Ukrainischer Soldat vor einem ausgebrannten russischen Militärlaster

Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine fordert hohe Opfer auf beiden Seiten. Auf Telegram, Twitter, Youtube sind Tausende von verwackelten Videos zu sehen, selten ist ein Krieg so akribisch dokumentiert worden: Russische Kampfjets und Hubschrauber feuern auf Flughäfen, Treibstofftanks und Wohnhäuser. In der Nacht sind Truppen auf Kiew vorgerückt, darunter kampferprobte Tschetschenen. Mehr als 200 ukrainische Zivilisten sollen schon getötet worden sein. Frauen und Kinder kauern verängstigt in Metrostationen. Viele Ihrer Männer und Söhne greifen zu den Waffen, Präsident Wolodymyr Selenskyj und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko haben eilig Freiwilligenverbände aufgestellt.

 

Tagesanbruch: Deutschland zieht in den kalten Krieg. Kanzler Scholz will Deutschland massiv aufrüsten.

Kanzler Scholz will Deutschland massiv aufrüsten
Wir erleben grausame, aber auch historische Tage
Menschen harren in einem Luftschutzkeller in Kiew aus.Ukraine-Konflikt. (Quelle: Emilio Morenatti/AP/dpa)
Menschen harren in einem Luftschutzkeller in Kiew aus
Was die Bilder auch zeigen:

Putins Generäle scheinen den Widerstand der Ukrainer unterschätzt zu haben. Schon in den ersten vier Tagen des Feldzugs haben sie unbestätigten Berichten zufolge Dutzende Panzer und Hunderte Transporter verloren; schon mehr als 4.300 russische Soldaten sollen gefallen sein. Leichen liegen auf den Straßen und in Helikopterwracks. Blutjunge russische Gefangene stammeln verwirrt in ukrainische Smartphone-Kameras – angeblich haben sie von ihren Kommandeuren gesagt bekommen, sie sollten in eine „Militärübung“ ziehen.

In mehreren Städten tobt der Häuserkampf

In der Millionenmetropole Charkiw im Osten des Landes konnten ukrainische Verbände die Russen zurückschlagen. Präsident Selenskyj meldet sich immer wieder in kurzen Videos zu Wort und macht den Bürgern Mut; schon jetzt gilt er vielen als Kriegsheld. Offenkundig hat auch Putin selbst den Widerstand unterschätzt, nun lässt er seine Leute an der belarussischen Grenze mit ukrainischen Gesandten verhandeln – hat jedoch zugleich seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Das zweitgrößte Land Europas ist ein Schlachtfeld, der Verbrecher im Kreml droht mit einem Atomschlag – und der Westen starrt entgeistert auf die Tragödie.

Tagelang hat die deutsche Regierung gebraucht,
um eine klare Haltung zu finden
Tagelang hat die deutsche Regierung gebraucht,
um eine klare Haltung zu finden

Und, tagelang sperrte sie sich dagegen, Putins Regime mit wirklich harten Sanktionen zu bestrafen und der Ukraine Waffen zu liefern. Am Ende war Deutschland in der gesamten EU isoliert: Es stand 1 gegen 26. Während die Regierungschefs der baltischen Staaten und der Niederlande händeringend darum baten, endlich Kriegsgerät aus deutscher Produktion nach Kiew liefern zu dürfen, während Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki persönlich nach Berlin eilte, um Scholz ins Gewissen zu reden, warf die Bundesregierung rhetorische Nebelkerzen. Offenbar reicht der Einfluss von SPD-Chefin Saskia Eskenund SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich, die in der Partei als „Russlandversteher“ gelten, bis in den siebten Stock des Kanzleramts.

