Die Meerwalnuss ist ein Tier ohne Herz und Hirn, sie besteht zu 99 Prozent aus Wasser. Lange galten Quallen als primitiv – völlig zu Unrecht, findet Marie Gamillscheg. Die Meerwalnuss ist eine der Hauptfiguren in ihrem neuen Roman „Aufruhr der Meerestiere“.
Es gibt eine Art Schlüsselszene in diesem Roman: Protagonistin Luise, eine Meeresbiologin, arbeitet hart für ihre Karriere. In Graz soll sie ein neues Forschungszentrum für die Meerwalnuss mit aufbauen. Eigentlich ist sie total beherrscht. Warum entgleitet ihr bei einem Vortrag plötzlich die Kontrolle?
Marie Gamillscheg: Luise hat sich immer eingebildet, um etwas zu kämpfen: um eine Bühne für ihr Forschungsthema, um sich vor ihrem Chef und den Kollegen zu beweisen, um Geld für ihre wissenschaftliche Arbeit. In diesem Moment aber merkt sie, dass sie längst nur noch gegen etwas kämpft. Sie steht auf der Bühne und merkt, dass es ihr mittlerweile eigentlich vor allem um eine Sache geht: Sie will ihren Namen unter wissenschaftliche Paper schreiben und sich mit Vorträgen als Expertin profilieren. Das ist ein sehr tragischer und schmerzhafter Moment für sie. Aber es ist auch ein Wendepunkt: Sie löst sich von Karrieregedanken und beschäftigt sich zum ersten Mal mit der Frage, was ihr Forschungsgegenstand, die Quallen, wirklich für sie bedeutet.
ZEIT ONLINE: Die Meerwalnuss, die invasive Rippenqualle, um die es im Roman geht, ist sehr anpassungsfähig. Sie kann ganze Ökosysteme zusammenstürzen lassen. Quallen haben schon für Milliardenschäden gesorgt, weil sie Atomkraftwerke und Industrieanlagen verstopften. Kein Wunder, dass sie nicht die beliebtesten Meerestierchen sind, oder?
Gamillscheg: Genau solche Ereignisse eignen sich wunderbar, um Horrorgeschichten über diese Tierart zu erzählen. Aber sie verschweigen auch, warum diese Dinge überhaupt passieren: Weil wir die Quallen aus ihrem eigentlichen Lebensraum in einen anderen verfrachtet haben.
ZEIT ONLINE: Luise stört sich am Begriff „invasiv“. Den nutzt aber ja die Wissenschaft selbst für Tiere und Pflanzen, die sich außerhalb ihres ursprünglichen Lebensraums ausbreiten.
ZEIT ONLINE: Der Roman regt Leserinnen und Leser dazu an, beim Blick auf die Umwelt die Perspektive zu wechseln. Wie kann uns das gelingen?
Gamillscheg: Vielleicht müssen wir uns zuerst davon verabschieden, dass wir vollständig die Perspektive wechseln können. Es ist menschlicher Größenwahn, sich einzubilden, als Natur oder Tier denken zu können. Auch damit instrumentalisieren wir die Natur für unsere Zwecke. Aber wir können unsere Rolle in den Blick nehmen, auch wenn es weh tut. So wie wir die Klimakrise heute erzählen, begeben wir uns in eine Opferrolle. Oder in die eines Retters. Wir schieben die eigene Verantwortung weit weg, statt verantwortungsvoll zu handeln. Der Mensch ist geübt darin, Narrative umzuschreiben. Das zeigt auch das Beispiel der Tierparks. Sie geben sich heute als große Retter von aussterbenden Arten und als wissenschaftliche Institutionen. So haben sie sich ihre Existenzberechtigung neu geschaffen.
ZEIT ONLINE: Die Meerwalnuss leuchtet in Regenbogenfarben. Sie kann 10.000 Eier pro Tag legen, sich allein fortpflanzen – und wenn die Nahrung knapp wird, frisst sie ihre Artgenossen. Wenn es nach Meeresbiologin Luise geht, könnten wir sehr viel von ihr lernen. Aber was denn?
