Es gibt die tröstende Dimension der Religion. Der Glaube an eine Gottheit, die uns liebt, sich um uns kümmert und uns beschützt. Es gibt die verstörende Dimension der Religion: Die Furcht vor einer Gottheit, die uns bedroht und die nur mit Opfern freundlich gestimmt werden kann. In letzter Konsequenz werden der Gottheit Menschenopfer dargebracht. Wobei das eine euphemistische Formulierung ist, deren Zweck nur zu deutlich ist:
Es geht um´s Töten – wenn auch in rituellem Kontext
Menschenopfer – warum?
Von der religiösen Ebene her wird das Opfer mit dem «do-ut-des»-Prinzip erklärt. Damit der Gott tut, was ich von ihm erwarte, offeriere ich ihm eine Vorleistung. Ich «teile» gewissermassen, was ich erwirtschafte, damit er mir das Wirtschaften ermöglicht. Offenbar kann man nicht davon ausgehen, dass der Gott a priori gütig zu mir ist.
Opfern ist ok, aber gleich töten?
Auf beiden Ebenen wird rational durchaus nachvollziehbar argumentiert. Ackerbaugesellschaften tendieren zur Bürokratie und Stratifizierung, durchaus auch zu Hierarchisierung. Und wenn schon Götter, dann durchaus auch solche mit ausgeprägtem Kosten-Nutzen-Denken. Auch auf dem Olymp gibts keinen free lunch.
Nur: Die Erklärungen sind zu glatt. (Opfer sollen ja auch verhindern, dass mir Schreckliches widerfährt – dafür einem anderen). Die Erklärungen werden auch den überlieferten Ritualen und Texten überhaupt nicht gerecht. Irritierend für die Forschung war (und ist), dass im Blutopfer der Gott getötet wird (und nicht ein unschuldiges Opfer).
Auf den mesopotamischen Rollsiegeln, den frühesten Zeugnissen, ist das unmissverständlich dargestellt. Und weshalb wird in Tierverkleidung getötet? Ebenfalls nur unzureichend erklären kann die Forschung die ungeheure Erregung, welche die zuschauende Menge ergreift. Walter Burkert und der kürzlich verstorbene René Girard haben sie als Fortsetzung von Jagdszenarien gedeutet. Das gewalttätig vergossene Blut schliesst die nun kollektiv schuldig gewordenen Mitglieder der Jägerhorde zusammen. Das Töten erst stiftet Solidarität.
Keine Götter vor der Bronzezeit
Indizien sprechen dafür, dass das (menschliche) Blutopfer simultan – am Anfang der Bronzezeit – auftrat. Nun ist die Datierung des Beginns der mesopotamischen Bronzezeit mit ihren Rollsiegeln chronisch umstritten. Klarer scheint der Zusammenhang dort mit den katastrophischen Flutereignissen (die auch in anderen Mythologien weltweit auftreten). Fast überall sprechen die Opfer-Texte auch von «Götter-/Himmelskämpfen». Das Schlachten wird als «Opferkampf» dargestellt.
Gunnar Heinsohn (Die Erschaffung der Götter, 1997) setzt das verstörende Erleben von kosmischen Katastrophen (Meteoriteneinschläge mit Vulkanausbrüchen, Sintfluten, Erdbeben etc.) an den Beginn der Zivilisation. Die Überlebenden suchten nach einer Möglichkeit der Bewältigung. Sie taten das schliesslich «therapeutisch», indem sie das Himmelsgeschehen «nachspielten». Als «Himmelsgott» verkleidete Priester töteten als «Himmelsschlange» verkleidete Menschen. Auch das rituelle Ballspiel mit anschliessendem Menschenopfer war eine Darstellung eines kosmischen Kampfes.
Die Spieler/Priester/Opfer trugen Sternenkronen (ein spätes Echo ist die Dornenkrone) und Schweife, das Menschenopfer fand auf einem klar abgesteckten Areal (dem Ballspielplatz) statt, das den Himmel symbolisierte, dem Stier schliesslich wurde das Kopfhaar in Brand gesteckt und die Hörner vergoldet – besonders irritierend war, dass die Teilnehmer der Zeremonie starke Abführmittel einnehmen mussten und so buchstäblich «vor Angst in die Hosen machten». Der Kampf – das kosmische Chaos – endet erst mit dem Tod eines Kämpfers.
Schluss mit der Opferreligion machte das alttestamentliche Judentum. Die Argumente der Propheten sind bekannt. Die rigorosen Sabbatgebote (kein Feuer, nicht Hinausgehen etc.) sollten verhindern, dass der Feiertag wie gewohnt «ein Opfertag» sein sollte.