Sommerzeit. In seltener Eintracht beschäftigen sich die Deutschen mit den Ausländern – mit denen des Auslands. In jener Gegend also, wo der Ausländer, die Natur und das Klima noch im Einklang leben.
Wir Deutschen, Bürger im Land der hochkarätigen Erben und der Besserverdiener, wir lieben das Reisen.
Nur die Amerikaner geben im internationalen Vergleich mehr dafür aus. Prognosen wissen, dass “der” Deutsche eher am Neukauf des Autos spart, denn an der Urlaubsreise. Der Deutsche! Aber: Der Heidelberger?
Unsere letzten Stammtische haben wir in unserem Altstadthinterhof abgehalten. Und, wie wir es auch immer wenden mochten, haben wir keinen vernünftigen Grund für sinnloses Herumstreifen in der Welt gefunden.
Komme uns keiner mit “Erholung” oder “das sind doch die schönsten Wochen des Jahres”!

Verölte Strände – welch ein Genuß

Langes Warten auf Charter oder Last minute – Flieger, unerwartete Zwischenlandungen, unfreundliche Kellner, hingeschluderte Pizzen, abgewrackt-laute Hotelzimmer, verölte Strände – bitte, was soll daran ein Genuß sein?
Wir bleiben in (Bild: Philipp Rothe) Heidelberg und freuen uns auf die Wochen, da sich unsere Heidelberger Mitbürger und *Innen rund ums Mittelmeer, immer nahe am Nervenzusammenbruch, “vergnügen”. Derweil die gehetzt und erschöpft von einem Museum zum anderen eilen, von einem Geheimtip zum nächsten, verweilen wir im Thermalbad (Wasserqualität gut). Da lassen wir nach dem Schwimmen auf gepflegtem Rasen gelassen Reiseführer und opulente Bildbände von wunderschönen Plätzen dieser Erde herumgehen. Und wissen genau, dass der Fotograf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stundenlang jenen Augenblick abwarten mußte, da sich auf dem Bild nicht Scharen von Touristen tummeln würden mit diesem ihnen dümmlich ins Gesicht geschriebenen Ahh`s und Ohh`s – ach diese Säule, oh, dieser Sonnenunter- (ind, seltener: Auf-) gang und dergleichen mehr.

“Die güldne Sonne” – auf der Neckarwiese

Und, noch lange nicht zu guter Letzt: Was gibt es schöneres, als nach einer durchzechten Nacht mit Freunden auf der Neckarwiese  gegenüber der Altstadt und dem Schloß  unter ausladend-einladenden Erlen auf gepflegtem Rasen  zu sitzen, vielleicht die Füße zu wässern und die Sonne aufgehen zu lassen ? Das tun zu können, bedarf es freilich der sicheren Gewißheit, sich hernach herrlich in den eigenen vier Wänden ausruhen zu können für die nächste Nacht – und nicht auf einem Teutonengrill in der Mittagshitze braten zu müssen, weil: dazu ist man doch schließlich da … – und nicht, den Tag im Hotelbett zu verbringen und so weiter. Und bitte, wo sonst hat die Sonne (außer vielleicht an einigen Stellen in Attika – dies Licht (und die Kraft und die Herrlichkeit), wie die auf die Neckarwiese scheinende ? Oder, wo sonst läßt sich ein Sonnenuntergang (jetzt, Anfang Mai gegen 19 Uhr 11) so wunderschön wie oberhalb von Boxberg oder Emmertsgrund und in der Gewißheit erleben, hernach nicht wieder eine gute Kneipe erst suchen zu müssen, haben wir hier doch konkret-kontrapunktisch sozusagen, (nicht nur) die ganze Untere Straße – das Weinloch nur mal zum Beispiel – mit dem immer gut gelaunten Ivo zum Beispiel) ums Eck und zur gastronomisch-kurzweiligen Verfügung ?

