Erst wenn es dunkel wird, zeigt die Welt sich so, wie sie wirklich ist. Denn Nachts wird ihre Rückseite sichtbar:
Nach Sonnenuntergang beginnt die Welt geheimnisvoll zu glimmern. Was bei Tageslicht verborgen blieb, kommt nun zum Vorschein. Dazu zählt sogar die Unendlichkeit. An den Türen zu den eingezäunten Friedhöfen und zu den alten Kirchen der amerikanischen Ostküste liest man oft den Hinweis: «Closed from dusk to dawn». Man soll sie also zwischen der Abenddämmerung und der Morgendämmerung nicht betreten. Gewiss aus Sicherheitsgründen zur Vermeidung von Fehltritten und Unfällen, vermutlich aber auch, weil die Zeit vom Eindunkeln bis zum Morgenlicht als eine der Besinnung und der Ruhe prädestiniert zu sein scheint.
Die Zeit des Eindunkelns hat nachdenkliche Menschen immer schon in rätselhafter Weise fasziniert. Das Verschwinden der äusseren Sichtbarkeit der Dinge ist seit der Antike ein Drehmoment zu Überlegungen, die andere Formen des «Sehens» freisetzen.
Jean Paul hat dies einmal so formuliert:
«Es gibt Augenblicke, wo die beiden Welten, die irdische und die geistige, nahe aneinander vorüberstreifen und wo Erdentag und Himmelsnacht sich in Dämmerung berühren.» Diese Übergangszeit vom Tageslicht in dunkle Nacht hat Poeten und Philosophen, Theologen und Mystiker herausgefordert, unbegangene Wege in der Erforschung des «Unsichtbaren» einzuschlagen.
Der Flug der Eule
Vom Philosophen Hegel kennt man den aus den «Grundlinien der Philosophie des Rechts» (1820) stammenden Satz: «Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.» Minerva war die römische Version der griechischen Athene, die (neben der Kriegsführung) auch als die Göttin der Weisheit und die Behüterin des Wissens galt.
Philosophen aller Nationen haben sich redlich Mühe gegeben, diese schöne Metapher Hegels zu deuten. Kommt die Philosophie zu spät oder zu früh, um für Menschen die Rätsel ihres Daseins zu klären? Dichter und Schriftsteller haben sich mehr dafür interessiert, wie und warum dämmerungsaktive Wesen die Dunkelheit vorteilhaft zu nutzen vermögen. War nicht auch aus abnehmender Sichtbarkeit ein ästhetischer Gewinn zu erzielen?
Als Sinnenwesen und als denkende Wesen kennen wir die Vorzüge des Vernebelns und Verhüllens. Wir sind selber geübt im Verhehlen und Verheimlichen. Wir tarnen, verdecken, überschatten, schirmen ab, wo nicht gesehen und nicht erkannt werden soll. Dunkelheit kommt uns letztlich sehr zustatten. Am helllen Tag ist nicht gut Munkeln, im Dunkeln schon!
Licht aus der Dunkelheit
Selbst unsere Augen haben ein Bedürfnis nach Dunkelheit. Wie doch die Welt erst nach Sonnenuntergang zu Schimmern und geheimnisvoll zu Glimmern beginnt. Was haben wir in der Malerei völlig neu entdecken können, als Rembrandt uns vormachte, wie man Licht und Farbe erst aus Nacht und Dunkelheit entstehen lassen und herauszaubern muss, damit unsere Augen vor Glück und Verwunderung geradezu übergehen.
Die Epoche einer Neubewertung der Dunkelheit als eines Schatzes sinnlicher und geistiger Erfahrungen war die Romantik. An ihrem Anfang entdeckt Novalis in seinen «Hymnen an die Nacht» (1800) das Geheimnis der Dunkelheit: «Himmlischer als jene blitzenden Sterne dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet.» Damit betritt man das Reich der Mystik, das die Realität des Diesseits nicht mehr abgrenzt von der Wahrnehmung des Jenseits.
