Eine Impfpflicht, (die i c h trotz einiger Bedenken befürworte), könnte scheitern, werden nicht gleichzeitig die Ursachen der Impfverweigerung eingebunden. Nur so nämlich lässt sich glaubhaft an den Zusammenhalt appellieren.
Die Empörung darüber, dass ein Drittel der deutschen Bevölkerung nicht geimpft ist, nimmt stetig zu. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer spricht von einer Spaltung der Gesellschaft: Sie würde zwar immer offensichtlicher, man könne sie aber bei der Pandemiebekämpfung nicht in den Mittelpunkt stellen.

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Nov 2021 | Allgemein, Essay, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren

In der Fankurve angekommen: Fußballfans bei einem Spiel der zweiten Bundesliga im sächsischen Aue protestieren gegen die Corona-Maßnahmen

Diese „Freiheit“  ist fatal für die neue pandemische Situation, in der wir uns befinden. „Sensibilisieren wir uns zu Tode?“, heißt die Sendung, die an diesem Sonntagabend im Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde – und an der etwas sichtbar wurde, was man in der anhaltenden Pandemie insgesamt beobachten kann: wie nämlich ein Diskurs, der die angebliche Beschneidung von Freiheit, gesellschaftliche Zwänge und selbst auferlegte Zensur beschwört, vom Milieu der Impfskeptiker und Corona-Leugner allmählich in die bürgerliche Mitte transportiert wird. Dort wird er mit philosophischer Versiertheit und mit der philosophischen Bibliothek des ganzen Abendlandes im Rücken besonders kultiviert zelebriert.

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Nov 2021 | Allgemein, Essay, Feuilleton, Junge Rundschau, Sapere aude, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | 1 Kommentar

Um die vierte Welle zu brechen, müssen alte und neue Regierung einfach nur die Vorschläge der Leopoldina umsetzen.  An jedem Tag, an dem sich die Immer-noch-Bundesregierung in ihrer Tatenlosigkeit noch selbst übertraf, möcht` man rufen:  Jetzt ist es doch klar, noch klarer als gestern! Tut etwas, sonst sterben – noch mehr – Menschen!

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Nov 2021 | Heidelberg, Allgemein, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren

Die noch immer als links-alternativ geltenden Lebensreformbewegungen und die neuen Querlinge („Querdenker“) haben mehr gemeinsam als gemeinhin bekannt. Das anfängliche Erstaunen in Politik und Medien, wer ab Frühjahr 2020 die Proteste gegen die Pan­de­mie­maß­nahmen organisiert hat, überrascht. Auf der Straße versammelten sich Anhänger des alternativen Spektrums und der rechten Szene. Ihre teilweise Herkunft aus der Mitte der Gesellschaft kann aber keine Überraschung sein.

Bereits in der ersten Lebensreformbewegung war die Tendenz zu weit rechten Positionen evident. Ihre Protagonisten teilten schon vor über 150 Jahren die Sehnsucht nach einem „ganzheitlichen Dasein“ in einer „organischen Ordnung“. Ihr romantisierender Blick zurück galt der vermeintlich natürlichen, harmonischen Vormoderne. Die gegenwärtige Kritik an den staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie geht erneut mit einer Ablehnung der Moderne einher.

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Nov 2021 | In Arbeit | Kommentieren

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Nov 2021 | Allgemein, Essay, Feuilleton, In vino veritas, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren

Diskriminiert die deutsche Sprache Frauen und soziale Minderheiten? Um das Gendersternchen und andere neue Formen hat ein Kulturkampf begonnen. Behörden, Firmen und auch der Duden schaffen Fakten, obgleich es für den Wandel keine Mehrheit gibt.
Manche blicken nach Karlsruhe, wo das Bundesverfassungsgericht 2017 entschied, dass die Zweiteilung der Menschen in Frauen und Männer für manche diskriminierend sei. »Divers« heißt darum inzwischen die dritte Option im Geburtsregister und in Stellenanzeigen. Um dieser Gruppe auch sprachlich gerecht zu werden, verwenden mittlerweile nicht mehr nur Aktivist(*)innen besondere Schreibweisen wie dieses Gendersternchen.

