Wer  ausschließlich Ungeimpften die Schuld an der vierten Welle gibt, macht es sich zu leicht. Stattdessen sollten die wahren Verantwortlichen Rechenschaft abzulegen gezwungen werden. Deutschland erlebt die vierte Welle. Das Entsetzen darüber ist fast so groß wie im März 2020. Nach 21 Monaten Pandemie tun die Entscheidungsträger so, als seien sie erneut überrascht worden, dabei gibt es nicht einmal eine neue Virusvariante.  Schuld an der misslichen Lage sollen die ominösen 24 Prozent „Impfgegner“ sein, über die nicht einmal präzise Daten zur Verfügung stehen. Bürger gehen aufeinander los, statt die Regierenden zur Rechenschaft zu ziehen, die – insofern, als sie nichts getan haben – verantwortungslos gehandelt haben.

Man kennt das Phänomen von der Klimakrise: Die teuren Unterlassungen eines politischen Apparats, der auf Trägheit setzt. Diese vierte Welle ist kein Naturphänomen, sie ist das Ergebnis von Unterlassungssünden der Regierenden. Die Coronadebatte fokussiert sich derzeit leider vorwiegend auf die mutmaßliche geistige Anatomie der Ungeimpften.

Dabei gibt es bei uns nur etwa 10 Prozent weniger Geimpfte als in vergleichbaren Ländern. Auch aufgrund der späten Stiko-Empfehlung hinken wir bei den Jüngsten hinterher. Leider sind diese 10 Prozent entscheidend für die Kontrolle über die Ausbreitung. Nun beugt man sich über „die Ungeimpften“, als wären sie Kaspar Hauser, statt die Verantwortungsträger zu fragen: „An welcher Stelle ist eure Impfkampagne gescheitert?“

Wenn wir aus dieser Krise herauswollen, sollten wir sie als Führungskrise erkennen und den Fokus der Analysen zurück auf die Verantwortungsträger lenken. So wie die Bundesregierung mit Projektträgern umgeht, die staatliche Förderung erhalten, muss mit dieser Bundesregierung verfahren werden. Jedes kleinste Sozialprojekt muss heute Projektziele definieren, Maßnahmen beschreiben und überprüfbare Meilensteine benennen.

Späte Booster-Kampagne·

Die Rechnungsprüfungsämter prüfen auch in Coronazeiten kleine Sozialprojekte. Wer aber prüft mit derselben Präzision die Ziele und Meilensteine der Bundesregierung? Was sich derzeit an kruden Verallgemeinerungen über die „Impfgegner“ ergießt, ist kontraproduktiv. Texte, die von einer irgendwie gearteten deutschsprachigen Seele erzählen, die angeblich wissenschaftsfeindlicher sei als jede andere Nationalseele, sind mindestens so realitätsfern wie die Milieus, die sie zu beschreiben meinen.

In Großbritannien etwa fing Ende September die Booster-Kampagne an. 22,4 Prozent haben inzwischen die dritte Spritze erhalten, geordnet wurde nach Vulnerabilität. In Deutschland sind es nur knapp 5 Prozent. Im gleichen Zeitraum wurden in Deutschland Impfzentren geschlossen! Welche Botschaft senden die Verantwortlichen an die Bevölkerung, wenn sie Impfzentren schließen? Ein unklares „Geht bitte impfen, während wir die Zentren schließen!“ Doppelbotschaften in diesem Pandemiemanagement – wohin man auch sieht.

Die vierte Welle rollt nicht etwa, weil in Deutschland in der Summe mehr Bürger  Impfgegner wären als andernorts. Sie rollt, weil die Verantwortungsträger keine Strategie hatten, jene kritischen 10 Prozent mehr zum Impfen zu bewegen, die es für einen entspannten Herbst gebraucht hätte. So banal ist das Drama dieses Herbstes. Bis Oktober sprach kaum mehr jemand über die Impfkampagne.

Im September gab es zur ­Hauptsendezeit ein langweiliges TV-Kanzler­kan­di­da­ten-­For­mat nach dem anderen. Übernimmt irgendjemand Verantwortung für dieses Versäumnis?

Jens Spahn wird jetzt  abdanken
ohne sich für seine Untätigkeit rechtfertigen zu müssen.

So wie andere sich aus der Politik verabschieden und die Konsequenzen ihrer Politik in Sachen Klimakrise den Nachfolgenden überlassen.

Diese vierte Welle ist kein Naturphänomen, sie ist das Ergebnis von Unterlassungs­sünden der Regierenden!

Eine politische Kultur, in der Diskurse ohne die Verantwortungsfrage geführt werden, verliert ihre Glaubwürdigkeit. Verantwortliche müssen klare Ziele formulieren, an denen sie sich messen lassen. Sie müssen Fehler eingestehen und eine Aufarbeitung ermöglichen. Und, sie müssen zurücktreten, wenn das Vertrauen verspielt ist. Medienvertreter, die Politikern das Mikro vor die Nase halten, um schlaffe Impfaufrufe zu verkünden und Ungeimpfte zu schelten, tragen dazu bei, dass Regierungsverantwortung an Bürger outgesourct wird.

Verantwortung wurde und wird outgesourct

Alle wissen jetzt, wie quer Querdenker denken. Es sind aber nicht 24 Prozent der Bundesbürger Querlinge! Hinter der Zahl steckt ein politisches Scheitern. Es braucht jetzt Journalisten, die über den deutschen Tellerrand hinausblicken und Grundrechte schützen. Die meisten hier bewerten das Ende der Pandemienotlage kritisch, dabei sieht man etwa in Spanien, wie – und dass – es geht: Im Juni wurde dort die Notlage beendet, weil eine Notlage, die 21 Monate lang dauert, ein Missmanagement wäre.

In Spanien lag die Impfquote bei ca. 60 Prozent, als die Notlage beendet wurde. Eine vierte und fünfte Welle folgten, die vor allem junge Menschen traf. Trotz der traumatischen ersten Welle blieb man in Spanien ruhig und der spanische Alltag gestaltet sich bis heute weitgehenden barrierefrei, auch aus Gründen des Datenschutzes. Cafés und Restaurants gelten als öffentliche Räume, zu denen jedem Bürger freier Zugang ermöglicht werden muss – ohne Covidpässe.

In Deutschland hingegen tun viele so, als seien die Alltagsbarrieren zwingend; dabei sind sie ein Symptom der Unfähigkeit, die sich hinter immer neuen bürokratischen Erlassen versteckt. Das Durcheinander in der Debatte erzeugt bei vielen Ängste. Selbst Geimpfte haben wieder (Grund zur) Angst. Die Verantwortungsträger sollten endlich ihre Fürsorgepflicht wahrnehmen und erfüllen. In diesem Herbst werden wieder Kinder und Jugendliche in Depressionen versinken, die vermeidbar gewesen wären.

Es ist herzzerreißend zuzusehen, wie immer mehr Milieus aufeinander losgehen. Repräsentative Demokratie heißt auch, dass die Verantwortlichen Verantwortung für Unterlassungen übernehmen müssen.

Die Einschränkung von Grundrechten
ist kein Joker für Missmanagement,
an dem keiner schuld zu haben bereit sein will.

Nov. 2021 | Heidelberg, Allgemein, Essay, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | 1 Kommentar