
Ausgerechnet von diesem Lauterbach – was für eine Fallhöhe – soll nun „Bild“ zufolge die Aussage kommen, die „Intensivstationen“ wären „nie überlastet“ gewesen. So steht es seit gestern bei bild.de. Und heute mit einem großen, alarmierend gelben „NIE“ auf der Print-Titelseite:
Der Beitrag ist nach der modernen Metrik von „Liken und Teilen“ ein voller Erfolg; der Redaktionstweet hat nach etwas mehr als einem Tag rund 1.100 Retweets und 2.500 „Gefällt mir“-Angaben eingesammelt. Und „Bild-Live-Chef“ Claus Strunz darf auch gleich noch was dazu sagen. Die Ableitungen aus der Überschrift – der Artikel steht hinter der „Bild-Plus“-Paywall – bei Facebook sind erwartbar und zahlreich.
Sie sehen so aus …
Dann wurden die Menschen getäuscht und belogen von der Politik, denn auf diesem Argument sind alle Maßnahmen und Lockdowns angeordnet und gerechtfertigt worden.
oder so …
Genau. Und jetzt wollen sie uns mit einem falschen Freedomday ruhig stellen! 3G bleibt teilweise, Masken bleiben!
Was ist das für eine Freiheit?
Uns wie wird es gerechtfertig?
Und vor allem will man sich eine Rückkehr zur Pandemie offen halten und Scholz will im Herbst eine allgemeine Impfpflicht einführen!
Das ist doch krank und nicht mehr zu fassen das alles!!!
Es ist ein absoluter Albtraum!!!
… oder auch so:
Die Bürger wurden und werden, vom Regime an dem Nasenring, durch die Manege gezogen.
Wie viele Fehler bekomme ich in 51 Zeichen?
Brennt gut, das Öl. So gut, dass auch RT (Russia Today) aufspringt und der „Bild“ nachplappert: „Lauterbach räumt ein: Intensivstationen waren nie überlastet“.
Nur: Das stimmt alles nicht. Weder hat Lauterbach das gesagt, noch hat Lauterbach das gesagt, noch stimmt das, was Lauterbach auch nie gesagt hat.
Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Natürlich waren Intensivstationen überlastet.
Das Bundesgesundheitsministerium hatte auch nichts Gegenteiliges behauptet. Und das wusste auch „Bild“, sogar exklusiv. In der Regierungsantwort des Bundesgesundheitsministerium auf eine „schriftliche Frage von Bundestags-Vize Wolfgang Kubicki (FDP), die BILD exklusiv vorliegt“, heißt es:
Eine deutschlandweite, regional gleichzeitige Überlastung aller verfügbaren ITS-Kapazitäten, die eine systemische Unterversorgung von intensivpflichtigen COVID-19-Fällen oder deren strategische Verlegung ins Ausland bedeutet hätte, trat nicht ein.
Adjektive, wer braucht die schon?
„Deutschlandweit“! „Regional gleichzeitig“! „Aller verfügbaren ITS-Kapazitäten“! Für eine Bild-Headline zu viel.
Was sagt das Bundesgesundheitsministerium zu der Schlagzeile, die „Bild“ aus diesem Satz gemacht hat? Auf Anfrage von Übermedien betont es, „grundsätzlich keine Medienberichterstattung [zu] kommentieren“. Sprecher Andreas Deffner ergänzt aber, dass seiner persönlichen Meinung nach die Überschrift nicht durch den Artikel gedeckt sei:
Auf der einen Seite beziehen sich die Aussagen auf die flächendeckende Gesamtsituation in Deutschland (einen zeitgleichen Überlastungszustand der Intensivstationen in allen Bundesländern hat es nicht gegeben), wohingegen die andere Seite der Medaille ist, dass viele PatientInnen aus einzelnen Ländern (etwa Bayern) in andere Länder (und in Einzelfällen sogar ins Ausland) verlegt werden mussten. Ohne entsprechende Schutzmaßnahmen wäre die Situation erheblich belasteter gewesen. Vielleicht hilft Ihnen diese Einordnung meinerseits weiter.
Außerdem handelt es sich bei der verkürzten, irreführenden und schlichtweg falschen Antwort keineswegs um ein Zitat Lauterbachs, sondern eine Antwort seines Ministeriums auf eine Frage Wolfgang Kubickis. Die „Bild“-Redaktion will darin keinen Unterschied sehen und teilt uns auf Anfrage mit:
Die Artikelüberschrift legt nicht nahe, dass Bundesminister Lauterbach „diese Aussage getroffen“ habe, schon gar nicht in direkter Rede. Anführungszeichen sind nicht gesetzt. Sehr wohl legt der Artikel nahe, dass die Aussage Karl Lauterbach zuzuordnen ist – und dies ist vollkommen korrekt. Denn sie kommt aus einem Schreiben aus Lauterbachs Ministerium, das Lauterbachs Staatssekretär Prof. Franke an den Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki (FDP) schickte, nachdem ein erstes Schreiben von Kubicki unbeantwortet geblieben war und dieser schlussendlich eine offizielle Anfrage gestellt hatte. Dieses Schreiben liegt BILD vor. Der Sachverhalt wird im Text explizit erläutert, er ist Ihnen bekannt. Ein Staatssekretär vertritt und spricht für seinen Minister und sein Haus; in diesem Fall das Haus von Herrn Lauterbach.
