Dieser Sinn für Ungerechtigkeit hat eine verkürzende
und emblematische Funktion – Aber:
Gegen die Haltung unsolidarischen Freiheitspathos protestiert die Empörung als Ausdruck moralischer Intuition oder Beurteilung aus dem Geist einer konstitutiv sozialen Freiheit. Und das muß sein dürfen!
Allen, die unruhig geworden sind, sei gesagt:
Richtig, in diesen Gefühlen und Einstellungen geht Ethik nicht auf, kann aber regelmäßig auch nicht ohne sie auskommen. Um zu überprüfen, ob moralische Gefühle – hier die Empörung über Impfgegner – angemessen sind, kennt die Ethik einigermaßen etablierte Verfahren. Um nur die zwei wichtigsten Prüffragekreise zu nennen: Mit der pflicht- und gerechtigkeitsethischen Tradition, mit den großen Vertretern Kant und Rawls voran, wird man fragen, ob eine Handlung(seinstellung) verallgemeinerbar ist, ob sie Mindeststandards des gerechten, also für möglichst alle verträglichen Lebens achtet – und sofort ist natürlich klar, dass alle diese Konzepte trotz ihres Verallgemeinerungsanspruch hochgradig interpretationsbedürftig sind.
Mit der konsequentialistischen oder utilitaristischen Tradition wird man nach Nutzen, Schaden, und vermeintlich außermoralischen Konsequenzen von kollektiven und individuellen Entscheidungen, Handlungen, aber eben auch Unterlassungen fragen; und auch hier ist klar: Was „außermoralisch“ ist und ob es das überhaupt gibt, ist höchst umstritten. Aber so ist Ethik: Sie deduziert nicht einfach moralische Prinzipien oder identifiziert „moralische Tatsachen“, sondern sucht nach Angemessenheit individuellen und kollektiven Verhaltens sowie von Lebensformen in einer komplexen, also ausdifferenzierten und pluralen Welt. Diese Komplexität nicht wahrnehmen zu wollen, wäre selbst unterkomplex.
Angemessenheit verlangt konkrete Ethik
Und, trotz Orientierung an einigermaßen stabilen oder zumindest trägen ethischen Prinzipien, immer auch Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimension eines komplexen ethischen Problems zu eruieren. Auf weitere der Ethik (selbst-)kritisch zur Verfügung stehende Instrumentarien verzichten wir, um nicht eine Hyperkomplexität zu erzeugen, die dann oft zu einer resignativen Einstellung à la „Es ist ja doch alles egal!“ oder zu Whataboutism („Aber in diesem oder jenem Fall – und man findet fast immer einen solchen Fall – agieren wir völlig anders, und deshalb müssen wir uns auch hier nicht anstrengen“) führt. Einer solchen Position sei hier entgegengehalten: Nein, selbst in hyperkomplexen Lagen wie der Pandemie gibt es auf Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimension blickende politische und ethische Urteile, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort als sachlich und sozial angemessen erscheinen, aber unter Änderung der Bedingungen auch revidierbar sind, ja sein müssen.
Gegen Revidierbarkeit spricht nicht gegen
bestimmte politische und ethische Urteile
Das Gegenteil ist der Fall. In einem sachlich und sozial so labilen, unsteten Geschehen wie dieser Pandemie wäre es nachgerade überraschend – und ein Zeichen mangelnder reflexiver und handlungspraktischer Trägheit, wenn man nicht auf Veränderungen reagieren würde. All das im reflexiven Gepäck sei nun skizziert, warum wir das Montgomery’sche Diktum zwar für scharf, kommunikativ vielleicht auch für zu scharf, aber nach den genannten Sinndimensionen von Zeit, Raum, Sache und Sozialität für legitim erachten.
