Die beiden «Erfinder» der Karte erklären, wie sie ihre Erkenntnisse gewinnen.

Ukrainer fliehen am 24. Februar aus der Hauptstadt Kiew. Am gleichen Morgen hat die russische Invasion in das Land begonnen.
Es sollte alles so aussehen, als wollten sie in die Ferien fahren. Rodion Roschkowski, seine Partnerin und ihre beiden Kinder packten am Abend des 19. Februars gleich zwei Autos. Sie stopften alles rein, was Platz hatte. Als sie die zwölfstündige Fahrt nach Westen antraten, fragte Roschkowskis Sohn: «Warum fahren wir eigentlich nicht alle im selben Wagen, wie wir das sonst tun?» – «Weil wir dieses Mal vielleicht etwas länger verreisen», sagte Roschkowski.
Natürlich fuhr die junge Familie samt Hund nicht in die Ferien. Sie floh frühzeitig vor dem Krieg. Von Dnipro, mit einer Million Einwohnern die viertgrösste Stadt des Landes, reisten sie in den Westen der Ukraine, irgendwo in die Nähe von Lwiw. Wohin genau, verrät Roschkowski nicht – aus Sicherheitsgründen.
Die Online-Karte hat auch Feinde
Der Internet-Dienst des ukrainischen Software-Entwicklers, die «Live Universal Awareness Map», kurz Liveuamap, steht seit Wochen im besonderen Fokus. Diverse Hilfswerke und die Uno nutzen die Karte, um abzuwägen, wie gefährlich bestimmte Regionen geworden sind; Medien verwenden sie, um eine breite Öffentlichkeit darüber zu informieren, wie sich der russische Feldzug entwickelt.

Screenshot von Liveuamap.com vom 21. März 2022. Hinter jedem Symbol steht ein für den Krieg relevanter, aktueller Social-Media-Inhalt – das ist der Anspruch des Webdienstes.
Liveuamap zählt allerdings nicht nur freundlich gesinnte Nutzer. Die Online-Karte hat auch Feinde. Wenige Tage nach Kriegsanfang wurde sie zwölf Stunden vom Netz gezwungen, indem millionenfach künstliche Website-Besuche generiert wurden. Die Webserver kollabierten. Nur mit der spontanen Hilfe der amerikanischen Firma Cloudflare, eines Unternehmens, das auf die Abwehr solcher Angriffe spezialisiert ist, konnte die Last von den Servern abgewendet werden. Der Software-Entwickler Roschkowski vermutet, dass die Russen dahintersteckten. Beweise dafür hat er keine.
Roschkowski möchte allerdings auch nicht, dass die ukrainischen Behörden seinen Aufenthaltsort kennen. Seit dem Beginn des Krieges gilt eine allgemeine Mobilmachung. Männern von 18 bis 60 Jahren ist es verboten, auszureisen. Mit seinen 33 Jahren befindet sich Roschkowski im besten wehrfähigen Alter.
«Wir rechneten seit acht Jahren mit dem Angriff»
Der Ukrainer sitzt beim Video-Anruf in einem gut ausgeleuchteten Zimmer, hinter ihm eine rote Backsteinwand. Er trägt einen grünen Hoodie und einen dünnen Bart. Er wirkt jugendlicher als Mitte dreissig und erstaunlich entspannt für jemanden, der in einer Kriegszone lebt.
Warum war er sich überhaupt so sicher, dass die Russen angreifen würden? «Wir haben auffällige Satellitenbilder und Meldungen von russischen Social-Media-Nutzern seit November beobachtet. Als die Russen damit begannen, ganze Zeltstädte nahe der ukrainisch-russischen Grenze zu errichten, konnte das nur bedeuten, dass sie tatsächlich einmarschieren wollten», sagt Roschkowski.
Natürlich habe er gehofft, dass er sich irre. «Aber eigentlich rechneten ich und Alexander seit acht Jahren damit, dass die Russen angreifen würden. Deshalb haben wir die Karte überhaupt gebaut», sagt Roschkowski. Mit Alexander ist der Mitgründer von Liveuamap gemeint, der 35-jährige Alexander Biltschenko.
Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass die beiden eine Eskalation des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine vorausgesagt haben. Das taten sie schon Ende Februar 2014, als der damalige russlandfreundliche Präsident Wiktor Janukowitsch nach Unruhen in Kiew nach Moskau flüchtete. Das ukrainische Parlament erklärte Janukowitsch darauf für abgesetzt.
«Für uns war klar, das dies Russland nicht einfach akzeptieren würde», sagt Roschkowski, «unsere Online-Karte war auch eine Vorahnung, dass Russland die Krim besetzen würde.» Am 18. Februar 2014 gingen sie damit erstmals online. Neun Tage später besetzte das russische Militär strategisch wichtige Gebäude und Einrichtungen. Die Annexion der Krim ist minuziös auf der Karte dokumentiert.
Doch wie funktioniert das Filtersystem von Roschkowski und Biltschenko überhaupt? Gelingt es ihnen wirklich, mit der Informationsflut – auch Falschinformation – in den sozialen Netzwerken sinnvoll umzugehen?
Roschkowski und Biltschenko studierten Informatik in Dnipro und lernten sich über einen gemeinsamen Geschäfts-Freund kennen. Beide hatten unabhängig von einander mit Algorithmen zu experimentieren begonnen, die örtlich gebundene Social-Media-Inhalte sinnvoll gruppierten. Sie halfen ihnen damals zu verstehen, wo in der pulsierenden Stadt gerade etwas los war. In Grundzügen kommt die damals entwickelte Software auch für die Online-Karte zum Einsatz. Sie sucht nach lokal gehäuften Meldungen zu Kämpfen, neu besetzten Gebieten, neuer militärischer Präsenz. Dafür werden nicht nur einzelne Tweets oder Facebook-Posts berücksichtigt, sondern alle früheren Veröffentlichungen eines Nutzers, wem der Nutzer folgt oder wie oft er Social Media nutzt.