Hin und wieder schlägt die Aufregung hohe Wellen. Als Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) im September einen Gesetzentwurf zum Insolvenzrecht vorlegte, drehte sich darin alles um die Schuldnerin, die Gläubigerin, die Richterin. Männliche Personenbezeichnungen kamen kaum vor. Nach Protesten gegen den »Genderwahnsinn« und einer Ablehnung im Kabinett kämmte Lambrecht ihren Entwurf auf die juristische Standardsprache zurück, die im generischen Maskulinum formuliert. Wo vom Richter die Rede ist, muss sich von jeher auch die Richterin gemeint fühlen.
Wie jede lebendige Sprache ist das Deutsche permanent im Fluss, neue Wörter und Redewendungen tauchen auf, nicht alles gefällt allen. Seit Langem stoßen sich Sprachpuristen an Anglizismen oder am Einsickern von Jugendwörtern ins Vokabular der Erwachsenen. Doch leidenschaftlich gestritten wird darüber kaum noch.
Ganz anders geht es zu, sobald gendergerechte Sprache verwendet und propagiert wird. Ausdrücke wie »Sprachterror« und »Genderunfug« fallen regelmäßig, wenn Kritiker wie Walter Krämer, der Vorsitzende des Vereins Deutsche Sprache, auf das Thema zu sprechen kommen. Wie kompromisslos Krämer bei dem Thema ist, zeigt eine automatische Antwort auf eine Mail, in der es ums Gendern geht: »Darf ich Sie bitten, mir Ihre Post nochmals in korrektem Deutsch zu schicken? Leider lässt mein Eingangsfilter keine Nachrichten mit Gender(*) durch.« Krämer drückt aus, was offenbar viele denken.
Die Auseinandersetzung um verbale Gerechtigkeit reicht nun einmal tiefer als die Frage, wie viele Anglizismen das Deutsche verträgt. Sie ist emotional aufgeladen, denn die Anerkennung verschiedener Lebensstile wird unterschwellig mitverhandelt. Dazu kommt die Empörungsbereitschaft derer, die fürchten, von einer selbst ernannten Sprachpolizei zu »politisch korrekter« Rede gezwungen zu werden.
Im Umfeld des Streits über die Genderformen wird erkennbar, wie sehr die Sprache zu einem kulturellen Kampfplatz geworden ist. Damit stehen wir hierrzulande nicht allein. Die gesteigerte Sensibilität, mit der vor allem Jüngere auf Benachteiligungen aller Art reagieren, schlägt sich rund um die Welt in heftigen Auseinandersetzungen über angemessene Sprachformen nieder. Dass viele dieser Debatten über Diskriminierung und Rassismus in den USA beginnen, ist nicht neu. Nur greifen sie im Zeitalter der sozialen Medien noch schneller als früher auf andere Länder über.
Begriffe werden zu Reizwörtern, Bezeichnungen für Personen und Gruppen funktionieren dabei wie ein Code. Diejenigen, die sich für die Codierung zuständig fühlen, kontrollieren zumeist genau, wer sich an ihre Regeln hält und wer nicht. Aus dem Sprachgebrauch schließen sie auf die Gesinnung – wie im Übrigen auch ihre Gegner und Gegnerinnen auf der konservativen bis reaktionären Seite.
Dort ist es Usus, die eigene abwehrende Haltung durch Regelverstöße kenntlich zu machen. Die verbalen Mittel reichen von provokanten Grobheiten zu gespielter Naivität mit Sprüchen wie: »Man wird doch noch (die Soße ist noch erlaubt) – und dann kommen die N und Z-Worte – sagen dürfen die ich ja hier jetzt ängstlich hin zu schreiben mich nicht mehr traue 
Wer keinem der Lager angehört und gutwillig hofft, Wörter könnten unschuldig sein, hat schon verloren.
Der Code ist ständig in Bewegung. Wie er funktioniert, erschließt sich nicht aus den Ausdrücken selbst, sondern nur aus den Schwingungen des Mitgedachten. Ein Beispiel ist der Begriff »People of Color« oder kurz PoC. Er ist die momentan favorisierte Bezeichnung für Menschen, die persönlich mit Rassismus konfrontiert sind; eine akzeptierte Übersetzung ins Deutsche gibt es nicht.
In vielen Redaktionen wird das Thema Gendern derzeit diskutiert, natürlich auch bei uns – ich jedenfalls habe mich mit mir darauf – Antoine M. zum Trotz – geeinigt, das in der RUNDSCHAU allenfalls hin und wieder – aber eher selten – zu berücksichtigen …

