Viele unserer persönlichen und gesellschaftlichen Probleme hängen mit mangelnder Selbstdisziplin zusammen: zwanghafter Konsum, Verschuldung, Gewalt, schlechte schulische Leistungen, mangelnde Produktivität am Arbeitsplatz, Alkohol- und Drogenmissbrauch, ungesunde Ernährung, mangelnde sportliche Betätigung, chronische Angst, Jähzorn, und so weiter und so fort – angefangen von der Entlassung über den Verlust von Freunden bis zur Scheidung oder sogar zu Gefängnisstrafen. Tennisspieler verlieren das Finale, weil sie ihre Gefühle nicht im Griff haben. Politiker zerstören mit einem Seitensprung ihre Laufbahn. Die Finanzwirtschaft wird durch eine Epidemie von riskanten Krediten und Investitionen ruiniert. Viele Menschen leben im Alter in Armut, weil sie nicht genug Geld auf die Seite gelegt haben.
Werden wir nach unseren persönlichen Stärken gefragt, nennen wir oft Ehrlichkeit, Güte, Humor, Kreativität, Mut und andere Tugenden – selbst Bescheidenheit. Aber Selbstdisziplin zählt nicht dazu. Bei einer Befragung von mehr als zwei Millionen Menschen in aller Welt landete die Selbstdisziplin auf der letzten Stelle. Von den zwei Dutzend auf dem Fragebogen aufgelisteten »Charakterstärken« wurde sie am seltensten genannt. Dafür stand bei den Schwächen die mangelnde Selbstdisziplin ganz oben.
In einer Zeit, in der es mehr Versuchungen gibt als je zuvor, fühlen sich viele Menschen überfordert. Ihr Körper erscheint zwar pünktlich am Arbeitsplatz, doch Ihr Kopf kann durch einen einzigen Mausklick oder das Klingeln des Telefons ganz woanders sein. Mit einem Klick auf den Eingangsordner Ihres E-Mail-Programms oder auf Facebook, mit einem Ausflug auf eine Klatschseite oder zu einem Videospiel lässt sich jede Aufgabe aufschieben. Ein typischer Computernutzer besucht pro Tag mehr als drei Dutzend Websites. Mit einer zehnminütigen Einkaufstour auf einer Internet-Shopping-Seite können Sie Ihr komplettes Jahresbudget durcheinanderbringen. Die Versuchungen sind schier grenzenlos. Wir meinen oft, der Wille sei eine außergewöhnliche Kraft, die wir nur in Notfällen mobilisieren. Dass diese Annahme falsch ist, konnte Roy Baumeister bei einer Untersuchung von mehr als zweihundert Männern und Frauen feststellen. Die Testpersonen wurden mit einem Beeper ausgestattet, der siebenmal am Tag zu zufälligen Zeitpunkten klingelte; dann sollten die Teilnehmer notieren, ob sie in diesem Moment einen Wunsch oder ein Bedürfnis verspürten oder kurz zuvor eines verspürt hatten. Bei dieser Untersuchung wurden über den ganzen Tag verteilt Zehntausende Momentaufnahmen gesammelt.
Dabei stellte sich heraus, dass Bedürfnisse und Wünsche die Regel waren, nicht die Ausnahme. In der Hälfte der Fälle verspürten die Testpersonen in dem Moment, in dem der Beeper losging, ein bestimmtes Bedürfnis, und ein weiteres Viertel gab an, in den vergangenen Minuten ein Bedürfnis verspürt zu haben. In den meisten Fällen hatten sie diesen Bedürfnisse nicht nachgegeben. Die Untersuchung ergab, dass wir pro Tag zwischen drei und vier Stunden damit zubringen, Versuchungen zu widerstehen – wenn man die Zeit abzieht, während der wir schlafen, ist das mindestens ein Fünftel des Tages. Anders ausgedrückt: Wenn Sie zu einem beliebigen Zeitpunkt fünf willkürlich gewählte Personen ansprechen, dann widersteht gerade mindestens einer davon mit Hilfe seiner Willenskraft einem Bedürfnis oder einem Wunsch. Aber wir setzen unseren Willen deutlich häufiger ein, denn wir nutzen ihn auch bei Entscheidungen und in einer Reihe anderer Situationen.
Doch als die Bauern im 19. Jahrhundert in die neuen Industriestädte übersiedelten, wurden sie nicht mehr durch Dorfpfarrer, gesellschaftliche Zwänge und universelle Glaubensvorstellungen diszipliniert. Die Reformation hatte die Religion zur Angelegenheit des Einzelnen gemacht, und die Aufklärung hatte den Glauben an Dogmen geschwächt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten die Menschen in einer Übergangsphase, in der die moralischen Gewissheiten und starren Institutionen des Mittelalters im Verschwinden begriffen waren. Damals stellten sich viele Menschen die Frage, ob die Moral ohne Religion Bestand haben könne. Viele zweifelten insgeheim an der Religion, doch nach außen hin hielten sie an ihr fest, glaubten sie doch, den Anstand wahren zu müssen.
