Forscher fanden gerade heraus, dass junge exzessiv soziale Medien nutzende Menschen, die , im analogen Leben Schwierigkeiten haben, die Emotionen anderer richtig wahrzunehmen und zu deuten. Liebe Forschung, jetzt mal ganz ehrlich, m i c h überrascht das jetzt nicht: Zweidimensional (Bildschirm) lässt sich nun mal leichter erfassen als dreidimensional (Wirklichkeit).
Und, am Tablet ein uncooles Konterfei zu löschen fühlt sich in der Regel umweltschonender an, als jemanden handgreiflich aus der Welt zu schaffen. Wobei der mediale Riss durch unsere Gesellschaft tief ist. Da klicken sich unsere süßen digital natives nichtsahnend durch ihre digitalen Existenzen – und sehen sich plötzlich mit Trümmern aus Fleisch und Blut konfrontiert, die sich Chefin oder Mutter nennen oder noch Schlimmeres, und sie wissen nicht: Sind die jetzt stinkig oder stolz auf uns? Oder ziehen sie uns im nächsten Moment den Stecker, oder fallen sie uns freundlich um den Hals?
Mir geht es ja im Umgang mit Emojis nicht viel anders, insofern kann ich die Nöte der Eingeborenen gut verstehen. Schwitzt oder weint das kleine Icon, frage ich mich öfter: Staunt oder schreit sein aufgerissener Mund? Wie gut, dass man mit dem Cursor nur kurz innehalten muss, bevor man draufklickt – und sofort Aufschluss erhält: „Gesicht mit Freudentränen“ steht da zur Erklärung oder „lügendes Gesicht“ oder „Gesicht ohne Mund“. Als sei die Haupt-News weniger der fehlende Mund oder die Lüge als vielmehr die Tatsache, dass es sich bei den runden Dingern tatsächlich um Gesichter handelt. Punkt, Punkt, Komma, Strich, fast wie im echten Leben, nur gelber. Und lustiger. Und ein für alle Mal geklärt.
Die Emotionen anderer richtig wahrzunehmen und einzuordnen kann allerdings auch für analogue natives recht anspruchsvoll sein. Letzte Woche etwa will ich mein Fahrrad in den Keller bringen; die Kellertür, die mühselig zu betätigen ist, weil sie klemmt, steht offen, davor ein mir flüchtig bekanntes Ehepaar, seinerseits mit Rädern. Er kramt nach seinem Schlüssel, sie hievt Einkäufe vom Gepäckträger, und da die Tür offen steht, wie gesagt, hüpfe ich kurzentschlossen zwischen den Ehe-Rädern hindurch in den Keller, artig „Guten Tag!“ sagend und „Danke schön!“. Ich bin kaum auf dem Treppenabsatz angelangt, da brüllt es mir „Frechheit siegt!!“ hinterher, in einer Lautstärke, die den Putz an den Kellerwänden wackeln lässt.
Was habe ich falsch gemacht?
Oder, wieder das Fahrrad: Ich rolle auf eine Ampel zu, die entgegen meiner Ampelphasenkalkulation im letzten Moment doch auf Rot springt, sodass ich mit dem Vorderreifen, ohne einen anderen Verkehrsteilnehmer zu behindern, sacht jenseits der Haltelinie zu stehen komme. Lässt ein Autofahrer neben mir die Scheibe runter, beugt sich vor und zeigt mir einen Vogel. Ach was, sieben Vögel, mit beiden Händen. In seinen Mundwinkeln kräuselt sich der Schaum.
Wieder bin ich ratlos
Unterschätze ich die Grundaggressivität im Straßenverkehr? Die schönste Geschichte dieser Art aber spielt kürzlich frühmorgens im Zug: mittelleerer ICE, ich habe einen Vierersitz mit Tisch für mich und ziehe nach einer Weile die Stiefel aus, um meine Füße auf den gegenüberliegenden Sitz zu legen. Dank übereinandergeschlagener Beine wird dieser nun von einer Ferse berührt. Dann desinfiziere ich mir meine Hände, das habe ich mir in Öffis so angewöhnt.
Oder: „Muss das sein?“, fragt der jugendliche Typ auf der anderen Seite des Ganges mit einem Mal. „Sie desinfizieren Ihre Hände und legen die Füße auf einen fremden Sitz: Finden Sie das hygienisch?“ Ich überlege kurz, ob ich ihm meine Corona-App unter die Nase halten soll, Footprint (gewaschen, desinfiziert) und Stockingprint (gewaschen, desinfiziert) inklusive, beide tagesaktuell, verzichte aber aus Datenschutzgründen darauf und entscheide mich für eine wohlerprobte Live-Lektion in Sachen Toleranzschwelle bei geringfügigen Regelverstößen. Nach einem Schluck Sagrotan („Kamille & Lotus“) entledige ich mich meiner Kniestrümpfe, suche das Bord-WC auf, wasche dort meine Füße, trockne diese, zurück am Platz, sorgfältig ab, auch zwischen den Zehen, nehme einen weiteren Schluck Kamille & Lotus, schütte mir den Rest über den Kopf, schlüpfe in eine Ganzkörper-FFP2-Maske und kauere mich in Embryohaltung erwartungsfroh auf den Tisch.
„Wenn Sie jetzt glauben, ich würde Sie für Ihre miserable Kinderstube und Ihr albernes, antiabendländisches, hygienisch unterentwickeltes Benehmen loben, dann haben Sie sich geschnitten“, murmelt Madame, ohne von ihrem Tablet aufzuschauen, „und zwar kräftig. „
Vielleicht, so dämmert es mir, werden Emotionen auch einfach überschätzt. Vielleicht sollten wir zu unserer gigantischen grassierenden Ratlosigkeit voreinander eben einfach nur mal stehen.