Das Endliche und das Unendliche berühren einander, ausgehend von der Erfahrung nächtlicher Dunkelheit. Dabei sind es besonders die Momente des Übergangs zwischen Tag und Nacht und zwischen Nacht und Tag, die wichtig sind. Die romanischen Sprachen kennen für die in den deutschen Wörtern «Dämmerung» und «Zwielicht» diffus bleibende Bedeutung, ob sie jeweils für den Abend oder für den Morgen gilt, Begriffe wie «crépuscule» oder «aube».
Zugang zum Unendlichen
Dem lateinischen «crepusculum» liegt offenbar das Wort «creper» zugrunde, das so viel wie «verdunkelt», «verschattet» bedeutet haben soll, ein Synonym auch für «obskur». Französisch «crépuscule» und italienisch «crepùscolo» meinen jene besonderen Lichteffekte am Himmel, die uns nach Sonnenuntergang einen Farbenzauber im Wolkenhimmel in einer zunehmend sich verdunkelnden Welt bescheren.
In unserer Wahrnehmung bleiben diese Momente oft
als ein Einlasstor für die Melancholie haften
In Italien formierte sich nach 1900 eine literarische Bewegung, die sich «Crepuscolarismo» nannte. Dieser Gruppe von Dichtern lag daran, einem an Heroen orientierten Ästhetizismus, der sich in futuristischen und frühfaschistischen Eindeutigkeiten manifestierte, etwas entgegenzusetzen, was die Dämmerung, das Opake, das Diffuse feierte und sich dem Phänomen vergehender, ausgeschöpfter, ja sterbender Schönheit widmete.
In Frankreich wurde das Fanal für ein spezielles Interesse an einer Ästhetik der Dämmerung bereits viel früher vernommen. Victor Hugos Gedichtsammlung aus dem Jahr 1835 trug den Titel: «Les Chants du Crépuscule». Diese «Gesänge der Dämmerung» waren das poetische Credo des Dichters, in dem er die Poesie als Vermittlerin zwischen Hell und Dunkel inthronisierte. Hugo sucht über eine neu zu erkundende Beziehung zur Natur und zu den in ihr verwahrten Geheimnissen einen Zugang zum Unendlichen und Jenseitigen.
Auf dunklen Flügeln
Man kann das Gedicht mit dem Titel «Crépuscule» aber auch als Dialog zwischen Lebenden und Toten lesen, in dem die Toten die noch im Diesseits Weilenden auffordern, vor allem die Liebe zu leben und zu erleben: «Aimez, vous qui vivez!» Von dunklen Wäldern ist die Rede, durch die liebende Paare streifen, von Lichtungen mit Teichen, deren Wasseroberfläche im kalten Wind erzittert, und von einem Friedhof, auf dem Pflanzen erwachen und zu schlafenden Gräbern sprechen.
Man soll vor allem, ohne Liebe erfahren zu haben, nicht zu den Toten ins Grab steigen! Denn durch den Wind der Abenddämmerung schwebt nach Hugo ein traumbefangener Engel, der auf seinen dunklen Flügeln die mit den Gebeten der Toten vermischten Küsse der Lebenden davonträgt. Die Dämmerung ist für diesen Dichter die Zeit der kühnsten Visionen. Er selber litt schwer darunter, dass einige seiner Kinder das Reich der Toten vor ihm betreten mussten.
Verwunderlich ist es nicht, dass auch die grossen auf Victor Hugo folgenden Dichter «Crépuscule-Gedichte» schrieben. Etwa die, welche Baudelaire in seine «Les fleurs du mal» 1857 und wiederum 1861 an veränderter Stelle aufnahm. Sie heissen «Le Crépuscule du soir» und «Le Crépuscule du matin», was bedeutet, dass er das poetisch überstrapazierte Wort «aube» für die Morgendämmerung vermeiden wollte und lieber das zwielichtigere «crépuscule» einsetzte.