Wenn am Boxberg die rote Sonne  …

… selbst einen „Liebesstein“ müssen wir hier nicht vermissen

Wie wunderschön fliegen doch oberhalb des Boxbergs unterhalb des erhabenen Königstuhles in den beginnenden Abendhimmel Propellermaschinen hinein, die da gleichwie etwas zu laute Hummeln sich tummeln, oder diese Hubschrauber, die gleichsam als Metamorphose  silberblau glänzender Libellen aus der Ebene aufsteigen, oder, kommen sie von oben, sich aus des Hausberges Tannenspitzen sanft-plötzlich herausbegeben, um dann zwischen Wieblingen und Pfaffengrund aus sowohl der Unwirklichkeit des Seins , wie auch der grenzenlosen Freiheit über den Wolken, sich in die Wirklichkeit des Rollfeldes quasi zu versenken, wie die Sonne bei Capri in das Meer der Liebe, dies Feld, das mit wegweisend-drohenden Positionsleuchten Sicherheit signalisiert als ein Hort gegen alles, was da unerlaubt von draußen hereinzukommen auch nur versuchen wollen würde.
Dies alles sind Situationen, die uns Gewißheit erlauben, richtig zu liegen mit dem von uns verlorenen Glauben an jenen bildungsbürgerlichen Unsinn, man müsse reisen, weil das bilde. (Von Museumsbesuchen mal zu schweigen) – und, wer hätte je das früher mal oft in die Ferien mitgenommene Mathe- oder gar Lateinbuch auch nur eines Blickes gewürdigt, am Strand oder sonst wo. Oder, heute später dann im Leben – für das dies alles gelernt zu haben uns vorgegeben worden war – irgendwelche zu überarbeitenden Artikel, Bücher oder sonst irgend eine „Arbeit“?

Dreggische Fieß? die kriegt ma uff da Neggawies …

Oder aber, hören wir: Reisen sei der Garant für Offenheit, Toleranz und Aufgeschlossenheit … Wäre dem so, hätte etwa das Heidelberger Mörgelgewann längst zum Pflichtprogramm geworden zu sein für all die klugen, toleranten und aufgeschlossenen Menschen aus der Altstadt, aus Neuenheim, Schlierbach, Ziegelhausen, für die Einwohner der Weststadt und überhaupt für alle Heidelberger.

Statt dessen: Naserümpfen. In Neapel hingegen, da liebt man sie, die Wäscheleinen über den Straßen, diesen derb-herben Geruch nach Knoblauch und Socken und die allerliebst-kleinen Nasebohrer sowieso. Sollen uns doch mal Kulturreisende im südlichen Halbkreis einen Ort nennen, der den Touristen eine religiöse wie ethnische (sowie kneipiale) Vielfalt wie die in unserem geliebten Heidelberg bietet.

Touristen mutieren

Naja, nicht mehr ganz up to date – das Schloß als Ruine zeigt sich jedenfalls erhabener, als damals in voller Montur …

Sommerzeit. Das sind die Wochen der kollektiven, altdeutschen rassenhygienischen Einigkeit. Der Linksintellektuelle, der Bildungsbürger und der Autonome beklagen den Verlust des Authentischen. Der Linksintellektuelle, der Bildungsbürger und der Autonome beklagen den Verlust des Authentischen. Während ihrer Exkursionen mutieren sie zu treuen Anhängern der Nouvelle Droite, erstellen Hierarchien der Kulturen, werden zu glühenden Verfechtern des Ethnopluralismus – “Korsika den Korsen”, die “Sahara den Tuaregs”, “Deutschland den …” nana – “Kurdistan den …”. Jeden Sommer aufs Neue verbrüdern sich gestandene Internationalisten mit tumben Hinterwäldlern, machen mit ihnen gemeinsam Front gegen die Aufgeklärten des Landes, die mit ihrem westlichen Lebensstil ihr Volk so gar ach verraten haben – und dafür gesorgt, dass es allüberall auf der Welt bald so ausschaut, wie daheim.

Drei Fraktionen Reisende

Welches Land auch immer in den letzten Jahren unser Ziel war, allemal sind wir dort auf mehr Ethnozentrismus gestoßen, als vor der eigenen Haustür. Da wird uns ein Verdacht zur Gewißheit. Wir Deutschen sind aus drei Gründen Weltmeister im Reisen:
Die eine Fraktion macht sich auf den Weg, weil sie in den meisten Mittelmeerstaaten noch eine “Ursprünglichkeit der Einheimischen”, sprich: eine religiöse und ethnische Homogenität antrifft, deren Verlust sie in Deutschland ebenso nachhaltig wie –  für Heidelberg gesprochen jedenfalls – ungerechterweise beklagt. Unter diesen Eindrücken hocken sie später dann zusammen: “Die Griechen machen das schon richtig. Im Sommer kommen ein paar Millionen Touristen, lassen ihr Geld da und gehen wieder.
Aber bei uns? Die ganze Welt kommt und bleibt, und wir dürfen dafür auch noch zahlen.”

Mentalitäten verinnerlichen

Eine andere Fraktion reist als Sammler. Da wird leidenschaftlich in andere Kulturen eingetaucht, wird auch in die letzten Winkel Südamerikas und oder Asiens eingefallen. Immerzu sind sie auf der Suche nach Authentischem, ethnischenTypologien (die sind so fotogen), Volkscharakteren, Mentalitäten und Ursprünglichkeiten. Und dabei stets bereit, das ganzheitliche Leben in einem kleinen Fischerdorf, einer Bergsiedlung oder einer Wüstenstadt zu entdecken, zu lieben und zu verinnerlichen. Auch diese Reisenden hocken später zusammen und reflektieren über Sein und Anderssein.

