Herr Finkel, wenn in Deutschland über Genozid gesprochen wird, dann denken die Menschen meist an den Holocaust, in dem viele Millionen Juden getötet wurden. Ist denn die Zahl der getöteten Menschen überhaupt das entscheidende Kriterium für die Definition von Völkermord.
Wenn wir über Völkermord sprechen, dann ist es in der Tat so, dass wir oft an Fälle wie den Holocaust denken, in dem sechs Millionen Menschen ermordet wurden. Oder an den Völkermord in Ruanda, bei dem bis zu eine Million Menschen starben, sowie der Völkermord an den Armeniern mit bis zu anderthalb Millionen Toten. Genozid muss aber nicht nur auf Zahlen begrenzt sein. In Deutschland gab es eine Debatte über den Völkermord an den Herero und Nama, den die Deutschen zwischen 1904 und 1908 begangen haben. Dieser wird von der deutschen Bundesregierung und der Gesellschaft mittlerweile als Genozid anerkannt und hier reden wir über zehntausende Tote und nicht über Millionen.
Rechtlich gesehen: Es gibt da keinen Grenzwert und es ist auch unmöglich, einen zu haben, da wir über Gruppen verschiedener Größen reden. Im Fall des Bosnienkrieges hat damals der Internationale Strafgerichtshof entschieden, dass es sich um eine „erhebliche“ Zahl handeln muss. Welche Zahl das ist, das wissen wir nicht. Bei Srebrenica waren es 7000 Menschen.
Gibt es etwas, das alle Völkermorde gemeinsam haben?
Ich bin in der Regel skeptisch gegenüber der von den Vereinten Nationen verwendeten Definition von Völkermord, da sie ein paar Probleme mit sich bringt. Die UN-Konvention definiert nämlich nur vier geschützte Gruppen: eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe. Ich persönlich sehe aber keinen Grund, warum nicht auch ein Geschlecht oder sexuelle Identität aufgenommen werden sollten. Aber das ist nun mal die Definition, die wir haben. Damit es also unter die Bezeichnung Genozid fällt, muss eine bestimmte Gruppe aufgrund ihrer Identität zur Zielscheibe werden und es muss den Willen geben, diese bestimmte Gruppe zur Zielscheibe zu machen. Der Vorsatz ist es, dieser Gruppe in erheblichem Ausmaß zu schaden. Ob das so geschehen ist, ist immer schwer nachzuweisen und ich bin deswegen zurückhaltend in diesen Diskussionen.
Bei der Ukraine waren Sie aber einer der ersten Wissenschaftler, der ausdrücklich über Völkermord gesprochen hat, als die ersten grausamen Bilder aus der Stadt Butscha veröffentlicht wurden. Welche sind die wichtigsten Beweise, die belegen sollen, dass es sich hier um einen Völkermord am ukrainischen Volk handelt?
Es ist vielleicht wichtig zu sagen: Die Bilder aus Butscha sind furchtbar und man kann und sollte sie nicht kleinreden. Aber diese Fälle allein müssen noch kein Völkermord sein, es können auch „nur“ Kriegsverbrechen sein.
Warum es ist es aber nicht nur Kriegsverbrechen sondern Völkermord?
Wir haben nun Beweise von verschiedenen Orten in der Ukraine und haben die Folgen ähnlicher Massaker in mehreren Städten gesehen. Es gibt Beweise, dass bestimmte Menschen zum Ziel wurden aufgrund von ihrer Assoziierung mit dem ukrainischen Staat und der ukrainischen Identität. Hier geht es zum Beispiel um Lehrer, kommunale Beamte, Intellektuelle oder Menschen, die früher im ukrainischen Militär gedient haben. Es sind Bücher verbrannt worden und es gibt auch Hinweise darauf, dass versucht wurde in Schulen den Lehrplan entsprechend zu ändern. Es gibt also einen Feldzug gegen die Ukrainer, und zwar nicht als ethnische Gruppe – viele von ihnen sind ja Russen – sondern gegen die Ukrainer als nationale Gruppe.
Außerdem hat sich Putins Rhetorik verändert. Putin hat in der Vergangenheit immer davon gesprochen, dass die Ukraine ein „unechter“ Staat sei, ein „erfundenes“ Land. So etwas zu sagen ist zwar auch schlimm, aber es beinhaltet noch nicht unbedingt den Willen, das Land zu zerstören. Das hat sich aber nun verändert. Jetzt wird wirklich aktiv über kollektive Bestrafung gesprochen, sowie über „de-ukrainisierung“ und die Zerstörung der Identität. Diese ganzen Punkte haben mich dazu veranlasst von Völkermord zu sprechen.
Sie denken also, dass es nicht von Anfang an Putins Plan war, einen Völkermord am ukrainischen Volk zu begehen?