Böse Dämonen
«Die Abenddämmerung» schildert, wie die Bewohner der Stadt den Abend («le soir charmant») in der Stadt herbeisehnen, der die Gelehrten und die Tagelöhner für die Anstrengungen ihrer Arbeit belohnen sollte. Doch am Abend erwachen in Paris auch die bösen Dämonen, die im Zwielicht ihr Unwesen treiben: Huren und Gauner, Diebe und Betrüger. Die Dunkelheit vermehrt die Schmerzen der Kranken und Leidenden. Derer vor allem, die weder den häuslichen Frieden noch die Gegenwart einer sie liebenden Seele kennengelernt haben.
Die «Morgendämmerung» – das letzte Gedicht der «Pariser Bilder» – schildert das Erwachen der Stadt für jene Menschen, die weder ausgeruht noch freudig sich an die Arbeit machen. Im Nebelmeer der Häuser vernimmt der Dichter das letzte Röcheln von Sterbenden in den Spitälern. Friedhelm Kemp hat die letzten Verse des Gedichts so in deutsche Prosa übertragen: «Fröstelnd in ihrem rosigen und grünen Kleid stieg langsam die Morgenröte über der leeren Seine auf, das mürrische Paris rieb sich die Augen aus und griff nach seinem Werkzeug wie ein alter Arbeitsmann.»
In Baudelaires Sicht ist der Hauch von Dämmerung
der tödlich harten Realität der Grossstadt gewichen
Im dunklen Getriebe der modernen Stadt ist die Dämmerung kein Fenster ins Unendliche mehr, sondern der Zustand, in dem die Menschen sich bewusst werden, dass jeder neue Tag nur das alte Elend fortführt. Baudelaires «Dämmerungen» sind kleine Atem- und Denkpausen für das Eingeständnis, dass das Leben ein falsches und verkommenes ist, dem man durch keine Art von Erholung in dunkler Nacht entkommen kann.
Von der Unendlichkeit
In Italien hat es freilich bereits vor Hugo und Baudelaire einen Dichter gegeben, der gerade im Naturerlebnis das Fenster zum Unendlichen um jeden Preis offen zu halten versuchte: Giacomo Leopardi, der in seinem 1819 entstandenen Gedicht «L’infinito – Das Unendliche» versucht hat, die Aufgabe des Dichters in der Andeutung eines Zugangs zu etwas nicht Messbarem und nicht Klärbarem in unserer Sehnsucht zu sehen.
In der Übertragung von Leopardis «Canti» ist das so formuliert:
«Lieb war mir stets hier der verlassne Hügel
Und diese Hecke, die vom fernsten Umkreis
So viel vor meinem Blick verborgen hält.
Doch hinter ihr – wenn ich so sitze, schaue,
endlose Weiten formt sich dort mein Denken,
ein Schweigen, wie es Menschen nicht vermögen,
und tiefste Ruhe; da beschleicht die Seele
ein leises Graun. Und wenn des Windes Rauschen
durch diese Bäume geht, halt ich die Stimme
dem Schweigen, dem unendlichen, entgegen,
ihm zum Vergleich: des Ewigen gedenk ich,
der toten Jahreszeiten und der einen,
die heute lebt und tönt. Und so versinken
im Unermesslichen mir die Gedanken,
und Schiffbruch ist mir süss in diesem Meere.»
Die Schlusszeile in der Originalsprache lautet: «e il naufragar m’è dolce in questo mare». Sie wurde bald zum poetischen Passwort für die aus der Einfühlung in die Natur erwachsende Zutrittsberechtigung zum Unendlichen. Hier ist zwar nicht von Dämmerung die Rede, doch dass es in unserem Bewusstsein «dämmern» und dieses willkommenen Schiffbruch erleiden könnte bei der Vorstellung des Unendlichen und des Unermesslichen, ist ein Gedanke, der uns heute – ob klassisch, romantisch oder modern gedeutet – immer noch hilfreich sein dürfte in der kontinuierlichen Erfahrung unserer unaufhebbaren Endlichkeit.