„Bild“ ignoriert dabei unter anderem die Tatsache, dass der Artikel, dessen Inhalt hinter einen Paywall steht, diesen Sachverhalt zwar deutlich macht – nicht jedoch die massenhaft kommentierte und geteilte Überschrift.
„Die Überschrift verfälscht nichts“
Wir haben „Bild“ auch gefragt, ob die Überschrift nicht fundamental die Aussage, dass es (gut dokumentierte) regionale Überlastungen von Intensivstationen gab, verfälsche – und ob „Bild“ diese Überlastung bestreite.
Die Antwort:
Nein, Sie haben ja den Text gelesen, und darin wird — erstens – das vollständige Zitat explizit wiedergegeben. Und – zweitens – wird im Artikel klar benannt, dass regional Patienten verlegt wurden und das Operationen von Patienten mit anderen Erkrankungen zeitweise verschoben werden mussten. Wie Sie wissen, werden Überschriften in sämtlichen Zeitungen (auch jenseits des Boulevards) zugespitzt und gekürzt, so auch hier. BILD hat nicht geschrieben „Alle Intensivstationen waren nie überlastet“ bzw. „Keine Intensivstation war überlastet.“ In der politischen Debatte wurde die grundsätzliche, flächendeckende Überlastung der Intensivstationen und die daraus folgende Dramatik (z.B. großflächige Triage) immer wieder als starkes Argument für die Einschränkungen von Freiheitsrechten verwendet. Dieser Zustand ist nie eingetreten, wie das Schreiben nun einräumt. Deshalb verfälscht die Überschrift nichts.
„Bild“ hat zu dem Thema und seiner eigenen Interpretation online noch einen weiteren Artikel veröffentlicht, der fast deckungsgleich heute auch in der Zeitung steht: „Die Lauterbach-Wende bei den Intensivstationen!“ Wir haben „Bild“ gefragt, worin genau diese „Wende“ bestanden haben soll:
Im Artikel ist ausführlich ein Zitat wiedergegeben: „Wir werden in wenigen Wochen (…) so hohe Fallzahlen haben, dass wir die Intensivstationen komplett überlastet haben“ (Lauterbach am 14.11.) Die Erkenntnis nun ist deutliche Wende, weil „die Intensivstationen“ eben nie „komplett überlastet“ waren. Dies ist, nebenbei bemerkt, lediglich eine von zahlreiche Wenden von Bundesminister Lauterbach.
Wolfgang Kubicki, dessen Büro auf Anfrage hin das Schreiben des Gesundheitsministeriums zugänglich gemacht hat, wurde gefragt, ob er den Inhalt des Schreibens in der „Bild“-Schlagzeile treffend abgebildet sieht. Seine Antwort:
Ich bin nicht für die Interpretation von Überschriften zuständig. Der Rahmen der Meinungs- und Pressefreiheit ist in unserem Rechtsstaat dankenswerterweise weit gesteckt.
Gezielte Desinformation?
Was bleibt, ist eine nachweislich nicht den Sachverhalt wiedergebende Überschrift, die eifrig geteilt und als Aussage Lauterbachs wahrgenommen wird. Wer eine Aussage in dieser Weise verfälscht, wie es „Bild“ getan hat, muss sich auch den harten Vorwurf der Desinformation gefallen lassen.
Ein „Twitter-User“ kommentiert die „Bild“-Chose mit zwei Zitaten von Karl Lauterbach himself. Und damit ist vielleicht auch alles gesagt:
Nachtrag, 18.2.2022: Karl Lauterbach kommentiert auf Twitter:
Der taz sagte Lauterbach: „Die Bild-Zeitung und der Springer-Verlag fahren Kampagnen gegen mich und verbreiten Unwahrheiten. Ziel ist es, die Pandemie zu verharmlosen und die Schutzmaßnahmen und diskreditieren. Dass es nie eine Überlastung im Gesundheitssystem gegeben hätte, ist zum Beispiel eine manipulative Fehldarstellung. Richtig ist: Über 70 Prozent der Intensivstationen waren zum Höhepunkt der Pandemie teilweise oder komplett überlastet. Es gab nur keine deutschlandweite Überlastung des Gesundheitssystems, also keine an allen Stellen gleichzeitig. Aber Patienten mussten von einem Bundesland ins andere verlegt werden. Wir mussten Patienten nach Italien fliegen. Operationen mussten verschoben werden.
Die Situation war dramatisch. Die Bild-Zeitung weiß das und macht daraus:
Es gab nie eine Bedrohung. Das ist eine manipulative Falschmeldung.“
Mithin und immer mal wieder: BILD-Leser wissen m e h r !