Risiken so lange durch die rosarote Brille zu betrachten, bis sie zur akuten Gefahr werden, das können wir hierzulande richtig gut. Wie gut, zeigt sich in den drei großen Krisen unserer Zeit: Ukraine, Corona, Klima.
Im Umgang mit dem Ukraine-Krieg hält im Politikbetrieb eine merkwürdige Apathie Einzug. Nachdem Putins Angriff alle Welt aufgeschreckt und Kanzler Scholz eine „Zeitenwende“ ausgerufen hatte, wurden eilig Sanktionspakete geschnürt und die milliardenschwere Wiederbelebung der Bundeswehr angekündigt. Doch vier Wochen nach Beginn der Kämpfe scheint das Engagement vieler Politiker zu erlahmen.
Versprochene Waffen werden nicht geliefert, sind irgendwie nicht verfügbar oder müssen erst noch produziert werden, irgendwo von irgendwem. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht irrlichtert durch die Szenerie, Innenministerin Nancy Faeser schiebt die Verteilung der Flüchtlinge auf Städte und Kommunen ab, Außenministerin Annalena Baerbock muss einräumen, dass die Sanktionen zwar Putin treffen, ihn aber keine Sekunde lang vom Weiterbomben abhalten.
Im Gegenteil:
Der Kremlchef schlägt immer brutaler zu, lässt Krankenhäuser, Einkaufszentren und Demonstranten beschießen, nimmt keinerlei Rücksicht auf Zivilisten. Militäranalysten raunen unisono: Putin geht es um alles oder nichts. Entweder er kann die gesamte Ukraine unter seine Knute zwingen. Oder er zerstört das Land, macht die Städte dem Erdboden gleich, so wie schon Mariupol, lässt Regierungspolitiker ermorden, treibt Millionen Menschen in die Flucht. Am Ende bliebe ein riesiger Friedhof zurück, so wie in Tschetschenien, so wie in Syrien. Den kann er dann ungestört beherrschen und auf seinem faschistoiden Raubzug weitere Staaten attackieren: Moldawien, Georgien, womöglich auch die östlichen EU-Länder. Angesichts dieser Szenarien wirkt es seltsam, dass die Bundesregierung sich so schwertut, ihre Waffenversprechen einzulösen und den Kauf von russischem Erdgas schneller zu drosseln, obgleich das einer Studie zufolge möglich wäre. Man kann dieses Verhalten als Realpolitik bezeichnen: Mehr geht halt leider nicht! Oder als Wünsch-dir-was-Politik: Wird schon alles nicht so schlimm werden! In einem Wort: Realitätsverweigerung.
Dasselbe Muster ist beim Corona-Management zu beobachten:
Obgleich die Infektionszahlen höher sind als je zuvor, obwohl die Zahl der Covid-Patienten in Krankenhäusern wieder steigt, obgleich drei Viertel der Kliniken wegen erkranktem Personal nicht mehr im Normalbetrieb arbeiten, obwohl jede Woche mehr als 1.000 Menschen sterben, hat die Ampelkoalition die Aufhebung der meisten Sicherheitsregeln durchgesetzt. Noch gilt eine Übergangsfrist, doch ab dem übernächsten Wochenende fallen bundesweit die Schranken. Dann kann sich der Erreger noch schneller verbreiten.
Das Virus wirkt bei jedem Betroffenen anders
Viele merken gar nicht, dass sie infiziert sind oder haben allenfalls ein bisschen Schnupfen. Andere trifft es härter, trotz Impfungen, trotz Booster. So eine Covid-Infektion kann eine surreale Erfahrung sein: Eben noch ist man topfit durchs Leben gesprungen – plötzlich Kratzen im Hals, Dröhnen im Kopf, Druck auf der Lunge. Und fünf Stunden später liegt man stöhnend auf dem Sofa, mag sich kaum noch regen, hustet sich die Seele aus dem Leib. Auch so einen Infekt überstehen die meisten nach einigen Tagen ohne Nachwirkungen, aber angenehm ist das nicht. Wünscht man niemandem. Warum also dürfen sich bald vielerorts wieder Menschen ohne Masken und Abstand tummeln, während das Infektionsrisiko so hoch ist wie nie zuvor?
Auch hier liegt die Antwort in der Wünsch-dir-was-Politik:
Vor allem die FDP-Vertreter in der Bundesregierung hätten halt so gern, dass der Corona-Mist endlich endet, sie wollen den Leuten unbedingt alle Freiheiten zurückgeben, also machen sie das jetzt einfach mal und gucken, was passiert. Das kann man mutig nennen. Oder Realitätsverweigerung.
Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender haben sich mit dem Coronavirus infiziert
Auch in der dritten und größten Krise unserer Zeit ist dasselbe Muster zu erkennen: Seit Jahren ist bekannt, dass die Menschheit den Planeten überstrapaziert. Die Erdtemperatur steigt rasant, Gletscher schmelzen, Überschwemmungen, Stürme und Dürren nehmen zu, Arten sterben aus.