Impfen ist persönlich, aber nicht privat
Vorab aber nochmals zur Erinnerung: Wir befinden uns bald im dritten Jahr der Pandemie, die Zahlen gehen so hoch, dass man sich in einer Zeitschleife gefangen fühlt. Und, richtig ist natürlich auch, dass die Formulierung „Die Pandemie ist mittlerweile eine Pandemie der Ungeimpften“ zunehmend unplausibler wird, weil eben zunehmend auch wieder Geimpfte betroffen sind, auch wenn – nach jetzigem Wissensstand – sie in der Regel nicht so stark erkranken und auch die Viruslast bei ihnen geringer ist und sie daher meisten auch nicht so starke Überträger sind wie der Durchschnitt der Ungeimpften. Dennoch meinen wir nach wie vor: Die Impfung ist das effektivste Mittel gegen die Ausbreitung des Corona-Erregers. Fürs Protokoll und die ethische Argumentation kann ebenso festgehalten werden, dass die bekannten Vakzine milliardenfach gespritzt und erprobt sind. Verschwindend gering ist die Zahl der Nebenwirkungen.
Es ließe sich eine lange medientheoretische, wissenssoziologische und gesellschaftstheoretische Debatte darüber führen, warum (zu) vielen Menschen dennoch wider alle Standards wissenschaftlichen Wissens an ihrer Meinung festhalten, es verhielte sich doch anders, obwohl sie sonst von morgens bis abends wissenschaftlichem und technischem Wissen und seinen Ergebnissen trauen – gerade wenn es für sie eng wird, etwa wenn sie auf die Intensivstation verlegt werden müssen, weil sie ungeimpft Covid-19 bekommen haben. Selbstverständlich führt die Impfung nicht dazu, alle anderen bekannten Verhaltensmaßnahmen abzublasen; selbstverständlich kommt es zu Impfdurchbrüchen; selbstverständlich muss man darüber nachdenken und, wie es zunehmend passiert, gerade in Bereichen mit unsteten Gruppen auch Genesene und Geimpfte wieder zu testen – alles geschenkt.
Aber das ändert – nach überragendem Stand wissenschaftlichen Wissens in dieser Frage – nichts daran: Die Impfung ist das wirkungsvollste und sicherste Mittel der Pandemiebekämpfung. Würden sich alle, die es medizinisch können, impfen lassen, hätten „wir“ – und es sei hier vom Raumindex „Deutschland“ die Rede, die Pandemie einigermaßen im Griff. Man schaue nur nach Portugal, das über eine extrem hohe Impfquote verfügt. Und damit sind wir nach diesen Aspekten der Sachdimension schon in der Sozialdimension. Es ist – in der kantischen Tradition formuliert – folgendes ethisch geboten: eine starke moralische Pflicht, etwas zu tun, wenn der Aufwand dafür gering, der Nutzen für einen selbst und mittelbar auch für andere und die Gesellschaft als ganze hoch ist, bei Unterlassen die Wirkung dieser Handlung nachlässt, vergleichbar effektive und effiziente Alternativen nicht vorliegen und zugleich das Risiko der Selbstschädigung gering ist.
Was Juristen unter das Stichwort „Verhältnismäßigkeit“ packen, ist beim Impfen erfüllt.
Wie die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx immer wieder einschärft: Impfen ist eine persönliche Entscheidung, aber keine Privatsache, die Konsequenzen der Nichtimpfung nämlich sind in der Gesellschaft erheblich – das fängt bei einem selbst oder als Angehörige von Risikopatienten an, geht über die in diesem Maße unnötige Belegung von Intensivbetten und dadurch nötige Verschiebung anderer wichtiger Operationen wie Bypass-Legung oder Krebs-OPs und reicht bis hin zu den – von vielen Impfverweigerern wie selbstverständlich verlangten – Übernahme der Kosten von Tests. Von den anderen psychischen und sozialen Kollateralschäden, etwa im Bereich der Entwicklung von jungen Menschen durch noch immer andauernde Beeinträchtigung der Bildung und Freizeitaktivitäten oder des betreuten Lebens in Einrichtungen, ganz zu schweigen.
