Und was, wenn weniger getestet wird? Was kommt im Herbst auf Deutschland zu? Auf dem Heidelberger Frühlingsfest jedenfalls scheinen die Corona-Maßnahmen beinahe schon vergessen. Die Besucher sitzen gut gelaunt nebeneinander in den Fahrgeschäften oder schlendern über das Fest. Und Masken hat man hier so gut wie nicht mehr gesehen.  „Es macht Spaß ohne Masken hier so alle zusammen“, meint ein junger Besucher. „Leben. Einfach leben“, sagt eine Besucherin. Das Bedürfnis nach unbeschwerter Lebensfreude ist groß.

Ähnlich ist das Bild beim gemeinsamen Fußballschauen. In einer Fankneipe des SC Freiburg freuten sich Fußballbegeisterte, wieder ein Spiel gemeinsam zu schauen – dicht an dicht ohne Maske. Die Pandemie scheint wohl so langsam ihren Schrecken zu verlieren.
In den meisten Bereichen braucht es auch keinen Testnachweis mehr. An vielen Testzentren sind die Warteschlangen kürzer geworden, so auch an einem Stand im Stuttgarter Osten. Visual Prabhu hat dort gemeinsam mit seiner Frau einen Schnelltest gemacht. „Meine Frau fühlt sich ein bisschen energielos, daher müssen wir checken, ob sie Corona-positiv ist oder nicht“, sagt er. Die Frau fühlt sich gut, lässt sich aber dennoch regelmäßig testen. „Ich mach das zu meiner Beruhigung.“

Antigenschnelltests nicht in RKI-Statistik

Die meisten, die sich an der Teststelle im Stuttgarter Osten testen lassen, machen einen Antigen-Schnelltests. Der ist kostenlos. Wenn er positiv ausfällt, dann reicht das für eine Krankmeldung aus. Doch in die Statistik des Robert Koch-Instituts fließen all die positiven Antigen-Schnelltests nicht mit ein, sondern nur positive PCR-Testergebnisse.
Laut RKI sind die PCR-Tests am zuverlässigsten. Eine Änderung in der Zählweise würde zudem keine Vergleichbarkeit mit früheren Fallzahlen ermöglichen, heißt es.

Hohe Dunkelziffer bei Inzidenz

Johannes Nießen, Vorsitzender des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, warnt daher schon seit Längerem, dass man mit einer hohen Dunkelziffer an Fällen rechnen muss.
„Bei der aktuellen Inzidenz müssen wir davon ausgehen, dass der Realwert um das Doppelte höher liegt“, sagt er. „Viele Schnelltests werden eben nicht durch eine PCR-Testung bestätigt. Und da nur die PCR-Testung in die Inzidenzwertberechnung einfließen, gehen wir davon aus, dass der Inzidenzwert mindestens doppelt so hoch ist wie angegeben.“

Reinfektionen nehmen zu

Unklar ist derzeit aber auch die genaue Zahl von Mehrfachinfizierten. Dass sich die Fälle von Reinfektionen häufen, zeigen Zahlen des Landesgesundheitsamtes Baden-Württemberg. Im Dezember 2021 lag der Anteil der Reinfektionen in Baden-Württemberg noch bei 0,5 Prozent.
Im April lag der Anteil bei 3,6 Prozent. Das seien aber nur die Zahlen der Reinfektionsfälle, die dem Landesgesundheitsamt auch gemeldet wurden. Laut dem baden-württembergischen Sozialministerium kann es bei dem hohen Fallaufkommen während der Omikron-Welle aufgrund der Überlastung der Gesundheitsämter und der vielen neuen Mitarbeiter sein, dass nicht alle Reinfektionsfälle an das Landesgesundheitsamt übermittelt wurden.
„Long Covid“ auch nach Omikron?
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Der Grund für den Anstieg der Reinfektionen seit Jahresbeginn sei die Omikron-Variante, so Virologe Martin Stürmer. „Anfangs hatten wir die Varianten Alpha bis Delta. Die Varianten waren sich so ähnlich, dass die Antikörper nach einer Impfung oder einer Infektion insgesamt weiterhin gut vor einer Infektion oder einer Reinfektion geschützt haben“, sagt er.

„Mit der Omikron-Variante hat sich das Virus aber so stark verändert, dass das nicht mehr der Fall ist, sodass es insgesamt häufiger zu Reinfektionen trotz Impfung, Boosterung oder Genesenen-Status kommt.“ Die Impfung oder auch der Genesenen-Status schütze nicht vor einer Infektion oder Reinfektion, aber vor einem schweren Verlauf, so der Virologe.
Innerhalb der Omikron-Varianten sei eine Reinfektion mit der Subvariante BA.2 nach einer Infektion mit BA.1 eher selten, so Stürmer. Inwieweit aber BA.4, BA.5 oder BA.2.12.1 zu Reinfektionen innerhalb der Omikrongruppe führen, sei noch schwierig einzuschätzen.
Omikron verbreitet sich zwar rasant, allerdings ist der klinische Verlauf nicht so schlimm. Doch noch sei die Frage nicht geklärt, ob „Long Covid“ nach der Infektion mit Omikron eine Rolle spielt. Solange es dazu keine Daten gebe, sei seine Empfehlung weiterhin, Infektionen zu vermeiden.

Entstehung neuer Varianten nicht aus dem Blick verlieren

Außerdem müsse man beachten: „Insofern, als viele Infektion zugelassen werden, erlauben wir auch die Entstehung neuer Varianten, denn grundsätzlich ist die Mutationsrate höher, wenn viele Infektionen zugelassen werden Das Virus verändert sich, und es kann sein, dass es irgendwann wieder eine Variante gibt, die uns mehr fordert“. Daher dürfe man die Entstehung von neuen Varianten auch über die nächsten Jahre nicht aus dem Auge verlieren.
Aus seiner Sicht sollte man nochmals eine Impfkampagne für die gesamte Bevölkerung mit einem neuen, angepassten Impfstoff starten. An diesem Impfstoff wird gerade gearbeitet, bis zum Herbst soll er auf den Markt kommen.
Die entscheidende Frage für den weiteren Verlauf der Pandemie ist, wie lange das, was wir jetzt an Immunität aufbauen, anhält. Und ob dies weiterhin vor schweren Verläufen schützt.

Mai 2022 | Heidelberg, Allgemein, Essay, Gesundheit, In vino veritas | Kommentieren