Neue Rundschau

Das Wichtigste über den Krieg in der Ukraine

Lieber Herr Gottschling

Der russische Präsident Putin hat am heutigen Montag, dem «Tag des Sieges» in Russland, keinerlei bedeutende Weichenstellung verkündet. Das mag erstaunen, da im Westen die Spekulationen über einen Paukenschlag des Kremlchefs an diesem symbolträchtigen Feiertag ins Kraut geschossen waren. Doch überraschend ist Putins Verhalten nicht. Er steht derzeit vor lauter ungünstigen Optionen. Wenn er seinen Kriegskurs justiert, wird er dies wohl eher schleichend tun und nicht im nationalen Scheinwerferlicht.

Wenig überraschend ist leider auch, dass der russische Präsident sein Volk weiterhin mit abstrusen Verschwörungstheorien in die Irre führt. Seine Entscheidung zum Krieg stellte er als notwendige Präventivaktion dar, da Russland sonst vom Westen angegriffen worden wäre. Er warf der Nato entsprechende Vorbereitungen und der Ukraine das Streben nach Atomwaffen vor.

Solche Verschwörungstheorien sind selbst im Westen kaum auszurotten. Trotzdem bleibt immer wieder daran zu erinnern: Die angebliche Bedrohung durch die Nato ist frei erfunden. Bis zur Annexion der Krim 2014 hatte die westliche Allianz keinerlei Truppen in Osteuropa stationiert. Die in der Folge geschaffenen multinationalen Kampfgruppen im Baltikum und in Polen stellten mit je rund tausend Mann nur eine symbolische Präsenz dar. Auch Angriffswaffen von grosser Reichweite wie Raketen hat die Nato nie in den Grenzstaaten aufgestellt.

Ein perfides Märchen ist es, dass die Ukraine angeblich Atomwaffen beschaffen wollte. Das Gegenteil trifft zu: In den neunziger Jahren händigte Kiew seine Teile des sowjetischen Atomarsenals den Russen aus – im Tausch gegen Sicherheitsgarantien, die sich als völlig nutzlos erwiesen. Der Weg zurück zu Atomwaffen ist den Ukrainern heute völlig versperrt.

Nichts deutet darauf hin, dass die breite russische Bevölkerung alsbald die Kreml-Propaganda durchschauen wird. Doch es ist ein Armutszeugnis für das Putin-Regime, dass es seine Macht lediglich auf Lügen und einen monströsen Sicherheitsapparat abstützen kann.

Das Wichtigste über den Krieg in der Ukraine

Bei einem Angriff auf eine Schule im Osten der Ukraine wurden etwa 60 Zivilisten getötet

Das ist passiert: Bilder und Videos, die nach einem russischen Luftangriff auf eine Schule in Luhansk verbreitet werden, gehen um die Welt. Zur Zeit des Angriffs am Samstagabend befanden sich laut den regionalen Behörden rund 90 Zivilisten in dem Schulgebäude. Knapp 30 Personen konnten lebend aus den Trümmern geborgen werden, etwa 60 kamen mit grosser Wahrscheinlichkeit ums Leben. Zum Bericht

Das ist der Hintergrund: Die Russen scheinen zivile Opfer nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern sehr gezielt Wohnblöcke, Bahnhöfe und Schulen anzugreifen, um die Zivilbevölkerung auf der Gegenseite zu terrorisieren und zu demoralisieren. Das zeigte sich schon in früheren Kriegen, in denen die Russen kämpften. Bis Ende April sind laut der Uno mindestens 2345 Zivilisten in der Ukraine ums Leben gekommen und weitere 2919 verletzt worden.

Das empfehlen wir für den Hintergrund

Singen im Krieg: Musik nimmt die Angst, sie spendet Trost, und sie gibt Kraft. Und gemeinsames Singen stärkt den Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe. Im Ukraine-Konflikt ist öffentliches Singen deshalb zu einer symbolischen Waffe geworden, vor allem aufseiten der Angegriffenen. Zum Essay

Schreiben im Krieg: Der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum der umkämpften Frontstadt Charkiw. Von ihrer Wohnung in einem Hochhaus sendet er seine «Notizen aus dem Krieg», in dieser Folge über die psychologische Ähnlichkeit zwischen ukrainischen Nationalisten und ukrainischen Putinophilen. Zum Tagebuch

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