Die Geduld neigt sich dem Ende
Das sind alles starke psychische und soziale Schädigungen, die in der Größenordnung und Dauer vermeidbar wären, hätten sich alle, die es können, geimpft und sich nicht auf fadenscheinige oder sehr selbstbezogene Gründe berufen. Nicht nur die Solidarität mit vielen Menschen, die darauf hoffen, dass möglichst viele zu ihrem Wohle sich die proportional kleine Unannehmlichkeit der Impfung unterziehen, kann als ethisches Kriterium in Anschlag gebracht werden. Vielmehr greift auch das viel elementarere Schädigungsverbot, das im Sinne der negativen Freiheit daran erinnert, dass die Freiheit des einen eben an der Schädigung der Freiheitsmöglichkeiten des anderen – überprüft anhand der oben genannten pflichtenethischen Subkriterien – ihre Grenze findet.
Impfkampagnen massiv und differenziert nach Zielgruppen zu organisieren und zu starten –, dass man immer mehr hätte machen können. Das ändert nichts daran: Wer wollte, konnte sich umfassend informieren.
Offensichtlich liegen die Gründe tiefer – das bestätigen alle Studien, allen voran das wiederholte Monitoring zu Covid-19-Themen, das an der Universität Erfurt durchgeführt wird. Wenn man aber in einer jüngeren Forsa-Studie lesen muss, dass nahezu 90 Prozent derjenigen, die sich noch nicht haben impfen lassen, keine oder geringe Neigung verspüren, dies nun endlich nachzuholen, dann kann man auch der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr ungebührliche Ungeduld gegenüber dieser Gruppe vorwerfen. Dann scheint der – in den Worten Jean-François Lyotards – Widerstreit der Positionen erschöpft zu sein.
Selbstverständlich mögen, wider alle Hoffnungslosigkeit, noch ein paar Letzte umgestimmt werden. Viele werden es nicht mehr sein. Angesichts der massiven medizinischen und gesellschaftlichen Konsequenzen ist es bei dieser sistierten Haltung nicht ungebührlich, wenn die große Mehrheit der Bürger – wie im oben skizzierten Beispiel des moralischen Steuerbetrugs – sagt: „Ok, wir tolerieren Eure Freiheit, wir tolerieren aber nicht mehr, dass Ihr diese Krankheit in unsere Kreise weiterverbreitet. Die Konsequenzen Eures Freiheitsgebrauchs müsst Ihr dann eben tragen!“ Es geht nicht um Diskriminierung und Stigmatisierung. Es ist primär Selbstschutz angesichts erkennbar unvernünftigen Verhaltens.
Und damit sind wir bei der Zeitdimension der Impfverweigerung. Der immer wieder aus dem Lager (der Sympathisanten) der sich verfolgt fühlenden, obwohl andere schädigenden und sich ohne hinreichende Gründe unsolidarisch verhaltenden Impfverweigerer unterbreitete Vorschlag, im Gespräch zu bleiben und noch mehr Aufklärung und Beratung zu verlangen, ist ja selbst nicht unschuldig und neutral. Mit jedem Tag, der die Zahl der Impfungen nicht signifikant erhöht, steigt das Risiko von Impfdurchbrüchen und Mutationen. Die ungenutzt verrinnende Zeit spielt den Impfverweigern gewissermaßen in die Hand, auf dass sie sagen können: „Seht Ihr, die Impfung bringt ja gar nichts!“. Dass damit das Risiko der eigenen Erkrankung oder der Erkrankung der noch nicht impfbaren Kinder oder immungeschwächten Großeltern massiv steigt, scheint man um des Rechthaben-Wollens in Kauf zu nehmen. Kurzum: Zeit ist auch für eine auf Verallgemeinerung zielende Ethik von Belang.
Dies gilt erst recht angesichts drohender Schäden bei anhaltendem Nicht-Handeln.