Gamillscheg: Der Mensch tut sich am schwersten damit, seine Sterblichkeit zu akzeptieren. Würde uns das gelingen, würde es uns die Augen öffnen: dafür, dass wir in einer Gemeinschaft und Umwelt leben, die uns überdauert. Und dafür, dass wir aus vielen Verbindungen und Verhältnissen bestehen, die wir pflegen sollten. Wenn wir uns selbst nicht mehr so wichtig nehmen, können wir als Gemeinschaft zu etwas viel Größerem wachsen.
„Quallen können mit ihrem Körper denken“
ZEIT ONLINE: In den Schwärmen gibt es allerdings auch keine Unterschiede: Die Meerwalnuss kennt keine Hierarchien, kein Geschlecht.
Gamillscheg: Ich finde das ein interessantes Gedankenspiel, wenn auch ein utopisches: Wer wären wir ohne Hierarchien und Geschlechter? Was würde uns ausmachen, wie würden wir uns zu unseren Mitmenschen und zu unserer Umwelt verhalten? Welchen Einfluss hätte das auf unser Fortschrittsdenken? Für den Menschen ist Fortschritt ein Mittel, um vor seinem Tod wegzulaufen. Für die Quallen ist der Tod selbst Fortschritt, weil er das Überleben des Schwarms bedeutet.
ZEIT ONLINE: In Ihrem Roman sagt Ihre Protagonistin Luise, dass die Quallen über eine Körperintelligenz verfügen, die uns längst abhandengekommen sei. Was meinen Sie damit?
Gamillscheg: Luise hat Essstörungen, sie arbeitet sich sehr an ihrem Körper ab. Die Quallen sind für sie ein Sehnsuchtsort – ein Ort, an dem es nicht um ihren individuellen Körper geht, sondern an dem er sich in der Gemeinschaft auflösen kann. Wir halten Quallen für primitive Tiere, weil sie kein Herz und Hirn haben. Allerdings haben sie eine andere Art, auf ihre Umwelt zu reagieren – sie nehmen innere und äußere Reize über ihre Haut wahr. Sie können also mit ihrem Körper denken und Wissen transportieren.
ZEIT ONLINE: Luise soll im Grazer Zoo ein Forschungszentrum aufbauen, in dem Meerwalnüsse gezüchtet werden. Allerdings gelingt das in Aquarien bislang kaum. Ist die Meerwalnuss zu klug und zu rebellisch, um sich in Gefangenschaft fortzupflanzen?
Gamillscheg: Das ist wirklich total spannend: Die Meerwalnuss vermehrt sich im dreckigsten Hafenwasser. Man kann sie problemlos einfangen und in Aquarien halten – aber es gelingt so gut wie nie, dass sie sich dort auch vermehren. Warum das in Gefangenschaft kaum klappt, dafür gibt es noch keine wirkliche Erklärung.
ZEIT ONLINE: Überhaupt wissen wir noch vergleichsweise wenig über Quallen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verarbeiten sie allerdings schon zu Mikroplastikfiltern oder zu Biomasse für Dünger oder Fischfutter.
Gamillscheg: Bis vor einigen Jahren hat die Wissenschaft Quallen kaum beachtet. Man hielt sie für so etwas wie mit Salzwasser gefüllte Ballons am unteren Ende der Nahrungskette. Erst spät kam man darauf, dass sich durchaus viele Tiere von ihnen ernähren und dass sie Ökosysteme grundlegend verändern können. Jetzt endlich erforschen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Tiere. Jedoch denken wir schon darüber nach, wie wir sie aus dem Meer eliminieren beziehungsweise für uns nutzen können. Das ist schade, eigentlich wissen wir noch immer sehr wenig über die Tiere.
ZEIT ONLINE: Abseits des Jobs beschäftigen Luise einige Probleme: etwa ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern oder die schon angesprochene Essstörung. Sind Leserinnen und Leser noch nicht bereit, einen Roman nur über den Aufruhr der Meerestiere zu lesen?
Gamillscheg: Als ich begann, an dem Roman zu arbeiten, habe ich mich in erster Linie für das Verhältnis zwischen Vater und Tochter interessiert. Während der Arbeit habe ich aber gemerkt: Wenn ich heute etwas über zwischenmenschliche Beziehungen erfahren möchte, komme ich nicht drumherum, auch über das Verhältnis zwischen Mensch und Natur nachzudenken.
