Wieso bricht jemand einen Krieg vom Zaun? Putins Handeln ist nicht verständlich ohne seine Ideologie, ohne seine Rückbezüge auf die Geschichte, die in seinen Augen eine Vorreiterrolle Russlands legitimieren. Kriege werden mit Armeen geführt. Aber auch mit Ideen. Die munitionieren den Kampf um die Köpfe. Was Putin antreibt, ist eine Mischung aus dem Glauben an die historische Sonderrolle Russlands, der Weiterschreibung der stalinistischen Aggressionspolitik und seiner Rückgriffe auf den Sagenstoff von der „russischen Erde.“ Ohne diese Ideologie sind weder seine Handlungen noch der Rückhalt in der Bevölkerung verständlich.
Moskau rettet die Welt vor „westlicher Dekadenz“
Warum fehlt eine Opposition gegen den immer autoritärer auftretenden Putin? Immer wieder wurde das Fehlen eines Bürgertums im 19. Jahrhunderts in Russland als ein Grund dafür genannt. Tatsächlich gab es anders als in Westeuropa hier keine industrielle Revolution, die ein starkes, um seine Interessen bedachtes Bürgertum hervorbrachte. – Allerdings stand auch dieser bürgerliche Liberalismus keineswegs immer für eine allgemeine Demokratie oder eine Gleichheit aller Menschen ein. Es waren die Parlamente in Frankreich und England, die den Imperialismus absegneten, die den Kolonialismus unterstützten. – In Russland kommt hinzu, dass das Zarenreich immer ein Vielvölkerstaat war. Allerdings einer, der das leugnete. Die Ideologie, die das möglich machte, war der Pan-Slawismus, also die Vereinigung aller slawischen Völker – natürlich unter der Herrschaft Russlands.
Auch die russisch-orthodoxe Kirche spielt eine große Rolle in dieser pan-slawischen Identität: Als „das Dritte Rom“ (nach Byzanz) behauptete sie sich als Bewahrer des authentischen Christentums. Demokratie sei nichts für Russen, sie bräuchten Knute und Kirche, seien dafür aber ein Bollwerk gegen die Verlockungen der westlichen Dekadenz. In den Romanen von Dostojewskij taucht diese Argumentationslinie immer wieder auf, nach 1918 überwinterte sie in Emigrantenkreisen, um unter Putins Herrschaft wiederbelebt zu werden.
Fortschreiben der stalinistischen Aggression
Russland als Retter der Welt vor der Verderbnis: Dieser imperiale Messianismus findet sich auch bei Putin. Er sieht sich als Vollender eines geschichtlichen Auftrags. Gleichzeitig gibt es bei ihm eine zweite Argumentationsspur: eine Anlehnung an die Taktik Stalins, der seinen Imperialismus im Rekurs auf angebliche legitime Sicherheitsinteressen des Landes begründete. So hat Stalin nach dem Hitler-Stalin-Pakt die Annektierung Westpolens und des Baltikums sowie den Überfall von Finnland gerechtfertigt. Putin verfolgt seit Jahrzehnten diese Agenda, indem er Separatisten in vielen Anrainerstaaten Russlands unterstützt, etwa in Transnistrien, Abchasien oder eben in der Ukraine. Sein Ziel: die Schwächung der dortigen Zentralregierungen. Sie sollen nicht ohne Rücksprache mit Moskau Entscheidungen treffen können. Divide et impera – teile und herrsche. Es kann daher sein, dass er die Ukraine nicht ganz besetzen wird – aber nur, wenn er eine Vasallenregierung installieren kann, die vor Russland kuscht.
Beweihräucherung der Armee
Die Opfer werden heruntergespielt – der Sieg überstrahlt alles. Das gilt leider auch für die Tschetschenienkriege und die russischen Kräfte, die die Separatisten in der Ukraine unterstützen. Putin geht über Leichen – um seine Macht zu stärken und im Irrglauben, damit Russland den angemessenen Platz in der Weltgeschichte zurückzuerobern.