Seit gestern Morgen greift Russland in einer großangelegten Invasion die Ukraine an. Auch über Weißrussland dringen offenbar Truppen von Norden aus in das Nachbarland ein. Der ukrainische Präsident hat das Kriegsrecht verhängt. Noch ist nicht klar, ob die ukrainischen Militärverbände imstande sind, der 180.000 Mann starken Invasionsarmee Russlands wirksam Gegenwehr zu leisten. Und es ist auch eine Frage, wie weit Putin gehen wird. Wird er Bomben auf Kiew werfen, eine europäische Hauptstadt?

Ratlosigkeit macht sich im Westen breit, Minister bekennen im Fernsehen, nicht genau hingehört und gelesen zu haben, was Putin schon vor Monaten von sich gegeben hatte – erkennt den Plan, weiß, dass er böse ist und stellt fest, zu wenig in die Verteidigungsfähigkeit des eigenen Landes und der Nato-Verbündeten investiert zu haben. Es ist wie mit einem Schrottauto, das noch fährt: Erst beim TÜV wird dem Besitzer klar, dass der Wagen aus dem Verkehr hätte gezogen werden müssen, weil er betriebsunsicher ist.

Als spontane Antwort bleiben dem Westen empörte Rufe aus der Zuschauer-Loge, aber wenigstens werden „noch nie dagewesene Sanktionspakete“ geschnürt, während Putin jeden Versuch der Einmischung als Bedrohung Russlands wertet und sofortige Reaktionen androht, „wie sie sie noch nie zuvor in ihrer Geschichte erlebt haben“. Nun wird munter spekuliert: Ist das die ernstgemeinte Drohung einer Nuklearmacht?

Auch wenn man es hatte kommen sehen: Europa wird seit gestern seine schmerzlich-ernüchternde Marginalisierung im globalen Ordnungswettbewerb vor Augen geführt. Die Europäer hatten noch die Hoffnung gehabt, dass Russland sich diplomatisch würde von ihnen besänftigen lassen, während der US-amerikanische Präsident Joe Biden schon vor einer Woche von einer unabwendbaren Militär-Intervention sprach. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj glaubte bis zuletzt, dass die westliche Solidarität, die europäische Diplomatie und die Androhung massiver Sanktionen des Westens ausreichende Mittel zur Verhinderung der Invasion seien. Nun stehen vor allem die Europäer vor dem Scherbenhaufen ihrer selbstgefälligen Ansprüche. Nie waren ihre Naivität und Schwäche deutlicher als heute, ein Tag danach.

Der russische Präsident will einen Systemwechsel in der Ukraine, vor seiner Haustür, also eine Abkehr vom Westen, die das Territorium der Ukraine zum Pufferstaat degradiert. Putin wird seit Jahren nicht müde, die Sicherheitsinteressen Russlands zu betonen. Die Richtung war vorgegeben. Das haben die Europäer in ihrer pseudo-demokratischen Expansions-Euphorie gern ignoriert, weil sie Anhänger der Theorie sind, dass gegenseitige (wirtschaftliche) Abhängigkeit zu ähnlich friedvollen Handlungsmotiven führt.

Aber auch wenn es schief geht, müsste der europäische Missions-Anspruch handfest verteidigt werden können. Im Zweifel sind aber genau hier die Sollbruchstellen, die Putin nur zu gut kennt. Die europäische Idee ist eine von Ankündigungsweltmeistern, die sich nicht vorstellen können, dass eine Waffe in der Hand ein unschlagbares Argument ist, wenn man selbst mit leeren Händen dasteht.

Nun kommen die Sprüche:

Bundeskanzler Scholz verurteilt das Vorgehen Russlands „aufs Schärfste“. Eine müde Floskel, die wie ein Synonym für die Geste der erhobenen Hände steht. Putin juckt das nicht. Der Westen und die Europäische Union haben mit ihrer blauäugigen Politik der Erweiterung nach Osten ohne Einbindung russischer Interessen einen ordentlichen Anteil am Desaster. Es darf dabei nicht unerwähnt bleiben, dass jedem Staat freistehen muss, seine Bündnispartner unabhängig zu wählen, auch der Ukraine. Allerdings stehen die Zeichen heute anders als 1991, als Russland damals mehr mit sich selbst beschäftigt war als mit seinem geopolitischen Status. Heute haben die Ukraine und andere Anrainerstaaten Russlands eben keine freie Wahl.

