tal bereits durchschritten und lässt möglichst die ganze Welt an der neu erlangten Weisheit teilhaben.
Denn selbst das Schlimmste muss noch zu etwas Gutem führen. Ansonsten ist es sinnlos, und nichts kann ungestraft sinnlos sein in einer vernünftigen Welt voller resilienter Optimisten. Dabei verzweifeln Menschen jetzt wie eh und je, bekommen Krebs, sehen Freunde und Angehörige sterben, schauen Nachrichten über Krieg und Klimawandel und leiden mit. Doch der düstere Gedanke verbietet sich, gilt als wenig hilfreich, therapiebedürftig. Im Zustand wohligen Dahinlebens gibt es für die Verzweiflung weder Raum noch Sprache. Nehmen wir Greta Thunberg. 2019 in Davos schrie sie ihren Zorn in die Welt: „I want you to panic!“ Kindisch fanden das viele. Dabei ist Greta der wütende und manchmal nervige Beweis dafür, dass Existenzangst die Welt zu bewegen vermag.
Was würde der Evangelist Johannes wohl zu Putin gesagt haben, zum Klimawandel oder dem neuen Film von Roland Emmerich (Mond stürzt auf Erde)? Als sich vor 2000 Jahren sieben christliche Gemeinden in Kleinasien verfolgt fühlten von den Römern, hielt er ihnen gerade nicht das Händchen. Nein, er knallte ihnen eine Offenbarung vor den Latz, und die hatte es in sich.
Apokalyptische Reiter (siehe) galoppieren darin durchs Bild. Meere aus Blut schwappen an Küsten mit menschlichen Fackeln. Johannes machte den Christen eine Scheißangst. Denn er wusste: Es ist so menschlich wie vernünftig, sich zu fürchten vor dem Tod. Erst wer eine Scheißangst hat vor ihm, versteht, so Johannes, was Christus will: „Fürchtet euch nicht!“ Problematisch ist nur, dass bei Johannes lediglich die Gerechten wiederauferstehen. Alle Sünder zerfallen zu Asche, weshalb sich in Kleinasien sicher mancher fragte, welches Schicksal das seine ist beim Jüngsten Gericht.
Johannes’ Pessimismus ist gewaltig, aber auch gewalttätig. Davon abgesehen ist seine schwarze Pädagogik didaktisch wie politisch überholt. Wie lehrt man also heute jemanden, sich richtig zu fürchten? Nehmen wir Putin. Er gibt Iwan den Schrecklichen, verwechselt Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit mit Größe, Stärke, Mut. 2018 bezeichnete er in Sotschi zwar einen Atomkrieg als globale Katastrophe und distanzierte sich vom Gedanken eines Präventivschlags. Aber würde er angegriffen, so Putin damals eiskalt, wäre seine Vergeltung unausweichlich: „Wir werden die Opfer sein, wir werden als Märtyrer in den Himmel kommen, während die anderen einfach nur verrecken.“ So denkt und spricht der russische Präsident. Wie Johannes teilt er die Welt in „wir“ und „sie“. Das Ende hat bei beiden weder Gesicht noch Namen. Aber während der eine als Evangelist nicht in die Vernichtung verliebt ist, die Gott für ihn und alle bereithält, will der andere als Nihilist selbst der Gott des Gemetzels sein.
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Angst vor dem Weltuntergang hatte in der Geschichte immer wieder Hochkonjunktur. Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften beschäftigen sich nun mit der Geschichte und Gegenwart solcher Gedankenwelten, im
Kolleg für „Apokalyptische und Postapokalyptische Studien“ an der Universität Heidelberg.