[1]Über jeden Zweifel erhaben: So geben sich hier „Querlinge“
Zwei Soziologen haben sich – „die wir uns erlauben, Querlinge“ zu nennen – die „Querdenken“-Bewegung in Baden-Württemberg genauer angesehen. Es ist ein erster Blick darauf, wie sie tickt, wer Teil davon ist und was sie von Protesten in Ostdeutschland unterscheidet.
Die Soziologin Nadine Frei und ihr Kollege Oliver Nachtwey haben im Auftrag der grünen Heinrich-Böll-Stiftung untersucht, was die »Querdenken«-Bewegung in Baden-Württemberg auszeichnet, und warum sie dort so stark verwurzelt ist. Ihre Erkenntnisse:
Kritik um der Kritik willen
Die Querlings-Anhänger inszenieren sich als Eingeweihte, „fast schon als Erwählte“, die an ihrer vermeintlichen Expertise festhalten, auch wenn sie auf Widerstand und Stigmatisierung treffen. Sie glauben, über ein „höheres Wissen, über die Wahrheit der wirklichen Beweggründe“ der Coronamaßnahmen zu verfügen.
- Die Teilnehmenden haben ein libertäres Freiheitsverständnis, in dem Individualität über allem steht. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung werden »nahezu absolut gesetzt«. Gegen jede Einschränkung ihrer individuellen Freiheit leisten sie Widerstand, nur Regeln, die sie sich selbst setzen, sehen sie als legitim an.
- In der Welt der „Querdenker“ dient die Kritik an den Coronamaßnahmen keinem Zweck, sie ist Selbstzweck. Die Kritik bezieht sich nicht auf einzelne Pandemiemaßnahmen, sondern genügt sich selbst.
- Die Bewegung rekrutiert sich in Baden-Württemberg vor allem aus zwei Milieus: dem Alternativmilieu und dem anthroposophischen. In beiden Milieus sind Ganzheitlichkeit, Individualität, Selbstbestimmung und Naturverbundenheit starke Bezugspunkte. Von Werten wie Solidarität und Gleichheit, die vor allem im linksalternativen Milieu eine Rolle spielen, ist bei den Querlingen nichts mehr übrig. Deutlich weniger Unterstützer kommen dagegen aus dem bürgerlichen oder dem christlich-evangelikalen Milieu, das ebenfalls in Baden-Württemberg stark verankert ist.
- Die Bewegung kommt in Baden-Württemberg – so die Autoren – eher von links, bewege sich aber nach rechts. Viele der Befragten gaben an, bei der Bundestagswahl 2017 die Grünen gewählt zu haben. 2021 wählten viele dagegen gar nicht, wechselten zur AfD oder wählten Kleinstparteien, wie die ebenfalls aus dem „Querlings“-Milieu entstandene Partei »dieBasis«. „Die Linke“ sei für diese Menschen nicht wählbar, weil sie – wie die Grünen – zum „Establishment“ gehöre.
- Die Anhängerschaft unterscheidet sich – so die Studie von der Protestbewegung im Osten Deutschlands, vor allem in Sachsen. Diese sei stärker von der extremen Rechten getragen und weise viel weniger anthroposophische und esoterische Züge auf.
Keine besonders große Datengrundlage
Die Studienergebnisse sind nicht repräsentativ. Und sie haben auch keinen abschließenden Charakter. Es seien Thesen entwickelt worden, die weiterer Forschung bedürften. Denn die Datengrundlage ist nicht besonders groß: Frei und Nachtwey führten Interviews mit acht Anhängern der Bewegung in Baden-Württemberg. Zudem hatten sie bereits für eine Voruntersuchung 20 Interviews mit Anhängern der Bewegung geführt. Und sie besuchten drei „Querlings“-Demonstrationen.
Darüber hinaus sprachen sie mit 17 »Feldexperten«, wie etwa Anhängern des Aktionsbündnisses S21, die gegen den Ausbau des Stuttgarter Bahnhofs protestiert haben. Auch Geschäftsführende einer Waldorfschule und einer anthroposophischen Klinik waren Teil dieser »Feldexperten«.
Der Studienautor Nachtwey hatte bereits 2020 begonnen, die Corona-Proteste soziologisch zu untersuchten: Er lancierte eine Umfrage in Telegram-Gruppen, an der 1152 Personen teilnahmen. Bereits damals zeichneten sich ähnliche Erkenntnisse ab [2]. Die »Querdenken«-Bewegung wird inzwischen vom Verfassungsschutz beobachtet – recht so für diesmal. … [3]
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