Wie schwer die vierte Welle wird, ist im Moment nicht abzusehen, aber sicher ist: Nach der Welle ist vor der Welle, Impfungen hin oder her. Sars-CoV-2 wird nicht wieder verschwinden. Damit aber fangen die wirklich spannenden Fragen erst an. Endemisch bedeutet nämlich keinesfalls, dass wir Sars-CoV-2 demnächst ignorieren können. Dass das Pandemievirus endemisch wird, sagt uns wenig darüber, wie die Zukunft mit Sars-CoV-2 tatsächlich aussehen wird. Bis ein langfristig stabiler endemischer Zustand erreicht ist, kann es auch noch eine Weile dauern – und durchaus turbulent werden, wie wir an den Fallzahlen gerade sehen.

 

Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in Deutschland, und weltweit ohnehin, ist nach wie vor ungeimpft und hatte keinen Kontakt mit dem Virus. In dieser Gruppe bleibt die pandemische Dynamik natürlich noch eine Weile erhalten.[1] Deswegen gibt es kein schnelles Ende der Pandemie, sondern ein langes Herantasten an eine neue Corona-Normalität.

Und es ist auch nicht klar, wo wir sind, wenn wir die erreicht haben. Wie sich Sars-CoV-2 als endemisches Virus langfristig benimmt, lässt sich nicht mit Hilfe von ein paar Parametern einfach im Computer simulieren. Auch endemische Viren können überraschende und schwer vorherzusehende Dynamik entfalten, deren Ursache deterministisches Chaos ist. Bei Hepatitis B zum Beispiel gibt es stabile Zustände mit einerseits hohen, andererseits niedrigen Inzidenzen, zwischen denen das Virus abrupt wechselt.

Auch manche endemische Atemwegsinfektionen zeigen deterministisches Chaos; dort erzeugt der Effekt im jährlichen Wechsel milde und schwere Wellen. Am besten beschrieben ist dieser Effekt für das Respiratorische Syncytial-Virus (RSV), aber Studien zeigen den zweijährige Rhythmus tatsächlich auch bei saisonalen Coronaviren – zum Beispiel deuten Daten aus Japan beim “Erkältungsvirus” hCoV-HKU1 darauf hin.[2]

Viren sind auch endemisch noch unberechenbar

Bei Coronaviren kann die Häufigkeit deswegen im Laufe der Zeit und zwischen unterschiedlichen Orten sehr stark schwanken, oft auf unvorhersehbare und überraschende Weise. Dass Sars-CoV-2 endemisch wird, kann also bedeuten, dass jedes Jahr hunderttausende oder wenige hundert Menschen erkranken. Sicher ist aber, dass man dieses Virus auf Jahre hinaus beobachten und auch bekämpfen muss, möglicherweise sogar für immer.

Wie viel Aufwand die Bekämpfung letztendlich erfordert, hängt davon ab, wie viele Menschen nach einer Infektion erkranken oder sterben, und umgekehrt, welchen Anteil an Betroffenen die Gesellschaft akzeptiert. Wenn relativ wenige Leute schwer erkranken, weil das Virus sich entweder nur wenig ausbreitet oder aber nur selten schwere Erkrankungen verursacht, kann man so ein Virus im Wesentlichen ignorieren.

Ein Beispiel:

Wir bekämpfen die regelmäßigen Erkältungswellen durch Coronaviren und andere Schnupfenerreger kaum, denn die Krankheiten verlaufen fast immer mild, und die volkswirtschaftlichen Kosten durch Krankheitstage und Arztbesuche sind daher vergleichsweise mäßig bis gering. Bei einer Grippe ist das anders, da Influenza oft ernste Erkrankungen verursacht und Tausende tötet. Obgleich normalerweise jährlich eine Grippewelle auftritt, gibt es auch bei Influenzaviren einige verschiedene Subtypen und Varianten, gegen die kaum Immunität in der Bevölkerung besteht und die dadurch überdurchschnittlich schwere Grippewellen verursachen. Deswegen wird dieses Virus sorgfältig überwacht und Teile der Bevölkerung werden jedes Jahr geimpft.

Ob dies auch bei Covid-19 so sein wird, ist bislang noch ziemlich offen. Vielleicht läuft es ähnlich ab wie bei der Grippe und es wird für bestimmte Bevölkerungsgruppen regelmäßig aktualisierte Auffrischungsimpfungen gegen die gerade kursierenden Varianten geben. Argumente dafür sind die nach wie vor recht hohe Sterblichkeit innerhalb der Risikogruppen und natürlich der Umstand, dass sich haufenweise Leute gerade ohnehin bereits einen solchen Booster holen oder erhalten haben.