Wir mokieren uns heute gern über die Heuchelei und Prüderie des 19. Jahrhunderts – so wird oft behauptet, im viktorianischen England habe man Tischbeine mit kleinen Röckchen versehen, damit der Tisch keine Knöchel zeige. Wenn man heute die steifen Predigten über Gott und die menschlichen Pflichten aus der Zeit liest, dann kann man ohne Weiteres verstehen, warum die respektlosen Bemerkungen Oscar Wildes so erfrischend wirkten: »Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung«, erklärte er etwa. Aber angesichts der zahlreichen neuen Versuchungen stellte es kein Zeichen einer Neurose dar, wenn viele Menschen nach neuen Quellen zu ihrer Stärkung suchten. Viele beklagten den Sittenverfall und die gesellschaftlichen Krankheiten der Städte und suchten nach einem Halt, der greifbarer war als die göttliche Gnade – eine innere Stärke, die sie auch als Atheisten beschützte.
Damals entdeckte man den Begriff des Willens oder der Willenskraft. Man meinte, dass eine Art Kraft im Spiel sein müsse, die gewisse Ähnlichkeit mit dem Dampf habe, der die Industrielle Revolution antrieb. Viele Menschen versuchten, ihre Willenskraft mittels Selbsthilfebüchern zu trainieren. Einer der ersten Bestseller war »Hilf dir selbst!« des britischen Autors Samuel Smiles, der seine Leser unter dem Motto »Genie ist Geduld« daran erinnerte, dass Erfolg mit »Selbstzucht« und »unermüdlicher Beharrlichkeit« zu tun habe. Sein amerikanischer Zeitgenosse Frank Channing Haddock schrieb ein Buch mit dem schlichten Titel »Die Macht des Willens«; er gab dem ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich und beschrieb den Willen als »Energie, die sich qualitativ mehren und qualitativ stärken« lasse. Allerdings hatte er keine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte, und wissenschaftliche Beweise für seine These konnte er schon gar nicht vorlegen. Derselbe Gedanke kam jedoch auch einem Menschen mit größerer wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit: Sigmund Freud meinte, das Ego basiere auf geistiger Aktivität, die wiederum mit einem Energieaustausch zusammenhänge.
Doch Freuds Nachfolger vergaßen sein Energiemodell. Erst vor kurzem begannen Wissenschaftler, allen voran Roy Baumeister, systematisch nach dieser Energiequelle zu fahnden. Fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch suchten Psychologen und Lehrende lieber nach Gründen, warum der Wille nicht existierte.
Die willenlose Gesellschaft
Wenn Sie durch wissenschaftliche Fachzeitschriften oder die aktuelle Selbsthilfeliteratur blättern, stellen Sie schnell fest, dass die Vorstellung der »Charakterbildung«, wie sie im 19. Jahrhundert gepflegt wurde, seit geraumer Zeit außer Mode ist. Wenn die Begeisterung für den Willen zu Beginn des 20. Jahrhunderts abflaute, dann hatte das natürlich mit den moralischen Exzessen des 19. Jahrhunderts zu tun, aber auch mit wirtschaftlichen Umwälzungen und den beiden Weltkriegen. Das Blutvergießen des Ersten Weltkrieges schien nur möglich gewesen zu sein, weil zu viele Moralisten pflichtschuldig in den Tod gegangen waren. In den Vereinigten Staaten und Westeuropa predigten Intellektuelle daher eine entspanntere Sicht des Lebens. Anders in Deutschland, wo die Nationalsozialisten eine »Psychologie des Willens« vertraten; bildgewordener Ausdruck dieser Philosophie war Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens über den Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg im Jahr 1934. Die nationalsozialistische Vorstellung des Gehorsams der Massen gegenüber einem Soziopathen hatte zwar nichts mit dem Gedanken des Willens aus dem 19. Jahrhundert zu tun, aber dieser Unterschied wurde verwischt. Wenn die Nationalsozialisten den Triumph des Willens verkörperten, dann wollte man besser nichts mit dem Willen zu tun haben.
Niemand weinte dem Willen eine Träne nach, und in den Jahrzehnten nach dem Krieg wurde er durch immer neue Kräfte weiter geschwächt. Der technologische Fortschritt verbilligte die Güter und trug zum neuen Wohlstand der Arbeitnehmer bei, der private Konsum wurde zum Motor der Wirtschaft, und die neue Werbebranche drängte die Menschen zum Kauf. Soziologen sprachen von einer neuen Generation fremdbestimmter Menschen, die sich eher von den Ansichten ihrer Nachbarn lenken ließen als von eigenen moralischen Überzeugungen. Die Selbsthilfebücher des 19. Jahrhunderts galten als verstaubt und egozentrisch. Die neuen Bestseller waren fröhliche Bücher wie Dale Carnegies »Wie man Freunde gewinnt« oder Norman Vincent Peales »Die Kraft positiven Denkens«. Carnegie verwendet ganze acht Seiten darauf, um seinen Lesern zu erklären, wie sie zu lächeln haben. Mit dem richtigen Lächeln gewinne man andere Menschen, und das sei der Schlüssel zu Erfolg, versicherte er. Peale und andere Autoren fanden sogar einen noch einfacheren Weg.