Der unerbittliche Streit um den Krieg gefährdet manchmal Freundschaften – und dabei kann gerade in der Unentschlossenheit eine große Kraft liegen.

Derzeit denke ich oft an jenen Rabbiner aus dem alten jüdischen Witz, der einen Streitfall schlichten soll und beiden Kontrahenten ständig beipflichtet.
In größter Einhelligkeit beschweren sich die gegensätzlichen Parteien:

„Rebbe, du kannst doch nicht immer allen beiden recht geben!“ Darauf der Gelehrte: „Da habt ihr nun auch wieder recht.“
Ein Problem in diesen Tagen: Ich finde meinen Platz nicht mehr so einfach auf all diesen Unterschriftenlisten, die sich für oder gegen deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine stark machen.

 

 

Ich bin mir auch längst nicht so sicher wie solche Zeitgenossen, die unseren Bundeskanzler für einen Drückeberger halten, der „Deutschlands Verpflichtung“ gegenüber dem tödlich bedrohten ukrainischen Staat nicht erkenne. Oder Olaf Scholz nicht doch eher ein besonnen agierender Staatsmann einstufen, der Schaden vom Volk abwenden möchte und sich in der Kunst versucht, das rechte Maß zu üben.
Ein anderes Beispiel: Seit Jahrzehnten versuche ich, Russland noch tiefer zu verstehen, weil mich das Land und seine Menschen faszinieren. Das Wort „verstehen“ hat jedoch mittlerweile einen negativen Beigeschmack, wie man leicht am Ausdruck „Putinversteher“ erkennen kann. Verstehen meint nun nicht mehr „geistig ergründen“, sondern empathisch nachempfinden und somit gutheißen.

Neulich stiftete ich in einer Runde unter Freunden Verwirrung, als ich über meinen Großvater erzählte. Der geriet im Ersten Weltkrieg als österreichischer Soldat 1915 in russische Kriegsgefangenschaft. Dort erlebte er hautnah den Untergang des Zarenreiches und die Anfänge der russischen Revolution. Erst 1924 kehrte er über Hongkong wieder in seine tschechische Heimat zurück. Und obgleich ihm der menschenverachtende Kommunismus stets ein Gräuel war, verlor er nie auch nur ein einziges schlechtes Wort über dieses Land. Er liebte bis zum Ende seiner Tage die Landschaften Sibiriens, der Taiga und des Baikalsees. Und er haderte mit der  von Konrad Adenauer  gezimmerten Westbindung Konrad Adenauers, weil er fürchtete, die Russen würden sich im Kalten Krieg aus der westlichen Welt „ausgebürgern“.

 

Von ihm habe ich auch noch etwas anderes gelernt: Ein einziger irrationaler Funke genügt, um eine ganze Welt in Brand zu setzen. Wegen des mörderischen Attentats serbischer Separatisten 1914 auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Ferdinand und seine Gemahlin im offenen Wagen in Sarajewo musste das Deutsche Reich für den österreichischen Schlachtruf „Serbien muss sterbien“ als Bündnispartner in einen Weltkrieg ziehen. Nach der alten Vergeltungslogik liefert Wladimir Putin mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine einen ebenso triftigen Grund, den Aggressor hinter seine Grenzen zurückzudrängen. Da sich aber durch die Möglichkeit einer atomaren Vernichtung die Gewaltspirale weiter drehen kann, ist die unkontrollierte Entfesselung des Krieges unbedingt zu vermeiden.
Für entfesselt halte ich in manchen Momenten die Diskurskultur um diesen Krieg. Sie verlässt oft die Ebene des Wissens und verlagert sich in die Sphäre des Gewissens. Was sich für einen gut anfühlt, ist dann eben auch das Richtige. Hört man Alice Schwarzer oder Andrij Melnyk zu, wird in den Standpunkten ausgeharrt, als handle es sich hier bereits um das Stahlwerk in Mariupol, das es bis zur letzten Patrone zu verteidigen gilt. Auf  Facebook-Timelines toben Maulschlachten zu diesem Thema-

 

Und ich? Es war auch jüngst in den Augen einer Bekannten sicher nicht hilfreich, wie ich mich während dieser „Festwochen der Vereindeutigung“, in denen viele nur ihre unverrückbare Haltung feiern, ihr gegenüber verhielt. „Letztlich kommt es doch nur darauf an, dass man am Ende noch beruhigt in den Spiegel schauen kann“, sagte sie heroisch, und ich antwortete etwas grimmig: „Auch für den Spiegel gilt das Goethe-Wort: ‚Man erblickt nur das, was man bereits ohnehin weiß.'“
Ich will aber nicht schon immer alles wissen, sondern möchte mich auch mal eines Besseren belehren lassen. Vor allem will ich mir meine alten Reflexe abtrainieren. Tauchen auf einer Liste, deren Forderung ich für falsch halte, richtig gute Namen auf, will ich fortan prüfen, ob an deren Sorge vielleicht doch etwas dran ist.

 

In der Singebewegung der DDR gab es den peinlichen Agitations-Song: „Sag mir, wo du stehst“.  Und die westdeutschen Atomkraftgegner sangen: „Auf welcher Seite stehst du, he?“ – Wer keinen Standpunkt bezog, galt als politisch verdächtig. Und heute?
Ich für meinen Teil bin inzwischen – nicht ohne Stolz  – was unsicherer Kantonisten genannt wird: wankelmütig, abtrünnig, unzuverlässig, unberechenbar. In einer Hochkonjunktur moralischer Bekennerschreiben fühle ich mich am wohlsten mit meiner Unentschlossenheit. Ich werde mich nicht mehr irgendeiner Seite so einfach zugesellen.
Ich möchte fortan auch keine Freunde mehr einfach preisgeben, wenn sie eine unversöhnliche Meinung vertreten – Antisemiten und Verschwörungsfreaks ausgenommen. Lieber opfere ich fortan eine starre Ansicht als einen Menschen. „Opportunismus!“ – höre ich viele meiner allzu harschen, barschen Leute schreien. Sie halten meine Unentschlossenheit für  Schwäche.

In Wahrheit kann ich aus der Unentschlossenheit überhaupt erst die Kraft ziehen, weiterzumachen in dem, was Heinrich Heine den „Befreiungskrieg der Menschheit“ nannte. In der Psychologie gibt es für diese Haltung den Begriff „Ambiguitätstoleranz“. Die Definition: Ambiguitätstolerante Personen sind in der Lage, Widersprüchlichkeiten, kulturell bedingte oder mehrdeutige Unterschiede und Informationen, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel scheinen, wahrzunehmen, ohne darauf aggressiv zu reagieren. – So ein solcher will ich sein.

Mai 2022 | Allgemein, Essay, Feuilleton, In vino veritas, Zeitgeschehen | Kommentieren