ZEIT ONLINE: Wieso tun sich deutschsprachige Autorinnen und Autoren vergleichsweise schwer mit dem Klimawandel als Leitthema? Oder sind es die Verlage und Leserinnen und Leser?
Gamillscheg: Das ist gar nicht mein Eindruck. Ich denke an Helene Bukowski mit Milchzähne. Oder an Das Meer der Libellen von Yvonne Adhiambo Owuor. Die Theaterstücke von Thomas Köck. Nur weil auf den paar Zeilen auf dem Umschlag nichts von Gletscherschmelzen oder Artensterben steht, heißt das nicht, dass die Klimakrise nicht in den Büchern verhandelt wird. Es geht nicht darum, sie in einem Roman abzuhaken wie ein Thema auf einer To-do-Liste, um dann zum nächsten überzugehen.
Vom Antiheimatroman zum Buch über die Klimakrise
ZEIT ONLINE: Worum geht es dann?
Gamillscheg: Literatur kann uns zeigen, welchen Einfluss die Klimakrise auf jede unserer Handlungen hat – und umgekehrt natürlich auch. Sie zeigt, wie Dinge miteinander verstrickt sind und unsere Lebensweise beeinflussen, selbst wenn wir im Alltag gar nichts davon merken. Wie wir leben, wie wir lieben, wie wir arbeiten: All das wirkt sich aufs Klima aus. Man wirft Literatur auch abwechselnd vor, sie sei zu politisch und damit keine Literatur oder zu wenig politisch und somit irrelevant. Der Vorwurf, sie behandle den Klimawandel nicht, ist dem ähnlich. Gute Literatur spricht aus einer Zeit und ist zugleich zeitlos. Aber das lässt sich oft erst viel später erkennen. Auch wie Texte rezipiert werden, verändert sich über die Zeit. Das merke ich an meinem Debütroman, der vor vier Jahren erschienen ist …
ZEIT ONLINE: … in „Alles was glänzt“ geht es um eine Dorfgemeinschaft in den Alpen. Die Menschen müssen miteinander, mit Schicksalsschlägen und mit dem Ende des Erzabbaus an ihrem Berg zurechtkommen.
Gamillscheg: In den vier Jahren seit der Veröffentlichung hat sich die Rezeption sehr verändert. Damals wurde das Buch meist als Antiheimatroman gelesen. Jetzt auf einmal bekomme ich Anfragen von Leuten, die mit mir über die Klimakrise in den Alpen sprechen wollen.
ZEIT ONLINE: Was kann ein Roman über Klima- und Umweltthemen leisten, was einem Sachbuch nicht gelingt?
Gamillscheg: Romane ermöglichen Leserinnen und Lesern, sich mit Figuren und Themen zu verbinden, die über das persönliche Umfeld hinausgehen. Wenn das gelingt, ist das eine übernatürliche Erfahrung. Sie kann aber auch schmerzhaft sein. Weil diese fremden Stimmen Fragen stellen, ohne Antworten zu geben. Das ist im Sachbuch anders, weil es vor allem Antworten liefert. Genau wie ein Schwarm Quallen kann gute Literatur über Zeiten, über Geschlechter und Hierarchien hinweg verbinden.
ZEIT ONLINE: Kann der Roman also beides: unterhalten und einen Bildungsauftrag erfüllen?
Gamillscheg: Literatur hat keine Aufgabe, sollte sie auch nie haben. Sie erfüllt keinen Auftrag, sie stellt mehr Fragen, als Antworten zu geben. Genau deswegen entwickelt sie ihr ungeheures Potenzial. Literatur lässt uns mit anderen Menschen und Figuren fühlen, denken und leben. So öffnet sie uns die Augen. Und weil sie eben nichts muss, schafft die Literatur etwas Unglaubliches: In einer Zeit, in der so vieles, was gestern noch Fiktion war, heute schon Realität ist, lässt sie uns in der Fiktion etwas Wahrhaftiges aufspüren. Das kann uns helfen, die Wirklichkeit zu gestalten.