Wer, wie, was, warum: Soll denn nun also die deutsche Sprache als Symbol der Gleichberechtigung fungieren – oder leidet sie via Gendern an Sprachverhunzung?
Alsdann – im Interview lassen wir den Linguisten Henning Lobin über die historischen Wurzeln der Debatte zu Wort kommen –

er ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt Sprachpolitik. Er sitzt auch im Rat für deutsche Rechtschreibung, der den Sprachwandel beobachtet und staatlichen Stellen auf dieser Basis gegebenenfalls neue Regeln empfiehlt. Ein strittiger Punkt, der demnächst geklärt werden soll: Wie ist das Gendersternchen zu bewerten?
?: Herr Lobin, wem gehört die deutsche Sprache?
Lobin: Uns allen gemeinsam. Allen, die sie sprechen und schreiben. Allen, die sie noch lernen oder schon gelernt haben.
?: Und wer darf entscheiden, was gutes Deutsch ist?
Lobin: Auch wir alle. Wobei unsere Vorstellung, was gutes Deutsch ist, maßgeblich im 19. Jahrhundert geprägt wurde – im Gefolge der deutschen Klassik, durch Goethe, Schiller, Wieland. Ihretwegen hat die deutsche Hochsprache im Gymnasium ihre Heimstatt gefunden, am Ort der klassischen Bildung. Bis heute ist die Vorstellung, was gutes Deutsch ist, eng verknüpft mit Bildungsmilieus, enger wahrscheinlich als in vielen anderen Ländern. Sprache ist hier auch ein Instrument, um sich sozial zu verorten.
?: Ihr neues Buch widmet sich dem »Sprachkampf«(*). Wer steht sich in diesem Kampf gegenüber?
Lobin: Auf der einen Seite steht die linke Identitätspolitik, von der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viele emanzipatorische Bewegungen ausgegangen sind, auch in sprachlicher Hinsicht. Dazu gehört die feministische Linguistik, die geschlechtergerechte Sprache fordert. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die einem sprachlichen Ideal folgen, das bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. In Zuschriften an unser Institut heißt es gerne: »Wo ist die Sprache Goethes geblieben?« Wahlweise kommt auch Luther ins Spiel oder Thomas Mann. Diese Seite ist gut organisiert, zum Beispiel durch den Verein Deutsche Sprache. Dessen Positionen finden sich teilweise im Parteiprogramm der AfD.
?: Woran liegt es, dass Sprachpolitik für die AfD eine so große Rolle spielt?
Lobin: Für die AfD ist Sprache ein geeignetes Mittel, um ihre Anliegen positiv zu verpacken. Im Grundsatzprogramm von 2016 steht sinngemäß, dass die deutsche Sprache das Zentrum unserer kulturellen Identität bildet. Und der Begriff der Identität ist ein hervorragender Anker für rechte Werte. Insbesondere in einer Zeit, in der Begriffe wie Volk, Nation, Heimat als belastet erscheinen.
?: Der Gedanke, dass die deutsche Sprache eine Heimat ist, hat aber auch eine große linke Geschichte – etwa bei den Exilanten der Nazizeit, für die das letzte Zuhause oft das Deutsche war.
Lobin: Absolut, Sprache ist identitätsstiftend. Das hat Tradition in Deutschland, weil es lange keinen Nationalstaat gab. Sprache war ein Ersatz dafür. Dass das so positiv konnotiert ist, nutzt heute aber auch die AfD.
?: Das Gendern stört sehr viele Menschen, beileibe nicht nur Rechte.
Lobin: Das stimmt. Linke Identitätspolitik beißt sich zum Beispiel mit der klassischen linksliberalen Position. Der ist eine Parzellierung in Gruppen mit eigenen Gruppenrechten und eigenen Vorstellungen, wie sie bezeichnet werden möchten, fremd. Deshalb ringt jetzt ja die SPD mit sich, wie sie mit den Forderungen umgehen soll.
?: Die Gesellschaft ist diverser als früher. Sind wir deshalb mit mehr Sprachkonventionen konfrontiert?