Das Erkältungs-Szenario

Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen Sars-CoV-2 und Grippeviren, welcher möglicherweise für ein anderes Szenario spricht. Influenzaviren nämlich sind viel variabler, es können ganze Oberflächenproteine durch andere ersetzt werden, ein sogenannter Antigen-Shift. Der kommt zustande, weil das Erbgut der Influenza nicht in einem Stück vorliegt, sondern in mehreren Segmenten, die die Viren untereinander tauschen können. Deswegen hat man da nicht nur einen ganzen Schwarm immunologisch sehr unterschiedlicher Viren, sondern auch große Unterschiede von Saison zu Saison. Coronaviren dagegen können keinen Antigen-Shift durchlaufen, es verändert sich also nur sehr viel weniger und nur Stück für Stück.

Deshalb ist die Grippe möglicherweise nicht das beste Vorbild für die Zukunft dieses Pandemievirus und seiner Bekämpfung. Viele Fachleute gehen davon aus, dass Sars-CoV-2 langfristig eher den anderen endemischen Coronaviren ähneln wird. Gegen diese muss man sich nicht regelmäßig erneut impfen. Die meisten Infizierten sind maximal vier Jahre alt und bekommen den klassischen Kita-Schnupfen. Deswegen haben alle Erwachsenen bereits Infektionen mit mehreren oder allen diesen Viren durchgemacht und dadurch eine gewisse Grundimmunität.

Die wird zwar wohl nicht verhindern, dass man sich über die Jahre immer und immer wieder mit Sars-Cov-2 infiziert, die Reinfektionen werden aber wohl mild verlaufen – wie das den klassischen Erkältungsviren auch der Fall ist. Hintergrund ist die nachlassende natürliche Immunität zusammen mit der langsamen Veränderung der Oberflächenproteine des Virus. Solche Reinfektionen werden um so wahrscheinlicher, je länger die letzte Infektion zurück liegt, aber der Schutz vor schweren Erkrankungen hält vermutlich sehr viel länger – und zwar auch dank der Reinfektionen.

SARS-CoV2 ist nun ja ein völlig neuer Vertreter aus der Familie der Coronaviren, tatsächlich ist aber zumindest plausibel, dass die “harmlosen” Coronaviren einst auch Pandemieviren waren. Harmlos wurden sie laut dieser Vermutung erst durch das Muster aus erster Infektion in der Kindheit plus durch regelmäßige Reinfektionen “aufgefrischten” Schutz vor schweren Verläufen. Das ist das optimistische Szenario: Covid-19 wird auf diesem Weg zu einer weiteren Erkältung.

Wird man langfristig gegen Covid-19 impfen?

Bis SARS-CoV2 ein reines Erkältungsvirus geworden ist, wird es noch eine ganze Weile dauern. Bis dahin müsste man möglichst viel systematisch impfen. Denn für Erwachsene ohne vorherige Immunität wird Covid-19 noch lange Zeit recht gefährlich sein. Erst wenn alle Erwachsenen und Jugendlichen mit Virus oder Impfung in Kontakt waren, hätte man diesen endemischen “Erkältungszustand” erreichen.

Der Knackpunkt dabei ist natürlich, wie harmlos Covid-19 bei Kindern wirklich verläuft. Genauer gesagt, ob die Zahl an schweren Verläufen und potentielle Langzeitfolgen so niedrig sind, dass man sie hinnehmen würde. Das muss tatsächlich gar nicht so niedrig sein, wenn man sich andere Krankheiten anguckt. Einige der “akzeptierten” Atemwegserreger hauen auch bei Kindern ganz schön rein, zum Beispiel RSV oder Grippe. Und die Erkältungs-Coronaviren können immer wieder mal tödliche Ausbrüche zum Beispiel in Pflegeheimen verursachen.

Insofern ist also einerseits möglich, dass man hohe Raten von Covid-19 bei Kindern in Zukunft akzeptiert, weil Covid-19 sich endemisch da nicht groß von klassischen Erkältungen unterscheidet. Allerdings gibt es auch weniger optimistische Szenarien. Eine weniger schöne Möglichkeit ist, dass Covid-19 trotz Teilimmunität auch langfristig so gefährlich ist wie die Grippe, die jedes Jahr tausende Menschen tötet. Oder aber die Immunität aus der Kindheit hält zwar, aber die Folgen der Krankheit erweisen sich bei Kindern als so schwerwiegend, dass die Gesellschaft die Infektion nicht einfach hinnehmen kann.

In solchen Szenarien würde man eine Vakzine gegen Sars-CoV-2 zu einem Bestandteil der routinemäßigen Impfungen bei Kindern machen und vermutlich auch regelmäßig Risikogruppen impfen. Womöglich schaut man angesichts der neuen Impfstofftechnologien dann auch bei anderen Atemwegserregern noch mal genauer hin, ob eine Impfung hier ebenfalls eine sinnvolle Option sein könnte.