Deutschland isoliert von seinen Verbündeten in Europa: Diesen Eiertanz konnten Olaf Scholz und Annalena Baerbock nicht lange durchhalten. Am Wochenende fielen sie um. Am Samstagabend kündigte Scholz an, der Ukraine nun doch Panzerabwehrwaffen und Raketen zu liefern. Große russische Banken werden nun doch vom Swift-Systemausgeschlossen, was die Kriegswirtschaft trotz Milliardenrücklagen hart treffen kann. Auch Teile dieser Rücklagen bei europäischen Zentralbanken werden blockiert. Das bürokratische Hickhack um den Bau von zwei Terminals für amerikanisches und arabisches Flüssiggaswird endlich beendet, nun sollen die Anlagen in Brunsbüttel und Wilhelmshaven entstehen. Die russischen Propagandasender RT und Sputnik werden in der EU verboten. Und natürlich ist nicht mehr damit zu rechnen, dass die letzten drei deutschen Atomkraftwerke wie geplant zum Jahresende abgeschaltet werden.
Es ist ein ganzes Arsenal an Strafen und es sind gleich mehrere politische Kehrtwenden, mit denen Deutschland und die anderen EU-Staaten in den kalten Krieg gegen den Kreml ziehen. Die gröbste Waffe zückte der Kanzler selbst: Am Sonntag hielt er im Bundestag eine Regierungserklärung, die mit Fug und Recht als historisch bezeichnet werden kann. Olaf Scholz beantwortet die Zeitenwende des russischen Angriffskriegs, indem er zentrale Prinzipien deutscher Regierungspolitik umwirft. Statt die Bundeswehr weiter kleinzusparen, will er nun massiv ins Militär investieren: Zusätzlich zum Verteidigungshaushalt in Höhe von 50 Milliarden Euro leiht er sich noch dieses Jahr weitere 100 Milliarden Euro aus dem Staatssäckel. Deutschland will endlich leisten, was seine Partner in Osteuropa und Amerika seit Jahren verlangen: Jährlich sollen mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts in die Verteidigung fließen. „Wir werden eintreten für ein freies und gerechtes Europa. Wir werden es verteidigen“, versprach der Kanzler im Bundestag und bekam von allen Fraktionen stehenden Applaus, nur die Verfassungsfeinde von der AfD schwiegen. „Es war die beste Rede in Scholz‘ gesamter Karriere“ – „Sie verändert alles.“
Nach tagelangem Lavieren hat die Bundesregierung endlich die Kurve gekriegt. Damit kann sie vom Außenseiter in der EU wieder in eine Führungsrolle zurückfinden – und möglicherweise auch Länder außerhalb der Union mitziehen. Etwa die Schweiz, deren Regierung sich bisher geweigert hat, die Milliardenvermögen russischer Oligarchen einzufrieren. Der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis kündigte noch am Sonntag überraschend an, es sei „sehr wahrscheinlich“, dass der Bundesrat die Maßnahme schon am Montag auf einer außerordentlichen Sitzung beschließen werde. Rund 80 Prozent des russischen Rohstoffhandels läuft über Schweizer Finanzdienstleister.
Gleichzeitig ist Deutschland jetzt gefordert, eine drohende Hungerkrise zu verhindern: Bisher kommen Russland und die Ukraine für ein Drittel der weltweiten Weizenlieferungen auf, doch durch die Kämpfe sind die Exporte gefährdet. Millionen Menschen in Afrika, Asien und dem Nahen Osten dürften die Folgen zu spüren bekommen. Auch dort wird es bald Nothilfe brauchen.
 

Der Verbrecher im Kreml hat Europa in eine historische Krise gestürzt.
Tausende Menschen bezahlen diesen Wahnsinn mit ihrem Leben, Tausende werden verletzt, Orte zerstört, Unsummen für Kriegsgerät verpulvert, die an anderer Stelle dringend benötigt würden – das ist die dunkle Seite dieser Tage. Es gibt aber auch eine helle: Putin schweißt ungewollt die demokratischen Länder Europas zusammen. Endlich begreifen sie, dass sie ihre Freiheit entschlossener als bisher verteidigen müssen.

Frieden und Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif

Darüber hinaus hat Putin womöglich selbst den ersten Nagel in den Sarg für sein Regime geschlagen. „Der Putinismus ist dem Untergang geweiht, denn er ist der Feind der Freiheit, der Feind der Demokratie“, glaubt Wladimir Sorokin, Russlands bedeutendster lebender Schriftsteller. „Das haben nun alle Menschen begriffen.“ Bleibt zu hoffen, dass es wirklich so kommt.

Starkes Zeichen: Zehntausende Menschen haben gestern in Berlin gegen den russischen Angriff demonstriert. (Quelle: Jörg Carstensen/dpa)
Starkes Zeichen: Zehntausende Menschen haben gestern in Berlin gegen den russischen Angriff demonstriert

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Feb. 2022 | In Arbeit | Kommentieren