Screenshot Liveuamap: Jede Meldung wird von zwei Menschen geprüft, bevor sie in die Karte integriert wird.
Sobald sich irgendwo Social-Media-Inhalte lokal eingegrenzt häufen, werden Roschkowski und Biltschenko vom System automatisch darüber informiert. Sie fällen dann einen redaktionellen Entscheid, ob der Tweet oder der Facebook-Post auf der Online-Karte fixiert wird oder ob es weitere Verifikation braucht. «Es ist wichtig zu verstehen, dass nichts automatisch veröffentlicht wird. Hinter jeder auf der Karte veröffentlichten Meldung steht der Entscheid von mindestens zwei Menschen», sagt Roschkowski. Diese Kollaboration von Mensch und Maschine macht es laut dem Ukrainer sehr schwer, dass sich Falschmeldungen auf der Karten-Plattform einschleichen können.
Gleichzeitig wird der Algorithmus immer besser. Denn auf jeden Social-Media-Post, den er vorschlägt, erhält er von Roschkowski und Biltschenko eine Rückmeldung, wie gut der Inhalt des jeweiligen Nutzers tatsächlich gewesen sei. War die Meldung wirklich neu und wichtig? War der Autor tatsächlich dort, wo er zu sein behauptete? So lernt das System stetig dazu.
Neue Karten zu Syrien, Afghanistan, Israel und Palästina
Der Algorithmus funktionierte während der Krim-Annexion 2014 und bei den Ereignissen in den Separatistengebieten im Osten des Landes so gut, dass bald einmal rund 150 000 Nutzer Liveuamap täglich besuchten. Bestärkt durch diesen Erfolg, wandten sich Roschkowski und Biltschenko anderen Konfliktregionen zu: Syrien, Afghanistan, Israel und Palästina. Sie erweiterten ihre Karten mit Darstellungen dazu, welche Konfliktpartei welche Gebiete neu kontrolliert. Durch den Abgleich mit Satellitenbildern konnten sie selbst im unübersichtlichen Syrien-Krieg die Machtbereiche der einzelnen Kriegsparteien ziemlich exakt herausarbeiten.

Screenshot von Liveuamap.com: Bei einem Klick auf das Kartensymbol wird den Nutzern der jeweilige Social-Media-Inhalt gezeigt.
Im Ukraine-Krieg kommt eine weitere Verifikationsebene hinzu. Um beispielsweise eine russische Militärpräsenz auf bisher nicht kontrolliertem Gebiet zu überprüfen, telefoniert das Liveuamaps-Team die umliegenden Dörfer und Kleinstädte ab, um zu verstehen, ob wirklich die ganze Gegend oder nur ein einzelner Strassenzug besetzt wurde. So entstehen die vielen rot eingefärbten Flächen und Korridore auf der aktuellen Ukraine-Karte.
All das braucht Ressourcen. Aus der Zwei-Mann-Bude ist deshalb mittlerweile eine grössere Operation geworden. Heute zählt Liveuamap zehn festangestellte Personen und fünfzig weitere, die im Stundenlohn arbeiten. Finanziert wird der Dienst via Werbung und mit dem Verkauf der geografischen Daten, die bei der Bearbeitung der Karte entstehen – etwa die Fläche der russischen Gebietsgewinne oder -verluste. Am ersten Tag des Krieges besuchten 2,7 Millionen Nutzer die Karte.
Ob er seine Wohnung wiedersehen wird, weiss er nicht
«Im Moment kann ich wirklich nicht sagen, dass ich als Unternehmer denke», sagt Roschkowski, «ich beschäftige mich nur damit, diesen Krieg zu überstehen und so gut wie möglich auf unserer Karte zu dokumentieren.»
Roschkowski sagt, es sei schrecklich, tagaus, tagein Bilder und Videos davon anzuschauen, wie die Heimat zerstört werde. Ende letzten Jahres hatte er sich mit seiner Frau ein kleines Apartment in Kiew gekauft. Gelegentlich entdeckt er bei der Arbeit Bilder dieses Wohnblocks. «Im Grunde kann ich in Echtzeit verfolgen, wie die Russen mein Apartment zerstören», sagt Roschkowski. Wann er seine Wohnung das nächste Mal physisch sehen werde, wisse er nicht. Ob überhaupt.