Antoine Mechler im Gepräch mit Gadamer. Foto: Gottschling

Nirgends sonst finden wir zu verborgener Wahrheit sich verarbeitender Sätze über gesprochene Sprache und Gespräch als bei ihm. Kaum eine Gelegenheit lässt er vorüber gehen, aus der Berufung der Philosophie jederzeit die entschiedensten Konsequenzen aus allem zu ziehen, die Rolle des Propheten hingegen, des Predigers oder auch nur des Besserwissers stehe ihr schlecht.
Gefragt, was ihm Rechtfertigung von Philosopie heute bedeutet, war seine Antwort, sie stärke die Urteilskraft. Etwas, um das es in unserer von gemachten Meinungen umdröhnten Welt nicht zum Besten steht.

Urteilen, für ihn war dies die Fähigkeit, ein gegebenes Besonderes so auf ein Allgemeines hin zu reflektieren, daß sich vertiefte Einsicht in beides einstellt. Dafür gibt es keine Regel. Urteilskraft als Frucht freien Denkens kann nicht gelehrt, sondern nur geweckt werden, indem man sie von Fall zu Fall übt. Am besten im Gespräch, in der Spontaneität unvorbedachten Fragens und Antwortens.
Weltsinn statt Schulsinn, der schönste Ertrag von Erfahrung, auch wenn er nicht ohne Desillusionierung zu gewinnen ist. Denn Erfahrung macht nur der, dessen Erwartung durchkreuzt, der aus dem Immergleichen von Routine und Gewohnheit herausgestoßen wird. Das Unerwartete führt zu neuer Einsicht.

Gadamers Philosophie ist eine Philosophie des Gesprächs. Wie keine zweite in der neueren Philosophiegeschichte ist sie durch und durch sokratischen Wesens. Gadamer ist darin nicht nur ein exzellenter Praktiker, sondern auch der überragende Theoretiker.

Nirgends sonst findet man so zur verborgenen Wahrheit sich verarbeitender Sätze über gesprochene Sprache und Gespräch wie bei ihm Oft haben wir von ihm gleichsam als Stoßseufzer gehört über das Mit-sich-allein-Sein dessen, der zum Schreiben verdammt ist.

 

 

„Es ist wahr, dass es etwa für mich eine fürchterliche Qual ist, schreiben zu sollen. Wo ist das Gegenüber, diese schweigende und dennoch beständig antwortende Anwesenheit des Anderen, mit dem man das Gespräch sucht, um das Gespräch mit sich selbst fortzusetzen, das man Denken nennt?“ Gespräch, für Gadamer war dies immer eine Art Gegenüberglück. Das Glück eines auf Verstehen bedachten, wechselseitig mitreißenden, denkend in die Tiefe der Sache vordringenden Miteinanders von Menschen, die nicht darauf aus sind, Recht zu haben, sondern Wahrheit und Gemeinsamkeit suchen. Gibt es denn einen gesprächsunfähigeren als den, der beweisen will, dass, was er sagt, das Wahre sein müsse? Unfähigkeit zum Gespräch ist Angst vor dem Gegenwort. Ihre modernste Form ist die Flucht ins Selberreden, weil niemand mehr zuhören will oder kann. Jener teils argumentative, teils affektive Rigorismus, der nur darauf zielt, das vom andern Gesagte mit Gegengründen stillzustellen, statt voranzubringen. Miteinander sprechen ist ein Nehmen und Geben und führt zur „Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war“.

Daran, dass Gadamer aber auch ein begnadeter Redner war, erinnern wir uns gern; 25 Jahre nach der 600 Jahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg fanden wir in unserem Archiv seine (von ihm handschriftlich redigierte) Rede zu diesem Anlass.  got

Feb. 2022 | Heidelberg, Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau, Senioren, Wissenschaft, Zeitgeschehen | Kommentieren