Lothar Domröse, ehemaliger General des Heeres der Bundeswehr und ehemaliger NATO Commander of Allied Joint Force Command Brunssum über Sicherheit in Zeiten globaler Machtverschiebungen.
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Im Interview erklärt er, wie die Perspektiven im Ukrainekrieg aussehen und welche Konsequenzen wir daraus ziehen müssen:

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Herr Domröse, direkt zum Beginn die Frage die derzeit Viele bewegt: Wie groß ist die Gefahr eines Dritten Weltkriegs?

Ich bin kein Hellseher. Aber unter halbwegs rationalen Gesichtspunkten ist sie eher auszuschließen. Rein konventionell tut sich die russische Armee sehr schwer, die „kleine Ukraine“ zu besiegen. Die russischen Streitkräfte kommen kaum voran, haben hohe Verluste an Material und vor allem an Menschen. Sie zerstören alles und bringen viel Leid. Jetzt auch noch gegen die deutlich überlegenen NATO-Truppen konventionell anzutreten, wäre der glatte Wahnsinn. Somit bliebe theoretisch nur die nukleare Eskalation. Aber die USA und andere Atommächte würden ja reagieren, und dann wäre der mögliche Schaden, den sich Russland selbst zufügen würde, immens. Wir wissen ja: Ein nuklearer Weltkrieg hätte keine Gewinner, sondern nur Verlierer.

Wenn es konventionell so schwierig ist: Fürchten Sie, dass Russland taktische Atomwaffen in der Ukraine einsetzen könnte?

Diese Waffen nennt man nur deshalb taktisch, weil sie klein sind. Aber eigentlich gibt es nur strategische Nuklearwaffen. Ein Einsatz wäre so radikal, dass es sofort alle Nuklearmächte auf den Plan rufen würde, angefangen bei den USA und China. Nuklearwaffen wären daher ein „Game Changer“. Putin müsste ja damit rechnen, dass Moskau oder Sankt Petersburg attackiert würden.
Die NATO würde also angreifen, wenn Russland in der Ukraine Atomwaffen einsetzt?
Das habe ich nicht gesagt! Der Westen behält sich vor, darauf zu reagieren. Da der Kreml nicht weiß, wie diese Reaktion aussehen wird, muss er mit dem Schlimmsten rechnen. Und das Schlimmste wäre, dass man Moskau oder Sankt Petersburg innerhalb einer Nacht auslöscht. Putin ist nicht komplett wahnsinnig, er wird nicht die Sicherheit seines eigenen Landes riskieren.
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Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Diskussion über die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine? Können Sie nachvollziehen, dass ein Teil der deutschen Bevölkerung dagegen ist? 
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Es ist verständlich, dass man sich sorgt, dass der Krieg sich ausweitet. Aber da endet mein Verständnis dann auch. Wer daraus folgert, dass man keine schweren Waffen liefern soll, der wertet die Sicherheit seiner eigenen Haut höher als den Kampf der Ukrainer um die Freiheit. Wir alle wollen ja weiter so leben wie heute, wir wollen Demokratie, Rechtssicherheit und Menschenrechte. Dann müssen wir auch dafür sorgen, dass wir auf der richtigen Seite stehen, wenn diese Werte angegriffen werden.

Gegen die Lieferung schwerer Waffen werden ja auch einige sachliche Gründe vorgebracht, etwa, dass man die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands oder der NATO schwächt, oder dass die ukrainischen Soldaten für die Geräte nicht ausgebildet sind. Lassen Sie diese Argumente gelten? 

Der Punkt mit der Ausbildung stimmt. Man muss mit dem Gerät vertraut sein, das man einsetzen soll. Training ist also wichtig. Daher ist der Ringtausch, bei dem osteuropäische Staaten Waffen liefern, mit denen die Ukraine vertraut ist, sehr sinnvoll. Blanker Unsinn ist dagegen das Argument, dass eine Lieferung schwerer Waffen uns einen Schritt näher zum Atomkrieg bringt. Wieso sollen Panzer aus Slowenien diesen Schritt nicht auslösen, wohl aber deutsche Marder? Dieses Argument hat die Regierung dann auch zurückgenommen. Aber der „Zickzackkurs“ prägte natürlich eine Kommunikationspolitik, die grottenschlecht war.

Russland greift nun schwerpunktmäßig im Osten und Süden der Ukraine an. Beobachten Sie, dass die Armee nun unter dem neuen Oberkommandierenden Alexander Dwornikow, dem „Schlächter von Syrien“, schlagkräftiger geworden ist? 

Dass man einen Befehlshaber eingesetzt hat, um die verschiedenen Teil-Streitkräfte zu orchestrieren, macht Sinn. Ich sehe aber noch keine deutliche Verbesserung. Die Weltmacht Russland hat erhebliche Probleme voranzukommen. Das heißt: Heute stehen die Chancen auf einen Waffenstillstand schlechter als vor zwei Wochen. Das liegt auch daran, dass die Ukrainer durch die westlichen Waffen stärker geworden sind – sie werden nicht so schnell aufgeben. Ihr Widerstandswillen scheint ungebrochen. Deshalb sehen wir zurzeit eine Art Patt-Situation. Daher ziehen sich auch die Waffenstillstandsverhandlungen hin.

