Es musste eine alternative Route für meinen feiertäglichen Fußmarsch her, mitten durch die Stadt, aber in stiller Einsamkeit eines benediktinischen Schweigeklosters. Und siehe da: Dank der im Jahr 1898 gegründeten Augsburger Localbahn steht eine geeignete Wegstrecke zur Verfügung. Die private Güterbahn windet sich nämlich auf einem eigenen, meist verborgenen Schienennetz von 40 Kilometern durch die Stadt. Alltags bedient sie Industriebetriebe mit hunderttausenden von Tonnen Fracht pro Jahr. Auf einer Ringstrecke erfreut die Localbahn gemeinsam mit den Bahn-Afficionados vom Bahnpark-Augsburg die Menschen sogar mit gelegentlichen Rundfahrten in einem alten Schienenbus. Sonntags macht die Lokalbahn aber Pause, und dem Flaneur bietet sich die Chance, in die Hinterzimmer der Stadt abzutauchen, ohne mit den 440 Pferden einer schweren Diesellok vom Kraus-Maffei zusammenzustoßen. Die kann übrigens ganz enge Kurven fahren, bei der Bahn bedeutet das einen Radius von 50 Metern. Sie ist also geradezu prädestiniert für den Stadtverkehr.

An einer geeigneten Stelle fädele ich mich unauffällig ein und entschwinde den Blicken über eine kastenförmige Stahlbrücke. Die Trasse erinnert mich ein wenig an die Back-Alleys amerikanischer Wohnviertel, wo die Mülltonnen stehen und allerlei Undurchsichtiges passiert. Auch mit der Localbahn nähert man sich der Stadt durch die schlecht beleuchtete Seite, die aber oft vielsagender ist als die Vorderfront mit dem gepflegten Rasen. Hier wird nicht gekehrt und gekärchert, hier gibt’s abweisende Zäune, modernde Ruinen und rostende Brücken. Fuchs und Hase finden mitten in der großen Stadt Unterschlupf, wilde Katzen schleichen umher, und die Vögel schlagen als zwitscherndes und schimpfendes AWACS Alarm.

Ich fühle mich ein bisschen wie Jack London

Die Bohlen in der Mitte der Brücke sind leicht verfault, und ich blicke direkt in die darunter fließende Wertach, die ziemlich kalt aussieht. Ich versuche den richtigen Rhythmus zwischen den Schwellen im Gleisbett zu finden. Der Abstand zwischen den Bohlen ist zum zügigen Laufen zu klein, nimmt man zwei auf einmal, ist er zu groß. Ich fühle mich ein bisschen wie Jack London, der wohl berühmteste Hobo. So nannte man in USA die Wanderarbeiter, die auf oder entlang den Gleisen wanderten und auf einen günstigen Moment lauerten, sich auf einen Güterzug zu schwingen.

Auch in dem doch recht wohlhabenden Augsburg haben sich Obdachlose unter den Brücken und in angrenzenden Schuppen eingerichtet, Zelte und Matratzen entlang der Gleise zeugen davon. Es ist niemand zu Hause, ich störe also nicht, wenn ich mitten durch die Wohnstube latsche. In den Mauernischen der Brücken hatten sich einige geradezu häuslich eingerichtet, die Unterkünfte erinnerten an Schwalbennester unter’m Dachvorsprung. Jetzt verhindern das dicke Stahlzäune. Ich habe mir sagen lassen, dass es immer mehr Obdachlose werden. Sie ziehen diese zweifelhafte Wohnlage ganz offensichtlich den örtlichen Not-Unterkünften vor. Stahlzäune sind wohl eher die falsche Antwort.

Überall auf der Welt finden sich die billigsten Grundstücke an der Bahnlinie. Entlang der Localbahn-Trasse reihen sich stellenweise die Kleingärten, auf ein paar Metern eingeklemmt zwischen Geleisen und der tief unten liegenden Wertach. In Rio würde hier eine Favela wuchern, in Kapstadt ein Township, aber auch hierzulande scheint es sich an vielen Stellen um städtebaulichen Wildwuchs zu handeln, den man gleichwohl unter Denkmalschutz stellen sollte. Nirgends zeigt sich das archaische Bedürfnis des Menschen nach einem kleinen Eigentum und einer individuellen Behausung so klar wie in diesen selbstgezimmerten Paradiesen. Unter Umgehung sämtlicher Bauvorschriften erheben sich Giebel- und Flachdachkonstruktionen, Wintergärten und verwegene Terrassen über dem Steilufer – allesamt gebaut aus Bauabfällen der Zivilisation, alten Fenstern und Türen, Dachpfannen und Sperrmüll. Die Bauweise lässt sich am besten mit Zellteilung vergleichen, erst fängt man ganz klein an, dann kommen zwei kleine Anbauten hinzu und dann…

Auch politisch lässt sich was lernen

Ausgestattet mit Omas Hochzeitsgeschirr und verborgen hinter Hecken oder Jägerzäunen lebt es sich gänzlich ungeniert. Nicht nur architektonisch, sondern auch politisch lässt sich was lernen: Die beste Voraussetzung für eine friedliche Koexistenz mit dem Nachbarn ist ein solider Zaun.