Lobin: Ja, am Beispiel von Personenbezeichnungen wird es besonders deutlich: In einer Gesellschaft, in der Minderheiten keine Stimme hatten, war es gang und gäbe, schwarze Menschen mit dem N-Wort zu bezeichnen, Sinti und Roma mit dem Z-Wort. Darüber hat sich bis in die Siebzigerjahre bei uns keiner, der das hätte ändern können, Gedanken gemacht. Heute muss sich die Gesellschaft damit auseinandersetzen.
?: Erklärt sich aus der neuen Vielfalt die Heftigkeit der Sprachdebatten?
Lobin: Die Komplexität ist enorm gewachsen. Wir haben nicht mehr nur ein Wort, mit dem wir alle eine bestimmte Menschengruppe bezeichnen, wir haben die Wahl zwischen verschiedenen Konventionen, die sich entwickeln. Teilweise stehen sie sogar im Widerspruch zueinander. Das kann dazu führen, dass sich manche Menschen weniger zu Hause fühlen in der eigenen Sprache. Sie haben Angst davor, Fehler zu machen, und sehen die Gefahr, dass identitätspolitisch aufgeladene Sprache dazu beiträgt, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet.
?: Andere Menschen fühlen sich erst jetzt in unserer Sprache zu Hause. Ist die Vielzahl der aktuellen Sprachkonflikte ein Zeichen für einen sprachlichen Fortschritt?
Lobin: So ist es, das ist eine paradoxe Situation. Ich neige dazu, das als Gewinn zu betrachten. Die Gesellschaft wird sich nach und nach an die neuen Sprachkonventionen gewöhnen. Es ist eine Realität, auf die wir uns schon mal einstellen können. Sie wird nicht einfach verschwinden.
?: Verändert sich die deutsche Sprache aktuell besonders schnell?
Lobin: Das lässt sich seriös kaum beantworten. Es gibt gegenläufige Tendenzen. Auf der einen Seite unterliegt die Sprache momentan einem großen Schub, hervorgerufen auch durch Migration und eine größere Mobilität: Wenn der Hamburger nach München zieht, hat das auch einen Einfluss auf die Sprache. Auf der anderen Seite macht sich das bislang erstaunlich wenig in der Abgrenzung der Dialekträume bemerkbar.
?: Wie divers darf eine Sprache sein, die die Kommunikation aller Mitglieder der Gesellschaft gewährleisten soll?
Lobin: Wir dürfen Sprache nicht zu sehr mit Anliegen aufladen, die über sie hinausweisen. Es darf nicht alles zeichenhaft werden. Verwende ich den Genderstern, oder verwende ich ihn nicht? Gehöre ich zu dieser Gruppe oder zu jener? Sprache ist die Grundlage des Gemeinwesens in unserem Land. Dazu bedarf es einer gewissen Homogenität.
?: Liegt eine Lösung darin, die Sprache der sozialen Situation anzupassen? Jeder Studierende spricht mit seiner Oma vermutlich ein anderes Deutsch als mit seinen Kommilitoninnen.
Lobin: In der Linguistik nennen wir das »Register«, auf die man je nach Situation zurückgreift. Wir leben sprachlich schon Diversität, wir besitzen das Handwerkszeug. Darauf wird es auch hinauslaufen bei den Fragen, die jetzt so kontrovers diskutiert werden: dass wir in bestimmten Situationen auf bestimmte Begriffe und Praktiken setzen, in anderen darauf verzichten. Sei es, weil man sonst nicht verstanden wird, oder auch nur, weil man sich sonst selbst zu sehr mit einem bestimmten Image belegt.
?: Ein Streit dreht sich seit Langem um die Frage, ob das generische Maskulinum geschlechtsneutral ist oder nicht. Können Sie da schlichten?
Lobin:
Die Sprachwissenschaft hat keine einheitliche Meinung. Die Auseinandersetzungen, die in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, finden sich auch innerhalb des Fachs. Das liegt auch daran, dass sich das generische Maskulinum sprachhistorisch nicht klar nachweisen lässt. Wer Texte des 17. Jahrhunderts analysiert, wird feststellen, dass dort meistens nur von Bäckern, Ärzten, Richtern die Rede ist, nie von Bäckerinnen, Ärztinnen, Richterinnen. Das Problem ist aber, dass es in den Texten damals tatsächlich meistens nur um Männer ging, weil es keine Frauen in diesen Berufen gab.
