Dieser scheinbar von jedem Sinn entleerte Überfall macht Putins Denken deutlich. Immer mehr Analysen sehen darin Muster, die sie etwa auch in der Politik Mussolinis ausmachten

Eine Woche vor dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine war ein möglicher Nato-Beitritt Finnlands eine zwar oft diskutierte, doch aber eher ein theoretisches abwarten und eher eine akademische Debatte. Abwägen, das war die politische und gesellschaftliche Haltung Finnlands auf eine Frage, die mit der zunehmenden Aggression Russlands zwar drängender wurde, aber auf keinen Fall überstürzt beantwortet werden sollte. Keine drei Monate später ist davon nichts mehr übrig. Der Überfall auf die Ukraine hat endgültig gezeigt, dass man sich vor dem Aggressor Russland schützen muss. Ein Nato-Beitritt ist für das EU-Mitglied Finnland die logische Konsequenz daraus.

 

 

Wladimir Putin bekommt so, was er nicht wollte. Der Westen rückt nicht nur moralisch und politisch in der Verteidigung seiner Werte zusammen, sondern auch militärisch.

Der finnische Präsident Sauli Niinistö und Ministerpräsidentin Sanna Marin haben sich für einen „unverzüglichen“ Beitritt ihres Landes ausgesprochen, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt dem Land einen schnellen und reibungslosen Prozess in Aussicht. Noch steht der Eingang des formellen Antrags in Brüssel aus, das Parlament muss dem Schritt zustimmen, aber die historische Entscheidung steht. Es ist nicht nur für das Land eine Zäsur, es wird auch die Sicherheitsarchitektur Europas verändern.

Mehr als 1.300 Kilometer gemeinsame Grenzen verlaufen zwischen Finnland und Russland. Der kleine und der große Nachbar teilen eine lange, komplexe Geschichte. Seit 1917 erst ist das Land unabhängig von Russland, nach dem Zweiten Weltkrieg musste es Territorium an die Russen abtreten und unterwarf sich den Interessen des stärkeren Russlands, um seine Unabhängigkeit zu behalten.

Dass Finnland EU-Mitglied wurde, aber bislang nicht dem europäischen Militärbündnis beitreten wollte, ist Ausdruck der komplizierten Nachbarschaft, die von finnischer Seite von absolutem Pragmatismus geprägt war. Lange gab es enge Kommunikationskanäle zum Kreml, die enger waren als die vieler anderer europäischer Staaten. Präsident Niinistö kennt Putin besser als viele. Doch die Zeit des Vermittelns ist lange vorbei.

Nicht die Nato macht die Welt unsicherer

Dass dieser Pragmatismus und eine daran gekoppelte gewisse Neutralität, die auch durch die militärische Bündnisfreiheit garantiert wurde, Grenzen hat, deutete Präsident Niinistö schon mit seiner Neujahrsansprache an. In ihr forderte er mehr Härte der EU gegenüber Russland. Und seine außenpolitischen Einschätzungen zählen viel im Land, kurz vor dem Krieg hörte, wer in Finnland unterwegs war, stets: Lasst uns schauen, was der Präsident zu sagen hat. Wenig überraschend hat sich so seit Beginn des Krieges auch die Haltung der Bürger gegenüber einem Nato-Beitritt verändert, 76 Prozent sind mittlerweile dafür, im Februar waren es nur 53.

Für Russland ist all das eine Bedrohung, eine Nato-Annäherung an die russischen Grenzen würde „die Welt und unseren Kontinent nicht stabiler und sicherer machen“, sagte der russische Regierungssprecher Dimitri Peskow. Doch nicht die Nato und ihre Verbündeten machen die Welt unsicherer, es ist Putin und sein Krieg in der Ukraine.

Eine starke finnische Armee stärkt sich mit dem Nato-Betritt und stärkt das Bündnis. Auf die eigene Verteidigung hat das skandinavische Land stets selbst gesetzt. Anders als Schweden, das möglicherweise mit einem Nato-Beitrittsgesuch nachzieht, hat Finnland eine große, gut ausgerüstete Truppe, investiert viel in die eigene Verteidigung. Neben den Berufssoldaten gibt es mehr als 210.000 Reservisten. Eine beeindruckende Zahl für ein Land mit fünf Millionen Einwohnern. Finnlands Beitritt würde außerdem die Nato-Außengrenze um die nicht unwesentlichen 1.300 Kilometer verlängern.

Als EU-Mitglied hat sich Finnland schon lange für die demokratischen Werte des Westens entschieden. Inmitten eines Vernichtungskriegs in Europa, geführt von einem russischen Präsidenten, dessen diktatorische Allmachtsfantasien längst nicht an ukrainischen Grenzen enden, ist die Zeit von Pragmatismus vorüber. Das Recht, sich Bündnissen anzuschließen, liegt in der Souveränität eines jeden Staates. Man habe der Debatte um einen Beitritt Raum geben wollen, haben Sauli Niinistö und Sanna Marin noch gesagt. Spielraum für eine Entscheidung gab es mit jedem Kriegstag weniger. Im Konflikt mit Wladimir Putin kann es keine Neutralität mehr geben.

Mai 2022 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren

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