Seit den Tagen des Kalten Krieges sind aber immer wieder atomwaffenfähige Tupolev-Bomber von ihren Basen abgehoben, um daran zu erinnern, dass Russland unbesiegbar ist. Diesmal flogen sie weit außerhalb der Reichweite der gegnerischen Luftabwehr, tausend Kilometer von ihren Zielen entfernt, und ihre Schächte öffneten sich. Mehr als ein Dutzend Marschflugkörper feuerten sie ab. Nur wenige konnten die Verteidiger vor dem Einschlag abschießen. Vor den meisten gab es keine Rettung.
Das war keine Schwarzmalerei. Das war vorgestern. Die ukrainische Luftwaffe informierte noch am selben Abend über den Angriff, der Ziele in der gesamten Ukraine traf, auch weit im Westen.Immer wieder ist das Land in den zehn Wochen des Krieges mit Marschflugkörpern attackiert worden, die außer konventionellen Sprengköpfen auch Atomwaffen ins Ziel bringen könnten – darunter die Hyperschallrakete Kinschal, gegen die selbst moderne Abwehrsysteme kaum eine Chance haben. Die Gefahr eines Nuklearangriffs verschwindet im Bunker des Präsidenten in Kiew nicht aus den Hinterköpfen. „Der Schlag wird kommen“, orakelt einer von Selenskyjs Beratern düster, aber es habe keinen Sinn, darüber ins Grübeln zu versinken. „Was können wir tun? Wir müssen weiterarbeiten.“ Seitdem Putin die Ukraine überfallen und seinen Angriff gleich zu Beginn mit nuklearen Warnungen unterfüttert hat, ist die Angst vor dem Atomkrieg in die Gegenwart zurückgekehrt. Nach Ansicht der meisten Experten war das Risiko trotz der aggressiven Rhetorik zu Beginn des Krieges gering, ist inzwischen aber gestiegen.
Allein die bloße Vorstellung eines Nuklearschlags ist ungeheuerlich.
Das könnte uns dazu verleiten, vorschnell in Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen. Doch selbst der Einsatz von Massenvernichtungswaffen bewegt sich auf einer stufenreichen Skala, und sie beginnt beim Warnschuss. Eine Detonation in großer Höhe über dem Schwarzen Meer gehört beispielsweise dazu, was im „besten“ Fall keine Opfer fordern müsste, aber signalisieren würde, dass die nukleare Schwelle nun überschritten und Schlimmeres unmittelbar zu erwarten ist. Es wäre ein Schritt auf dem Weg der nuklearen Erpressung. Die beginnt jedoch schon früher, nämlich mit Worten. Und die, die ist bereits seit Kriegsbeginn im Gang.
Ob es freilich bei Worten bleibt, hat der Erpresser Putin in der Hand. Die Bedrohung kommt nur aus Moskau. Das Risiko eines nuklearen Konflikts, das Putins Politik heraufbeschworen hat, wird aber auch im Westen austariert. Zwei Entscheidungen haben das Risiko gerade erhöht.
Erstens: US-Präsident Joe Biden hat auf einen Schlag die enorme Summe von 33 Milliarden Dollar zur Unterstützung der Ukraine lockergemacht. Das ist ein Erdbeben. Zugleich hat sein Verteidigungsminister ein verändertes Ziel ausgegeben: Das russische Militär solle in diesem Krieg ruiniert werden, bis es zu Aggressionen nicht mehr fähig ist. Biden sendet an Putin die Botschaft: Hoffe ja nicht, dass du aus dem Überfall auf die Ukraine einen Gewinn ziehen wirst. Wir machen dich fertig. Wir prügeln dich, bis du geschlagen abziehst und nicht mehr wiederkommst.
Zweitens: Parallel dazu sendet die EU eine eigene Botschaft mit demselben Text. Inzwischen haben die Sanktionen gegen Russland ein Niveau erreicht, das Putins Regime ernsthaft gefährdet. Seit gestern steht der Plan für die Abkehr vom russischen Öl, was in die Kremlkasse ein riesiges Loch reißen wird. Die Sberbank, die als größte russische Bank für das Energiegeschäft gebraucht und deshalb bisher verschont worden ist, wird nun doch vom weltweiten Zahlungssystem Swift abgeschnitten. Wenn das alles so gut wirkt wie gewünscht und Putin seine Macht existenziell gefährdet sieht, kommen die Dinge in Bewegung.
Nun gibt es in der Tat zwei Möglichkeiten:
Die klaren Signale aus Washington und Brüssel könnten Putin zu Rücksichtnahme und Kompromissbereitschaft zwingen. Oder sie treiben ihn zur Eskalation. Das wollen wir doch mal sehen, könnte seine Antwort nämlich auch lauten. Die Gefahr dabei: Mit konventionellen Mitteln können Moskaus Militärs diese Botschaft inzwischen nicht mehr übermitteln. Sie sind mit dem Krieg in der Ukraine bis an die Grenze zur Erschöpfung gefordert. Putins letzter Trumpf ist nuklear.
Eben darum ist die Gefahr, dass Putin die Menschheit in ihre bisher gefährlichste Krise stürzt, inzwischen so groß wie nie zuvor
Dies festzustellen, ist kein Alarmismus, sondern die Realität. Man darf sich Putins Erpressung deshalb nicht beugen. Aber über die beste Taktik kann man durchaus diskutieren. Statt eines schlagzeilenträchtigen, einmaligen Mega-Milliardenpakets für die Ukraine wären ja auch mehrere kleinere Häppchen denkbar gewesen. Solange am Ende die Summe stimmt, kommen Geschütze und Panzerfahrzeuge auch ohne Tamtam genauso zahlreich an.
Auch die EU hätte geräuschloser vorgehen können.
Gewiss, man kann Russland den Hahn der Öleinnahmen zudrehen und das in einen epochemachenden Brüsseler Beschluss verpacken, von dem viele starke Pressefotos um die Welt geschickt werden. Oder man erreicht dasselbe Ziel mit unauffällig koordinierten, einzelstaatlichen Schritten. Man kann tapfer mit der Trompete zum Gefecht blasen. Oder sich anschleichen.
Weder ist die eine noch die andere Taktik per se falsch oder richtig.
Die leise Art schwächt Putins mörderisches Regime genauso wie die laute. Vor- und Nachteile unterscheiden sich allerdings deutlich. Ja, geräuschloses Vorgehen hat Schwächen: Es sendet dem Taktiker im Kreml kein abschreckendes, entschlossenes Signal, sondern lässt sich als Kraftlosigkeit missverstehen – und könnte Putin sogar ermutigen, noch ruchloser vorzugehen. Klare Beschlüsse, für die Washington und Brüssel sich nun entschieden haben, schieben dem einen Riegel vor. Doch sie erhöhen eben auch das Risiko einer nuklearen Eskalation. Man muss sich also zwischen zwei Übeln entscheiden. Aber dafür müssen die Politiker in Washington, Brüssel und Berlin die beiden Optionen erst einmal deutlicher benennen.