Dass wir alle in Schubladen denken, ist ganz normal. Es hilft uns, die vielen Eindrücke, die tagtäglich auf uns einprasseln, zu verarbeiten. Würden wir über alles länger nachdenken, wären wir handlungsunfähig oder würden uns im Zweifel sogar in Lebensgefahr begeben – das Einsortieren in Schubladen im Autopiloten hilft, einen Husky von einem Wolf zu unterscheiden und die Begegnung mit dem Tier als »ungefährlich« oder »gefährlich« einzustufen. Diese Einteilung in Schubladen läuft automatisch ab und betrifft alles, was wir optisch wahrnehmen.
Wir erkennen, das hat die Forschung ergeben, innerhalb von Millisekunden, noch bevor wir einen Menschen überhaupt bewusst wahrnehmen, ob es sich bei ihm um einen Mann oder eine Frau handelt, ob er jung oder alt ist, hell- oder dunkelhäutig, ob er ärmlich oder teuer gekleidet ist. Damit haben wir in Millisekunden einen groben Eindruck von dieser Person.
Dieser Eindruck gibt uns eine grobe Interaktionsrichtung vor – mit einer gut gekleideten, älteren Dame wird man daher sicherlich kein Gespräch über Fußballergebnisse beginnen, sondern ihr eher ein Kompliment für ihre schöne Garderobe machen. Dieser nachgelagerte Prozess des Schubladendenkens ist individuell gelernt und kulturell geprägt, während der Mechanismus der Einteilung ein rein biologischer Prozess ist.
Problematisch werden diese Schubladen also erst, wenn man sich keine Mühe macht, ihren Inhalt zu hinterfragen und die Welt nur noch schwarz-weiß sieht. Warum glauben wir, dass diese Dame sicherlich keinen Fußball schaut? Vielleicht hängt ihre Wohnung voll mit ungerahmten Postern des DFB Teams statt mit alter Kunst im Goldrahmen. Die Frage ist: Haben diese Annahmen Auswirkungen darauf, wie ich ihr oder auch anderen älteren, scheinbar reichen Menschen begegne?
Unser Gedächtnis speichert alle Informationen, die unser Wahrnehmungsapparat aufnimmt. Es ist wie eine Kommode mit vielen Schubladen, in denen alle Assoziationen liegen, die wir beobachtet oder gelernt haben oder die uns erzählt wurden.
So setzt du Schubladen-Denken ein Ende
Jede:r von uns verfällt gerne mal in die Denkfalle des Schubladen-Denkens. Das liegt in unserer Natur und hilft uns, durch den Alltag zu navigieren. Gleichzeitig sorgt das emotionale Langzeitgedächtnis dafür, dass wir Stereotype ebenso wie Vorurteile nicht von jetzt auf gleich abschütteln können. Das erfordert bewusste Arbeit an sich selbst und angelernten Denkmustern und Empfindungen. Unmöglich ist es aber natürlich nicht.
Um Schubladen-Denken erst einmal aufzuzeigen, hilft ein kleines Gedankenspiel. Überlege dir, du triffst einen klugen Alien. Versuche, ihm unsere Welt zu erklären.
- Warum stehen Autos wie selbstverständlich auf der Straße, unsere Kleiderschränke aber in der Wohnung?
- Warum trinken wir als Erwachsene keine Muttermilch mehr, sondern Kuhmilch?
Genauso kannst du versuchen, bestimmte Vorurteile oder Gedankengänge zu erklären, mit denen du dich erwischt. Du wirst merken, es ist gar nicht so einfach – weil ein »das ist eben so« es in diesem Fall nicht tut.
Auch hilft es, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen, den man so vorschnell in die Schublade gesteckt hat. Statt eine unfreundliche Begegnung mit einem gehetzten Geschäftsmann im Anzug unter »typisch egoistischer Karrieremensch« abzuhaken, könntest du dich an milderen Gedanken versuchen, Mitgefühl zeigen anstatt gleich zu urteilen. Vielleicht hat er schon morgens eine schlechte Nachricht erhalten, vielleicht ist sein Kind krank oder er ist auf dem Weg zu einer Beerdigung.
Wenn du dein Schubladen-Denken erkennst, kannst du dich davon distanzieren, indem du deiner Reaktion das emotionale Moment nimmst und den Raum für Möglichkeiten öffnest. Schließlich können wir über unsere Mitmenschen nicht Bescheid wissen, solange wir uns nicht die Mühe machen, sie kennenzulernen. Das geht natürlich nicht mit jedem Menschen, der uns begegnet. Gerade dann sollten wir aber versuchen, nicht zu urteilen und im besten Fall nicht gleich eine passende Schublade zu suchen. Nur so kann echte Verbundenheit entstehen.