?: Inzwischen hat die soziale Realität die Sprache überholt. Lesen Menschen heute ein generisches Maskulinum in einem Text anders als Menschen vor 50 oder vor 100 Jahren?
Lobin: Davon dürfte auszugehen sein. Wenn ein Wort wie Einwohner in einem Satz auftaucht, haben die allermeisten Menschen sowohl Männer als auch Frauen vor Augen. Bei einem Wort wie Kosmetiker ist das anders. Es hat ein sehr viel geringeres generisches Potenzial, weil die soziale Erfahrung lehrt, dass in einem Kosmetiksalon meist Frauen arbeiten.
?: Kritiker stellen genderneutrale Sprache immer wieder in einen Zusammenhang mit George Orwells Roman »1984«. In diesem soll durch eine regulierte Sprachvariante namens »Neusprech« das Denken der Menschen beeinflusst werden. Gibt es Belege dafür, dass sich Bewusstsein durch Sprache verändern lässt?
Lobin: Es gibt zwei Effekte, die gut belegt sind. Sprachen bieten Kategorisierungen der Welt, die unser Denken bestimmen. Und Wörter haben immer ein Umfeld, wodurch ein einzelnes Wort eine ganze Szenerie aufspannt. Wenn Sie das Wort Bus hören, stellen Sie sich eine Haltestelle vor, eine Straße, eine Gruppe von Fahrgästen. Und diese Begriffe verarbeiten Sie sehr viel schneller in Verbindung mit dem Wort Bus.
?: Wie kann ein Mensch durch solche Assoziationsketten beeinflusst werden?
Lobin: In den vergangenen Jahren war Framing ein kontrovers diskutiertes Thema. Da ging es darum, politische Begriffe in ein bestimmtes gedankliches Umfeld zu setzen und so einem Sachverhalt einen bestimmten Dreh zu verleihen. Als die SPD vor zwei Jahren Milliarden in die öffentliche Kinderbetreuung pumpte, nannte sie das öffentlich nicht »Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung«, sondern »Gute-KiTa-Gesetz«. Bei dem Wort stellt man sich schöne Dinge vor, kleine Rucksäcke an der Garderobe, spielende Kinder. So umstritten Framingmethoden auch sind, sie basieren doch auf sozialpsychologischen Grundannahmen, die gut untersucht sind. Das Problem ist nur: Solche Effekte sind kaum steuerbar. Wenn Leute das Gefühl haben, es soll ein Effekt erzielt werden, machen sie komplett zu.
?: Verständlich. Keiner lässt sich gern manipulieren.
Lobin: Bei gendergerechter Sprache ist das ja auch so: Bei denen, die demgegenüber aufgeschlossen sind, wird ein Denkeffekt angestoßen. Aber bei denen, die sich dagegen sperren, wird eher Widerstand erzeugt.
?: Gibt es historisch betrachtet eine besondere Neigung der Deutschen, Sprachpolitik zu betreiben?
Lobin: Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben in Deutschland die Tradition, keine Sprachpolitik zu betreiben. Anders als etwa in Frankreich, wo die Académie française seit dem 17. Jahrhundert die Sprache pflegt und einheitliche Regeln fürs ganze Land erstellt.
?: Warum ist das so?
Lobin: In Frankreich war ja schon Ende des 15. Jahrhunderts die nationale Einheit nahezu vollendet, die gemeinsame Sprache wurde dann erst in einem längeren Prozess geformt. Das hat in Deutschland nie stattgefunden. Es gab hier bis zur Gründung des Kaiserreichs 1871 keinen Nationalstaat und deshalb auch keine Institution, die Regeln festlegen konnte. Gleichzeitig war das nicht nötig, die deutsche Standardsprache war 1871 mehr oder weniger fertig. Sie war hervorgegangen aus einem ungesteuerten kulturellen Prozess, bei dem Luthers Bibelübersetzung eine wichtige Rolle spielte. Aber auch andere hatten großen Einfluss, zum Beispiel im 17. Jahrhundert Sprachgesellschaften, die schon damals stark gegen Fremdwörter arbeiteten.