Ich bin der Meinung, dass es nicht sein Plan war von Anfang an. Nach alledem was wir wissen, war es am Anfang so, dass Putin die Regierung absetzen und möglicherweise das Land teilen wollte. Es gab aber nicht den Vorsatz, die Ukraine zu zerstören. Die Russen dachten, dass sie das Land einnehmen könnten und begrüßt würden als die Befreier. Dann dachte man, dass die Ukrainer ihre Rolle als „jüngere Brüder“ einnehmen würden. Diese Art und Weise zu denken war schon immer so: Die Russen sind die „älteren Brüder“ und die „älteren Schwestern“ und die Ukrainer sind untergeben. Aber als die Ukrainer sich gewehrt haben, fand eine Veränderung des Plans statt. Erst dann hat man seitens Russlands angefangen zu sagen, dass es in Wahrheit noch viel mehr Nazis in der Ukraine gebe, als man gedacht hatte. Ukrainer wurden nicht mehr dargestellt als untergebene Verwandte, sondern als „anti-Russland“. Die Rhetorik war dann: Die Ukraine repräsentiert all das, was Russland nicht ist, deswegen muss sie zerstört werden. Also um die Frage zu beantworten: Ich glaube nicht, dass der Krieg mit dem Vorsatz des Genozids begann, aber das hat sich jetzt verändert.
Wird man überhaupt beweisen können, ob Putin die Befehle an seine Generäle gegeben hat, Kriegsverbrechen oder gar einen Völkermord auszuführen?
Ich weiß nicht, welche Befehle gegeben wurden. Eigentlich brauchen wir diese Befehle auch gar nicht zu sehen. Wir müssen uns ja nur anschauen, was Putin in der Vergangenheit gesagt hat. Wenn Sie sich zum Beispiel den Holocaust anschauen: Es gibt kein Dokument von Hitler, in dem der Befehl steht, alle Juden umzubringen. Dieses Dokument hat womöglich nie existiert. Selbst wenn es also Befehle gegeben haben sollte, dann sind sie wahrscheinlich mündlich gegeben worden. Wie gesagt: Wir müssen uns ja nur anhören, was Putin so sagt.
Wird man aber die zur Rechenschaft ziehen können, die diese Gräueltaten begangen haben? Vielleicht nicht Wladimir Putin, aber seine Soldaten und Generäle?
Ich hoffe es. Wir wissen ja, dass die ukrainischen Behörden angefangen haben, die Beweise zu sichern. Wir wissen auch, dass die Vereinten Nationen und viele andere Institutionen aktiv geworden sind. Realistischerweise wird Putin nicht in Den Haag auftauchen. Gerne würde ich mich vom Gegenteil überzeugen lassen. Aber die, die diese Gräueltaten begangen haben, die sind noch jung, einige von ihnen in ihren Zwanzigern. Vermutlich werden die noch eine Weile leben und irgendwann auch unter einem ganz anderen Regime, da Putin nicht für immer Präsident sein wird. Für diese Soldaten gilt also: Ja, ich denke, dass es eine Chance gibt, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden können.
Schauen wir auf die Rolle Deutschlands: Muss Deutschland – gerade aufgrund seiner Geschichte – mehr für die Ukraine tun, ?
Ich fände es jedenfalls sehr gut, wenn Deutschland mehr für die Ukraine tun würde. Nicht nur wegen seiner Geschichte, es wäre zudem einfach eine sehr gute Strategie. Nicht unbedingt mit schweren Waffen, aber mit härteren Sanktionen. Das wäre gut.
Wie wird denn Deutschlands Politik gegenüber Russland von europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern gesehen?
In den Diskussionen, die ich gerade führe, merke ich: Der Ruf der ehemaligen deutschen Kanzlerin Angela Merkel hat im vergangenen Monat einen schweren Schlag erlitten. Letztes Jahr hat meine Universität (Johns-Hopkins-Universität, Anmerk. d. Red.) Frau Merkel noch mit einer Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Das wird dieses Jahr womöglich nicht mehr passieren und einige meiner Kollegen sagen ganz offen, dass das falsch war und ziemlich kurzsichtig.
Blicken wir auch auf Israel: Müsste Israel mehr für die Ukraine tun?
Ich bin israelischer Staatsbürger und meiner Meinung nach müsste Israel definitiv mehr tun. Sowohl aus moralischen Gründen als auch aus strategischen. Derzeit ist die israelische Position sehr engstirnig, kurzsichtig und nur beschränkt auf die Nachbarstaaten und einen kurzen Zeithorizont, ohne dabei aber die langfristigen Auswirkungen zu berücksichtigen. Israels Ruf ist bereits beschädigt worden und wird auch noch stärker beschädigt. Israels Entscheidung sich nicht an den Sanktionen gegen Russland zu beteiligen, schadet dem Land. Denn die Stimmung in Israel ist definitiv pro-Ukraine, aber die Regierung steht im Weg. Ich denke, dass Israel dafür den Preis zahlen wird.
Was genau heißt das?
Israels Ansehen als Teil des Westens ist in Verruf geraten. Wenn die Hilfen für die Ukraine ein Gesamtanstrengung des Westens sind, um Russland zu stoppen, dann kann man nicht Teil des Teams sein, gleichzeitig aber alles aussitzen. Das geht einfach nicht. Und Israels Ruf in den USA ist auch unter Druck. Es gibt bereits Stimmen in der republikanischen Partei, die sagen: Wenn Israel sich weiterhin weigert, mitzumachen, dann werden wir uns genau überlegen, inwiefern wir Israel weiterhin militärisch oder politisch unterstützen.