Welche Rolle spielen die Varianten

Die Parallelen zu den saisonalen Atemwegsviren legen natürlich nahe, dass Sars-CoV-2 jedes Jahr gemeinsam mit den meisten anderen Atemwegserregern in einer deutlichen Welle in Herbst und Winter grassieren wird, dafür gibt es eine Reihe möglicher Gründe. Auch die schon endemischen Coronaviren sind recht stark saisonal.

Sars-CoV-2 entwickelt immer neue Varianten, welche erhebliche Auswirkungen auf die Intensität einzelner Wellen haben und auch Wellen im Sommer verursachen. [3] Da wird auch in nächster Zeit noch einiges auf uns zu kommen, denn je mehr Menschen infiziert sind, um so schneller entwickeln sich neue Varianten. Die hohen Inzidenzen weltweit werden deswegen auch in Ländern mit schon hoher Immunität noch merkliche Auswirkungen haben. Es kann also sein, dass wir erst in Jahren ein rein saisonales Muster sehen.

Das Ende der Pandemie ist noch weit weg

Dass wir zu Sars-CoV-2 als endemisches Virus in einem dynamischen Gleichgewicht mit uns als Wirt hinkommen, daran bestehen kaum Zweifel. Auch für diesen Übergang zwischen Pandemie und Endemie gilt: es gibt verschiedenen Möglichkeiten, wie sich das abspielen kann, und Überraschungen sind möglich. Was man nicht tun sollte ist, das Virus einfach ungebremst durch alle Ungeimpften durchlaufen zu lassen. Das geht zwar relativ schnell, dürfte aber viele Menschenleben kosten und das Gesundheitssystem zerlegen – und es geht keineswegs so schnell, wie manche zu denken scheinen. Ohne massenhaft mehr Impfungen werden wir im Herbst 2022 vermutlich das gleiche Theater noch mal erleben.

Würden sich alle impfen lassen, hat man (hätte man) das Thema in ein paar Wochen durch.

Normalität wird es erst wieder geben, wenn all diese Fragen beantwortet sind. Also zum Beispiel ob es wirklich regelmäßige Winterwellen nach dem Muster der anderen Coronaviren geben wird und ob die Krankheit ebenso mild wird. Oder ob man langfristig impfen muss, weil es eben schwerer verläuft und Long Covid eine nennenswerte Bedeutung hat.

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[1] Ein schnelles Ende per “Durchseuchung” ist beim derzeitigen Stand eher unwahrscheinlich. Man ja mal im Kopf ausrechnen, wie lange es bei einer Inzidenz von 500 dauert, alle Ungeimpften zu infizierten, selbst unter der Annnahme, dass sich ausschließlich Ungeimpfte anstecken …
[2] Das hängt von zwei Faktoren ab. Zum einen, wie stark die Saisonalität ist, also ob das Virus im Winter deutlich stärker verbreitet ist als im Sommer, und zum anderen, über welche Zeiträume die Immunität durch natürliche Infektion nachlässt. Der zweijährliche Zyklus tritt auf, wenn ein Virus sehr stark saisonal ist und die Immunität etwa über einen Zeitraum von einem Jahr nachlässt. Der Witz an der Sache ist, dass das bei den gängigen Erkältungs-Coronaviren der Fall ist. Dahinter steckt eine Bifurkation – ein Typ von Zustandsänderungen – der in nichtlinearen Systemen auftritt. Viel deutet darauf hin, dass auch Sars-CoV-2 die Bedingungen dafür erfüllt. Umgekehrt gibt es viele Einflüsse, die dieses Muster überlagern können. Zum Beispiel neue Varianten einerseits, Impfungen und Verhaltensänderungen andererseits. Der Effekt zeigt aber, welche ungewöhnlichen Effekte selbst bei so einem simplen Atemwegserreger auftreten können. Die Wechselwirkung eines endemischen Virus mit seiner Umwelt ist dynamisch – Überraschungen sind immer drin.
[3] Man darf aber einigermaßen optimistisch, dass nach Delta nicht mehr so viel grundlegend Neues kommt. Immunescape scheint ja einen gewissen Tradeoff mit der Infektiosität zu erzeugen, so dass Varianten, die gegen die Impfung weniger empfindlich sind als Delta, trotzdem von Delta klein gehalten werden, weil das Ding so viel ansteckender ist. Variante Beta zum Beispiel sieht ja auch nicht so viel Land.
Nov. 2021 | Allgemein, Gesundheit, Junge Rundschau, Sapere aude, Senioren | Kommentieren