?: Nie hat jemand von oben eingegriffen?
Lobin: Nein. Die deutsche Sprache ist ein Symbol der Gleichberechtigung, ein Ergebnis geradezu demokratischer Entwicklungen, dadurch zugleich ein Ausdruck von Vielfalt und Diversität. Nicht jedem gefällt das, denn es macht die deutsche Sprache anstrengend. Wir haben kein staatliches Wörterbuch, wir haben keine offizielle Grammatik, wir haben auch keine offizielle Aussprache. Das unterliegt alles Gebrauchskonventionen, die dann einen hohen Stellenwert besitzen, wenn zum Beispiel die »Tagesschau« sie benutzt.
?: Wünschen Sie sich als Germanist da manchmal mehr Klarheit?
Lobin: Aber nein! Es ist ja viel interessanter so. Allerdings wird der Wunsch nach klaren Vorgaben oft herangetragen an das Leibniz-Institut, dem ich vorstehe. Es gibt ein ganz großes Bedürfnis nach Orientierung. Wenn mein Institut die »Neuen Wörter des Jahrzehnts« rausgibt, steht in den Zeitungen am nächsten Tag, wir hätten neue Wörter in die deutsche Sprache »aufgenommen«. Aber wir dokumentieren nur, wir entscheiden nicht. Selbst der Rat für deutsche Rechtschreibung, der Vorschläge für das amtliche Regelwerk erarbeitet, setzt nicht einfach Standards fest. In den Statuten steht, dass nur aufgrund des Usus und des allgemeinen Sprachwandels Regeln weiterentwickelt werden.
?: Gendersternchen und Gendergap sind in Schulaufsätzen zurzeit als Rechtschreibfehler anzustreichen. Finden Sie das richtig? Sie sitzen selbst im Rat für deutsche Rechtschreibung.
Lobin: Der Genderstern gehört derzeit nicht zum Zeichenbestand der deutschen Orthografie. Wer das streng auslegt, wird ihn in der Schule also als Fehler anstreichen müssen. Ich glaube aber, dass diese Diskussion an der Sache vorbeigeht. Wir werden uns 2022 im Rechtschreibrat wieder mit der Frage beschäftigen. Wir sollten uns dann klarmachen, was Kernbestand der Zeichensetzung und der Orthografie ist und was nicht. Es gibt typografische Zeichen, die bislang überhaupt nicht durch das Regelwerk erfasst werden – und deren Verwendung trotzdem niemand als Fehler betrachtet. Dazu gehören das Paragrafenzeichen, das Prozentzeichen. Mein Vorschlag wäre, den Genderstern dort einzureihen. Sonst würde er eine Sonderrolle einnehmen. Und ich glaube auch nicht, dass der Rechtschreibrat einen anderen Mehrheitsbeschluss finden würde.
?: Lange galt das Deutsche als die hässliche Sprache einer Nation, die im Zweiten Weltkrieg Millionen ermordete. Hat sich das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Sprache verändert?
Lobin: Das hoffe ich. Das Deutsche ist eine große Sprache, eine Sprache, deren kultureller Wert kaum abzuschätzen ist. Auch international wird das Deutsche heute als kreativ wahrgenommen, sogar als witzig. Im Leibniz-Institut haben wir mittlerweile 1200 neue Wörter gesammelt, die im Zuge der Coronakrise entstanden sind: Geistermeister, coronamüde, Coronafrisur. Die Meldung dazu ging durch die Decke im englischsprachigen Raum, wir wurden von der »Washington Post« interviewt, waren live in der BBC. Das Deutsche verbindet sich inzwischen also mit Humor und einer gewissen Coolness.
?: Herr Lobin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Henning Lobin: »Sprachkampf. Wie die Neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert«. Duden; 192 Seiten; 15 Euro.