Sehr gut gefallen hat mir auch ein multikultureller Waffenstillstand beiderseits der Wertach. Auf der einen Seite eine mit dem roten Halbmond gekennzeichnete türkische Lagerhalle, deren Hausmeister dank Hühnerhaltung auch in schweren Zeiten etwas zum Tauschen hat. Am gegenüberliegenden Ufer liegt ein griechisch beflaggtes Grundstück mit viel blau und weiß und einer Armee aus hellenistischen Gipsfiguren. Die Wertach bildet dazwischen einen sicheren Wassergraben, als sei es die Ägäis zwischen Marmaris und Rhodos. Auch ein kleines Refugium mit mehreren Dutzend Hirschgeweihen, die jeweils farbig angemalt sind, beeindruckte mich. Der Besitzer sollte seine Installation, so wie sie ist, als Leihgabe an die Münchner Pinakothek der Moderne geben, der Beifall der Kunstwelt wäre ihm sicher.

Ein Spaziergang entlang der Lokalbahn lehrt ferner: Der Mensch ist keineswegs zum Wegwerfen geboren – ganz im Gegenteil. Der intelligente Umgang mit Ressourcen, das Erhalten und Wiederverwerten, macht den Menschen Spaß. Schließlich sind wir alle gelernte Jäger und Sammler. Keine Spur von ökologischer Wut-Trauer-und-Betroffenheit. Und es kommt dabei auch noch innerer Friede und Seelenheil heraus. Die politische Botschaft daraus sollte eigentlich auch klar sein: Man muss die Menschen einfach nur machen lassen, anstatt sie mit prohibitiven Vorschriften zu malträtieren.

Wie der Hund, der vor der Metzgertür warten muss

Die Anwohner längs der Lokalbahn wissen wahrscheinlich gar nicht, dass sie mit „urban gardening” und „tiny house” inzwischen voll im Trend liegen. Spätestens wenn schicke englische Bezeichnungen auftauchen, darf der soziale Aufstieg einer Bewegung als gegeben betrachtet werden – und dann wird’s schnell teurer. Oft geht auch der Zauber verloren. Bislang galten ja Menschen, die einen Jägerzaun schön finden, eher als zurückgebliebene Zeitgenossen. Motto: Wer so wohnt, trägt auch Sandalen mit weißen Socken. In der Zeichensprache der gebildeten Stände macht es keinen Unterschied, ob jemand ein Zäunlein um sein Eigenheim zieht oder im Urlaub frühmorgens die Sonnenliege mit einem Handtuch reserviert. Beides ist verbreitet, aber für die Baerbocks und Habecks einfach nur bäh, weshalb sie das Einfamilienhaus am liebsten abschaffen würden, um gar nicht erst von schwarz errichteten Wochenend-Refugien zu reden, die den Geruch von Holzkohle, Grillanzünder, Bratwürsten und Hammelspießen verbreiten. Schon der Dreiklang „Ein-Familien-Haus“ erklärt, warum diese Wohnform verdächtig ist. „Ein“ steht für das Individuelle und das Individuum, „Familie“ für seine kleinste Organisationsform. Das Kollektiv muss draußen bleiben und ist darob beleidigt, so ähnlich wie der Hund, der vor der Metzgertür warten muss.

Als geradezu Lehrbuchbeispiel für das subversive Wesen des Häuslebesitzers, seine eigenmächtige Lösung von Gestaltungsfragen, gilt übrigens die aus 314 Reihenhäusern bestehende Bauhaus-Siedlung Törten, die der Architekt Walter Gropius in den zwanziger Jahren in Dessau erbaute. Doch die einstmals lichten, hellen Kuben wurden von ihren Bewohnern über die Jahrzehnte verändert und mit anarchischen An- und Umbauten versehen. Geranien und Spitzdächer, Klinker und Sprossenfenster, Garagen und alpenländische Holzanbauten reduzierten den Architektenentwurf sozusagen auf das menschliche Maß.

Und das scheint überall auf der Welt gleich zu sein:

Aus bestimmten Perspektiven erinnern die Hinterseiten der Häuser von Törten wahlweise an Berliner Schrebergärten, russische Datschensiedlungen oder südamerikanische Favelas. Da die Siedlung unter Denkmalschutz steht, verabschiedete die Stadt Dessau vor einiger Zeit eine Satzung, „die einen Kompromiss zwischen dem Entwurf von Walter Gropius und den Ansprüchen der Bewohner vorsieht“. Architektur-Studenten erfahren derweil bei Führungen durch das Anarcho-Bauhaus, wie weit der Weg zum neuen Menschen noch ist.

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Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen:
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Feb. 2022 | In Arbeit | Kommentieren