Der Diplomat T. S. Tirumurti hat gerade keinen einfachen Job. Er ist Indiens ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen (UN), als er nun bei der Vollversammlung auftrat, musste er alle Register seines Berufs ziehen. Tirumurti sprach von der Bedeutung der UN-Charta, von „der Achtung der Souveränität und territorialen Unversehrtheit von Staaten“, die alle Mitglieder anerkennen müssten – nur eines machte er nicht: Russland dabei zu erwähnen. Als der UN-Sicherheitsrat später über eine Resolution gegen Russlands Krieg in der Ukraine abstimmte, enthielt er sich. Klare Kante zeigen? Bloß nicht.

Indien setzt seit Jahren auf eine schwierige Strategie: Es will seine guten Beziehungen zu Russland pflegen – sich aber gleichzeitig enger mit dem Westen verbinden. Das Beste aus beiden Welten, das ist das Ziel. Doch diese Strategie ist jetzt womöglich am Ende: „Indien kann in dem aktuellen Konflikt nur verlieren“, sagt Christian Wagner, Experte für indische Außenpolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Russlands Wirtschaftssystem war Vorbild

Mit Russland, und zuvor mit der Sowjetunion, verbindet Indien eine besondere Partnerschaft. Nachdem das Land 1947 unabhängig von Großbritannien wurde, richtete sich die indische Entwicklungsstrategie staatswirtschaftlich aus – und nahm sich Anleihen am Wirtschaftssystem der Sowjetunion.

Seit einem Besuch des damaligen Parteichefs der Kommunistischen Partei, Nikita Chruschtschow, im Jahr 1955 unterstützte die Sowjetunion Indien im Kaschmirkonflikt; später, 1971, politisch auch im Krieg gegen Pakistan. „Russland gilt in Indien als zuverlässigster Verbündeter im internationalen System“, sagt Wagner.

Keine Kritik – auch nicht nach der Krim-Annexion

Indien habe sich revanchiert, indem es Russland kaum kritisierte: nicht 1956, als sowjetische Truppen den Aufstand in Ungarn niederschlagen, nicht 1979 bei deren Einmarsch in Afghanistan – und nicht 2014, als Russlands Präsident Wladimir Putin die ukrainische Halbinsel Krim annektiert.

Aber was bindet Indien heute konkret an Russland? Zunächst die Rüstungsfrage: Russland ist Indiens größter Waffenlieferant, stellt noch immer fast die Hälfte der indischen Ausrüstung. Früher kamen sogar 70 Prozent der indischen Rüstungsgüter von dem Partner. Das bleibt von Bedeutung, gerade im Hinblick auf Grenzkonflikte Indiens.

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Kalaschnikows für Russland

So lässt Indien gerade das russische Raketenabwehrsystem S-400 an der pakistanischen Grenze installieren – um sich vor Angriffen aus Pakistan und China zu schützen, lautet Indiens Begründung. Als Gegenleistung stellt das Land Kalaschnikows für Russland her.

Auf der anderen Seite könne Indien es sich nicht leisten, die USA zu verprellen, erklärt Indienexperte Wagner. Die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten sei für die Modernisierung der indischen Streitkräfte zentral. „Zum anderen gibt es zwischen Russland und Indien aber auch eine große Energiepartnerschaft“, sagt er. Eine Abhängigkeit, die Deutschland nicht unbekannt ist. Steigende Energiepreise schwächten schon jetzt den Wiederaufschwung Indiens, nachdem die Wirtschaft aufgrund der Coronapandemie stark eingebrochen war.

Denn sollten Russland und China sich künftig auch in Indiens Hinterhof abstimmen, wie sie es nennt, also bei Fragen, die das Land unmittelbar betreffen, könnte Peking möglicherweise darauf hinwirken, dass Russland mit bisher gültigen ungeschriebene Vereinbarungen bricht. So könnte das Land Indiens Bitten, Pakistan nicht zu bewaffnen, künftig ignorieren oder kein Veto mehr einlegen, wenn die Kaschmirfrage bei den Vereinten Nationen wieder aufkommt, fürchtet Mehta.

 

März 2022 | Allgemein | Kommentieren