Nov 2021 | In Arbeit | Kommentieren

Demonstration „gegen Zwangsimpfung“ in Kanada, die Regierung konterte schnell und – nachdem es zu Zwischenfällen gekommen war – mit bis zu zehn Jahre Haft: Solch eine drakonische Strafe droht in Zukunft kanadischen Impfgegnern, die Klinikpersonal einschüchtern und es in seiner Arbeit behindern.

Der Lockdown für alle kommt, das Hoffnungs-Narrativ der Politik zerbröselt. Wehe, wenn jetzt die Geimpften zornig werden. Vor zwei Wochen etwa ging es in Kommentaren noch darum, ob nun Geimpfte de facto zu »Geiseln« der (freiwillig) Ungeimpften würden, tausende Kommentare der leider schon gewohnte Geifereifer aus dem Eck der Impfgegner oder gar Querlingen, zum ersten Mal aber auch sichtbar: ein sprachlich kaum gebremster Zorn der Geimpften auf die Ungeimpften.

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Nov 2021 | Allgemein, Essay, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen | 1 Kommentar

Mit Beschluss vom 23. November 2021 hat die Landesregierung von Baden-Württemberg die Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus (Corona-Verordnung) erneut geändert. Die Änderungen treten am 24. November 2021 in Kraft.

 

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Nov 2021 | Heidelberg, Gesundheit, InfoTicker aktuell, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | Kommentieren
Ein Büromitarbeiter schläft an seinem Schreibtisch (Illustration).

Ruhig die Arbeit mal nicht so wichtig nehmen. Dafür plädiert Amrei Bahr.

Arbeit macht frei. Früher, da war Ausruhen im Job komplett verpönt, heute gehört es zum Achtsamkeitskonzept guter Arbeitgeber, für Entspannung zu sorgen. Das aber stabilisiere nur das System der Leistungsmaximierung, sagt die Philosophin Amrei Bahr.

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Nov 2021 | In Arbeit | Kommentieren

Über jeden Zweifel erhaben: So geben sich hier „Querlinge“

Zwei Soziologen haben sich – „die wir uns erlauben, Querlinge“ zu nennen  – die „Querdenken“-Bewegung in Baden-Württemberg genauer angesehen. Es ist ein erster Blick darauf, wie sie tickt, wer Teil davon ist und was sie von Protesten in Ostdeutschland unterscheidet.

Die Soziologin Nadine Frei und ihr Kollege Oliver Nachtwey haben im Auftrag der grünen Heinrich-Böll-Stiftung untersucht, was die »Querdenken«-Bewegung in Baden-Württemberg auszeichnet, und warum sie dort so stark verwurzelt ist. Ihre Erkenntnisse:

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Nov 2021 | In Arbeit | Kommentieren

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