Der Glaube an die hochtrabende „friedfertige Vernunft“ westlicher Prägung hat sich in der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991 jedoch nicht kongruent zu Europa entwickelt. Während sich die Regierung in Kiew von 2004 bis 2010 und seit 2014 eindeutig nach Westen orientierte, verstärkte sich die latent stets vorhandene Ost-Westspaltung der Ukraine. Seit 2014 wurde der Osten des Landes zunehmend abtrünnig, mit massiver Unterstützung Russlands.

Daran, dass Putins Propaganda-Bild von einem Russland, das Schutzmacht aller Russen ist, bei vielen der ethnischen Russen in der Ost-Ukraine so populär ist, hat die Regierung in Kiew einen entscheidenden Anteil. Sie hat beispielsweise Sprachregelungen erlassen, die das Russische als Verkehrssprache in weiten Teilen des Landes zurückdrängen sollten. Zuletzt wurden russischsprachige Zeitungen beispielsweise dazu verpflichtet, auch eine ukrainischsprachige Ausgabe in gleicher Auflage drucken zu lassen. Einen besseren Nährboden können Nationalisten kaum finden.

Russisch ist in der Region auch oft die Verkehrssprache verschiedener dort lebender ethnischer Minderheiten. Es dürfte viele Menschen im jetzigen Kriegsgebiet geben, denen es im Grunde egal ist, ob sie aus Moskau oder aus Kiew regiert werden, solange sie ihr Leben leben können. Da zählen eher praktische Fragen, wozu die eigene Sprache natürlich zählt. Keiner kann sagen, wie viele der Bewohner in Donezk und Luhansk wirklich Anhänger von Putins Idee eines großen Russlands auf Augenhöhe mit den USA und China sind.

Diese Idee soll Russland endlich aus der Konfusion und Schwächung führen, die der Zerfall der Sowjetunion 1991 dem Land beschert hatte. Der russische Präsident verfolgt eine Doppel-Strategie aus identitätspolitischer Konsolidierung und territorialen Sicherheitsansprüchen, die eindeutig antiwestlich ausgerichtet sind. Seine identitätspolitische Klammer ist das slawische Erbe, ein slawisches „Reich“ mit Russland in der Mitte.

Zurück zum diplomatischen Papiertiger

Seit Wochen, in denen die Welt zusehen musste, wie sich Russland gemächlich an den Grenzen seines Nachbarlandes militärisch formierte, wird über die Beweggründe Putins zu dieser „Ultima Ratio“ spekuliert. Die Jetset-Diplomatie, allen voran die Außenministerin, wollte Glauben machen, dass auf letzte Tüte noch Wunden zu heilen seien, die man seit Jahren im Verhältnis zu Russland unbehandelt gelassen hatte. Man wollte zum „Normandie-Format“ zurück, einem diplomatischen Papiertiger, der das Konstrukt einer westlich geprägten Prämisse war, die Russland unter Putin niemals akzeptieren würde. Auch die Münchner Sicherheitskonferenz fand ohne Russland statt. Ein deutlicheres Zeichen gab es nicht, dass Putin jetzt vollends dicht machen, sogar Fakten schaffen wollte und keine Lust mehr auf Gerede hatte.

Die westliche Vorstellung, dass Sicherheitsinteressen automatisch im Gedankenkosmos westlicher Diplomatie formuliert werden müssen, ist gescheitert. Sie war im Zusammenhang mit Russland von Anfang an irrig. Nun verfolgt das Land eine Strategie, mit der es seinen Weltmachtanspruch wiederherstellen will. Putin hat „die Nase voll“ von der Hegemonie der USA und hält Europa für einen Vasallenflecken Washingtons. Deshalb nimmt er die Plauderrunden mit Macron und Baerbock nicht ernst. Putin kann mit der kriegerischen Intervention in der Ukraine, die in seinem eigenen Land nicht so unumstritten ist wie die Besetzung der Krim, nun den ersten Schritt zur tripolaren Weltordnung gehen: USA, China, Russland. Das ist seine Weltordnung. Die Sicherheit Russlands fängt demnach an der Westgrenze Weißrusslands und der Ukraine an.

Die Frage ist nicht, ob Putins Angriffskrieg gerechtfertigt ist …

… das ist er auf keinen Fall –, sondern inwieweit der Westen eine Teilschuld an dem verkorksten Verhältnis zu Russland trägt. Putins Angriffsschlag trifft nun weite Teile der saturierten westlichen Befindlichkeit. Die Utopie der Friedfertigkeit westlicher „Eliten“ ist passé, sämtliche diplomatische Interventionen Europas sind daran krachend gescheitert. Was Wunder dass in Polen und im Baltikum Unruhe entsteht. Die Nato und der Westen müssen darauf eine Antwort finden. Willkommen zurück im Kalten Krieg.

Feb. 2022 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Sapere aude, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | Kommentieren