Gemeinsam wird dann das kaltherzige Leben in Deutschland beschworen, das engstirnige, das durchorganisierte, das nur ach so wenige Möglichkeiten bietet für spontanes Handeln, das nur so wenige Prüfungen bereithält, “wirklich echte” Schicksalsschläge fatalistisch hinzunehmen, dieses unser abgebrühtes Land, das nur noch so wenige Chancen bietet, “echte existentielle Grenzerfahrungen” zu machen – frei nach dem Lied: “Was ließen jene, die vor uns schon waren, die alle Länder und Straßen befahren, die alle Lieder und Abenteuer raubten, was ließen jene zurück für unsre Schar?
Einig schließlich sind sie sich dann in der Einschätzung: Besser als hier ist es auf alle Fälle anderswo. Einzig die Bequemlichkeit des sozialen Netzes kettet sie (noch!) an diese Republik.

Dahäm isses doch am schänschte

Das „Ganze €uropa“ in der Nacht

Die dritte Gruppe schließlich reist, um sicher zu gehen – eigentlich –  nichts versäumt zu haben, wären sie daheim geblieben. Ein um das andere mal vergewissern sie sich, dass es doch zu Hause am buntesten ist. Großes Wehklagen wird darüber angestimmt, man habe vier Wochen auf einer griechischen Insel griechischen Bauernsalat (plus Souflaki und Juwetsi) essen müssen, sei in Marokko ständig scheppernder Volksmusik ausgesetzt gewesen, oder sie haben in Anatolien quälend lange keine Alternative zu den lauwarmen Schnellküchen gefunden. Die Armen. Da weiß man im Vergleich ganz schnell und sehr genau, was man hatte und wie sehr doch die mühelosen kulinarischen und kulturellen Crossovers in Heidelberg zu würdigen sind. Viele werden sich in diesem Jahr wohl oder übel wieder der Mühsal einer Reise unterwerfen, gleichwohl im sicheren Bewusstsein, die kosmopolitische Atmosphäre Heidelbergs und nicht zuletzt das mediterrane Ambiente der Unteren Straße nach wenigen Tagen – egal wo – schmerzlich zu vermissen.

Lang lieb ich dich schon …

In Heidelberg kann ich als willkommener Gast am Freitagsgebet im islamischen Zentrum in der Alten Bergheimerstraße teilnehmen (und gleich ums Eck im Noor-Mahal indisch oder pakistanisch essen), Samstags am Shabbat in der neuen Synagoge in der Weststadt zu Gast sein, mich anschließend an chinesischer oder laotischer Küche laben, dann bei einem der Jugoslawen, Türken oder Griechen auf ein Schwätzchen und einen Raki oder Ouzo vorbeischauen, um mich dann am späteren Abend mit einer ethnisch durchaus nicht homogenen , freien Rieslingschorlenassoziation in der Unteren Straße zu treffen.
Oder ich kann ein Guiness in der Destille zapfen lassen, oder – schräg gegenüber – einen späten Appetit mit gepflegtester Küche im Pop loswerden –
oder im Weinloch bei Ivo abhängen. Oder, oder – der Gelegenheit für fast alles gibt’s zur Genüge, da kann LindA (für Eingeweihte) noch so sehr schäumen …
Und dann die Nacht am Neckarstrand oder am Bissi – nein, nicht auf dem Platz natürlich, sondern weiter oben an der “Pfann” oberhalb des Philosophenwegs – ausklingen zu lassen. An geschäftigen Tagen tut`s auch ein Einkaufsbummel in der längsten Fußgängerzone Europas. Hier kurz die Augen geschlossen, schon hören wir ein babylonisches Sprachengewirr. Da weiß dann auch dieser Jürgen Gottschling: Zu Hause bleiben, das bildet – und was erwartete ihn in Spanien? TapasSiesta, TapasSiestaTapas … und Bildungsbürger aus Heidelberg, die unter sengender Sonne durch die Alhambra stapfen und sich darüber informieren wollen: Wie war das eigentlich mit dem Islam in Europa? Nee, wirklich. Das (fast) alles aber noch viel mehr, das können wir auch in Heidelberg lernen.

Mai 2022 | Heidelberg, Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Senioren, Zeitgeschehen, Rhein-Neckar-Kreis | Kommentieren