Der schockierende Bericht des Weltklimarats vor drei Wochen sollte eigentlich den Letzten die Augen geöffnet haben. „Wir haben nur ein Jahrzehnt, um die CO2-Wende zu schaffen und die Menschen noch vor den größten Risiken des Klimawandels zu schützen“, warnt Johan Rockström, der designierte Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Im Klartext: Politik und Wirtschaft müssten jetzt sofort alle Weichen stellen, um die Klimaziele noch zu erreichen. Stattdessen hat das Ukraine-Krisenmanagement die Aufmerksamkeit für den Klimaschutz verdrängt, und Wirtschaftsminister Robert Habeck tütet mit den Scheichs zweifelhafte Erdgas-Deals ein. Realpolitik? Vielleicht. Oder Augen-zu-und-durch-Politik.
Minister Habeck erweist Scheich Mohammed bin Hamad bin Kasim al-Abdullah Al Thani in Katar die Ehre
Dieser Tage ist viel vom Bestseller „Deutschland 2050“ die Rede.
Die Autoren Toralf Staud und Nick Reimer beschreiben darin, wie die Erderhitzung unser Land verändern wird. Am Ende ihres Buches führen sie ein Gespräch mit dem Soziologen Ortwin Renn und fragen ihn, warum Politik und Gesellschaft so gleichgültig auf die Klimakrise reagieren, obwohl sie die größte Bedrohung für die Menschheit darstellt. Er nennt vier Gründe:
Erstens vollziehen sich die Veränderungen des Klimas scheinbar langsam, weshalb sie viel zu lange unterschätzt werden.
Zweitens wird übersehen, dass die Erhitzung nicht linear verläuft, sondern irgendwann Kipppunkte erreicht, an denen die Lage plötzlich in eine Katastrophe umschlägt. Erst dann wachen alle auf und sind alarmiert.
Drittens sträuben sich Menschen, liebgewonnene Gewohnheiten aufzugeben. Stattdessen leugnen sie lieber das Problem oder reden es klein: Was soll es denn bringen, wenn ich das Auto stehen lasse, aber die Chinesen weiter Kohle verbrennen? Viertens gibt es für das Klimaproblem keine einfachen Lösungen – im Gegenteil: Es erfordert weltweit koordinierte Anstrengungen.
Vier Gründe, die dazu führen, dass Politik, Wirtschaft und – Hand aufs Herz – in Wahrheit wir alle viel zu spät, zu langsam und zu lasch handeln. Genau besehen ist das aber nicht nur beim Klima so, sondern auch im Umgang mit Diktatoren wie in Russland oder China und natürlich auch beim Corona-Management. Die Probleme sind bekannt – entschlossen angepackt werden sie aber erst, wenn es richtig kracht. Das muss sich ändern, wir brauchen dringend einen anderen Umgang mit Großkrisen. Denn wenn es beim Klima erst mal richtig kracht, dann gnade uns Gott.
Vom Klimawandel geschädigtes Waldgebiet in Westfalen
Selenskyj wirbt weiter
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist nicht nur ein Kriegsheld, sondern auch ein begnadeter Kommunikator. Einem Parlament nach dem anderen hält er Standpauken per Video; nach der EU, den USA, Deutschland und Israel ist heute die französische Nationalversammlung an der Reihe. Seine Appelle sind klar, eindringlich und immer mit historischen Anleihen des jeweiligen Landes gespickt: Selenskyj packt die Parlamentarier bei ihrer Ehre – und niemand kann sich ihm entziehen. Auch nicht Marine Le Pen, Präsidentschaftskandidatin des rechtsextremen Rassemblement National und bislang als Putin-Bewunderin bekannt: Eigentlich wollte sie sich vor Selenskyjs Rede drücken. Doch als sie ein verheerendes Medienecho erntete, beeilte sie sich zu versichern: Non, non, alles ein Missverständnis, natürlich werde sie teilnehmen! So entlarvt der Krieg auch die Heuchler.
Green Deal in Gefahr – Der Ukraine-Krieg hat globale Folgen:
Bisher haben die Ukraine und Russland fast 30 Prozent der weltweiten Weizenexporte produziert, bei Mais und Raps sind es knapp 20 Prozent. Wegen der Kämpfe bleiben die Lieferungen aus, nun drohen viele arabische und afrikanische Staaten in Hungerkrisen zu stürzen. Heute will die EU-Kommission Vorschläge machen, wie sich die Lebensmittelkrise mildern lässt. Dabei wird sie auch empfehlen, Bauern die Nutzung von Flächen zu erlauben, die eigentlich stillgelegt werden sollten, um die Artenvielfalt zu schützen. Allein in Deutschland geht es um bis zu 250.000 Hektar. Umweltschützer schlagen deshalb Alarm und sehen den mit großem Tamtam beschlossenen Green Deal der EU in Gefahr. Nicht von ungefähr: EU-Klimakommissar Frans Timmermans will auf die heute geplante Vorstellung neuer Gesetze gegen Pestizide verzichten. „Terminprobleme“, heißt es aus Brüssel. Aha.
Der Lichtblick
900 Schüler der Martin-Buber-Oberschule bilden das Friedenszeichen