Haben die ukrainischen Streitkräfte denn eine echte Chance, die russische Invasion abzuwehren? 

Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Die Russen werden immer weiter nachlegen und die Angriffe intensivieren. Die Ukrainer können die Niederlage aber hinauszögern und Zeit gewinnen. Sie können Putin ärgern, aber nicht schlagen. Diese zusätzliche Zeit stärkt den Kampfwillen und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Ukrainer – vergleichen Sie das mit der Eroberung Afghanistans durch die Taliban, die ohne jede Gegenwehr erfolgte, weil der Präsident und andere Regierungsmitglieder geflohen sind. Die Verzögerung führt zudem dazu, dass der Westen in der Auseinandersetzung mit Russland eng zusammenrückt.

Wie kann man sich ein Ende dieses Krieges vorstellen? 

Wichtig ist vor allem, dass das Blutvergießen so schnell wie möglich endet. Aus meiner Sicht wäre der günstigste Fall, dass Russland seinen Vorstoß aufgibt und an den Verhandlungstisch zurückkehrt. Dann kann es einen Waffenstillstand geben, aber natürlich keinen Frieden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die jetzige Generation der Ukrainer so schnell mit Russland aussöhnen wird. Dafür müssen mindestens zehn Jahre ins Land gehen. Man wird also über das Schicksal des Ostteils der Ukraine verhandeln müssen – den wird sich Putin nicht nehmen lassen, genau wie die Krim, fürchte ich. Vielleicht gibt es dann 30 Jahre lang, analog zum geteilten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, die West- und die Ost-Ukraine. Die Sanktionen des Westens würden natürlich bestehen bleiben, solange Russische Truppen im Land sind. Russland wird auch nach einem Waffenstillstand massive ökonomische Probleme haben – die Wirtschaft ist ja schon jetzt am Ende.

„Vielleicht gibt es dann 30 Jahre lang, analog zum geteilten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, die West- und die Ost-Ukraine.“

Die USA engagieren sich stark für die Ukraine und betonen ihre sicherheitspolitische Verantwortung wieder stärker. Können wir langfristig wieder stärker mit dem amerikanischen Weltpolizisten rechnen? Oder wird sich mit einem Wahlsieg von Donald Trump wieder alles ändern? 

Die inneramerikanische Situation ist schwierig, weil die Distanz zwischen den Demokraten und den Republikanern größer geworden ist – sie haben kaum noch Schnittmengen. Joe Biden und Kamala Harris gelten als nicht besonders stark, und von Trump weiß man, dass er Putin bewundert. Gleichzeitig weiß man nicht genau, wie man mit China umgehen soll. Die internationale Sicherheitsarchitektur ist daher durchaus brüchig. Ein Sieg Trumps würde es nicht leichter machen.

Wie sieht es in Europa aus? Brauchen wir zusätzlich zur NATO Streitkräfte der EU? 

Das wird ja keiner bezahlen können. Zwei Armeen. Es wäre wie ein Zweitwagen, den man sich eigentlich nicht leisten kann. Sie sehen ja, wie teuer es schon ist, allein die Bundeswehr wieder einsatzfähig zu machen. Es kommt darauf an, dass die Europäer mehr machen.

Im internationalen Vergleich war der Etat für die Bundeswehr auch bislang nicht niedrig. Woher kommen daher die Missstände? An der Sparpolitik allein kann es nicht liegen. 

Sicherlich gibt es auch organisatorische Mängel, unter anderem im Einkauf. Die Reparatur der Gorch Fock war zehn Mal teuer als geplant, und das ist nur ein Beispiel. Wenn man hört, dass weit weniger die Hälfte der Hubschrauber einsatzbereit sind, fragt man sich, warum die Bundeswehr das hingenommen hat. Jeder Autokäufer würde sofort reklamieren, wenn der Wagen nicht fährt.

Brauchen wir für Deutschland ein neues, umfassenderes Sicherheitskonzept, wie es CDU und CSU fordern? 

Dafür spricht einiges. Wir sehen Russland und China jetzt noch kritischer als vor dem Ukrainekrieg. Moskau zeigt sich als eine militärisch aggressive Diktatur, der vielbeschworene „Wandel durch Handel“ ist nicht eingetreten. Putin will das Sowjetimperium in den Grenzen von 1997 wieder aufbauen, da wird einem angst und bange. China leistet ökonomisch sehr viel, und es besteht, die Gefahr, dass es die westlichen Volkswirtschaften mit Dumping-Preisen kaputt macht. Ein weiterer Punkt: Die Forderung, den UN-Sicherheitsrat zu reformieren, ist bislang fruchtlos geblieben. Ich halte es aber für sinnvoll, dass man dieses Thema noch einmal auf den Prüfstand stellt.
Mai 2022 | Allgemein, In vino veritas, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren