Die Koalition von SPD, Grünen und FDP steht – so gut wie, jedenfalls – das ist seit Freitag wahrscheinlicher denn je. Aber wer hat sich in den Verhandlungen durchgesetzt? Und was kommt jetzt auf uns zu?
Als alles vorbei ist, als jeder sich und die anderen gelobt und das Ergebnis der Sondierungen eine große Chance genannt hat, da schaut Olaf Scholz zu Christian Lindner herüber. Und dann lächelt er ihn an. Die beiden stehen in einer Berliner Messehalle nebeneinander, wo die Wahrscheinlich-bald-Ampelkoalition sich an diesem Mittag getroffen hat.
Es geht weiter mit den Koalitionsverhandlungen, das ist die Hauptbotschaft, die SPD, Grüne und FDP dort verkünden. Wohl schon in der nächsten Woche. Die erste Einigung steht auf zwölf Seiten: dem Sondierungspapier. Olaf Scholz könnte also bald Kanzler sein. Und von Christian Lindners FDP finden sich auf den zwölf Seiten jede Menge Inhalte wieder.
Der Überblick: Wer hat sich wo durchgesetzt?
Im Sondierungspapier ist für jeden etwas dabei. Alle Parteien haben Projekte untergebracht, die sie unterbringen mussten – und dafür an anderen Stellen zurückgesteckt. Oder wie FDP-Chef Christian Lindner es formulierte: Man habe politische Unterschiede nicht zugeschüttet, sondern sich „um klare Richtungsentscheidungen bemüht“. Denn die seien „für Fortschritt nötig“.
Die SPD hat ihrer Forderung nach einem Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde durchgesetzt. Das Kapitel zu bezahlbarem Wohnen liest sich ebenfalls so, als entspringe der Großteil dem SPD-Programm. Allerdings fehlt bislang ein Mietenmoratorium. Hartz IV wird bald Bürgergeld heißen, wobei noch recht blumig formuliert ist, welche Verbesserung das konkret bedeutet.
Die Grünen freuen sich vor allem über durchaus Konkretes beim Klimaschutz. So sollen auf zwei Prozent der Fläche Deutschlands Windräder entstehen. Das Sondierungspapier enthält zudem eine Solarpflicht für Gewerbebauten, bei Privaten soll Fotovoltaik auf dem Dach zur „Regel werden“. Auch dass der Kohleausstieg beschleunigt werden soll, wird bei den Grünen als Erfolg gewertet. „Idealerweise gelingt das schon 2030“, steht im Papier. Bislang ist er bis 2038 geplant.
Für die FDP ist vor allem wichtig: Es sind keine Steuererhöhungen vorgesehen und die Schuldenbremse soll eingehalten werden. Weitere Erfolge der Liberalen kommen hinzu: Die Koalitionäre wollen „in eine teilweise Kapitaldeckung“ der gesetzlichen Rente einsteigen. Die Minijob-Grenzen werden heraufgesetzt. Und: Es wird kein Tempolimit geben.
Gibt es einen Gewinner?
Ja, die FDP. Die Partei konnte viele zentrale Wahlkampfforderungen durchsetzen, etwa ihr Nein zu jeglicher Steuererhöhung. Nicht einmal eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, die sich SPD und Grüne gewünscht hatten, wird kommen. Explizit wird ein anderer FDP-Klassiker festgehalten: der Abbau von Bürokratie (auch wenn das schon viele andere Regierungen planten).
Entscheidend ist, dass den Liberalen mit diesem Sondierungspapier kein Aufstand der eigenen Basis droht. Parteichef Christian Lindner hat damit erreicht, was er wollte. Er kann sagen: Wir bleiben glaubwürdig und können trotzdem mitregieren.
Dass die FDP vergleichsweise viel durchgesetzt hat, ist aus Sicht von SPD und Grünen sogar akzeptabel. Denn es war klar, dass die Liberalen für eine Ampelkoalition den längsten Weg zurücklegen mussten: Sie werden mit zwei eher linken Parteien regieren, ihr vielbeschworener „Wesenskern“ durfte dabei nicht allzu verwässern. Offenbar ist dies Lindner und seinem Generalsekretär Volker Wissing gelungen. In der Pressekonferenz brachte der FDP-Chef dann sogar noch einen seiner Lieblingssätze unter: „Wir sind eine eigenständige Partei.“
Wer sich am Freitag in der Partei umhörte, bekam viel Zufriedenheit zu spüren. Manch ein FDPler erklärte zwar noch, dass in den Koalitionsverhandlungen über die Details hart gerungen werden dürfte. Im Großen und Ganzen sei man aber zufrieden.
Zwei Wermutstropfen bleiben trotz des liberalen Verhandlungserfolgs: Im Sondierungspapier ist nicht von einer kompletten Abschaffung des Solidaritätszuschlags die Rede. Das ist auch eine der Ur-FDP-Forderungen. In den Jamaika-Verhandlungen 2017 wurde darüber noch hart gerungen. Die Liberalen setzen nun offenbar darauf, dass das Bundesverfassungsgericht in ihrem Sinne entscheidet.
Der andere bittere Punkt aus Sicht der Liberalen: Die bereits für das kommende Jahr angekündigte Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Versüßt wird dieser Schritt der FDP allerdings dadurch, dass die eigentlich dafür zuständige Kommission bereits festgelegt hatte, dass der Mindestlohn zum 1. Juli 2022 eh auf 10,45 Euro steigt. Nun werden es also gut 1,50 Euro mehr.
Wie soll das alles finanziert werden?
Wer soll das bezahlen? Wer hat so viel Geld? Das sind die Fragen, auf die jede Regierung Antworten geben muss. Eigentlich.
Denn SPD, Grüne und FDP bleiben ein Konzept schuldig. Zumindest bislang. Sie haben im Sondierungspapier nur festgelegt, was es auf Wunsch der Liberalen definitiv nicht geben wird: höhere Steuern.
Die drei Partner setzen also vermutlich auf das Prinzip Hoffnung, dass das Geld schon irgendwo herkommen wird. Was auf den ersten Blick völlig verantwortungslos klingt, ist bei genauerer Betrachtung aber gar nicht ganz so abwegig.
Implizit unterstellen die drei Parteien, dass es nochmal so super läuft wie zwischen 2009 und 2019: In dem Zeitraum stiegen die Einnahmen der öffentlichen Hand von knapp einer Billion auf mehr als 1,5 Billion Euro. Der Grund lag nicht in massiven Steuererhöhungen, sondern im Konjunkturboom. Der Haushalt sanierte sich quasi von selbst, weil die Ausgaben nicht ganz so schnell stiegen wie die Einnahmen. Vor Ausbruch der Corona-Krise wusste der Staat gar nicht, wohin mit all dem Geld.
Die Koalitionspartner hoffen also darauf, dass die Wirtschaft auch in den nächsten Jahren deutlich wächst. Das könnte sogar passieren, wenn es tatsächlich gelingt, Bürokratie abzubauen, Firmengründungen zu erleichtern und Planungsverfahren zu beschleunigen.
Mit anderen Worten: Die Antwort auf die offene Finanzierungsfrage verteilt sich auf den Rest des Sondierungspapiers. Und wenn das Geld nicht reichen sollte – vor allem mit Hinblick auf die nötigen Investitionen in Digitalisierung, Klimaschutz, Infrastruktur und Bildung – werden sich schon noch Wege finden. Wenn Politik eins nicht ist, dann unkreativ.
Was überrascht am meisten?
Wenn die Unterschiede in einem Politikbereich zwischen Parteien groß sind, gibt es in der Praxis häufig zwei Möglichkeiten: Es bleibt alles, wie es ist. Oder jeder Partner bekommt, was ihm am wichtigsten ist.
In der Rentenpolitik hat sich die Ampel für den zweiten Weg entschieden, also Win-Win-Win. Und das ist in der Tat eine große Überraschung.
Der wichtigste Satz aus Sicht der SPD im Sondierungspapier lautet: „Wir werden (…) die gesetzliche Rente stärken und das Mindestrentenniveau von 48 Prozent sichern.“ Stabile Renten waren eines der zentralen Wahlversprechen von Olaf Scholz. Dahinter konnte er nicht zurück. Und muss es auch nicht.
Aber auch die beiden anderen Koalitionspartner haben sich in der künftigen Rentenpolitik verwirklicht. Die FDP wollte eine sogenannte Aktienrente einführen. Nach dem Vorschlag der Liberalen sollte ein Teil der Beiträge, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer abführen, am Kapitalmarkt angelegt werden.
Ganz so weit geht die Vereinbarung nun zwar nicht, aber es steht der Satz drin: Wir werden „zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der Gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen.“ Dass das nicht wenig ist, sondern einer kleinen Revolution gleichkommt, zeigen die weiteren Details: So soll die Rentenversicherung bereits im kommenden Jahr einen Kapitalstock von zehn Milliarden Euro erhalten. Auch soll ihr erlaubt werden, ihre Reserven am Kapitalmarkt anzulegen.
Wichtig war FDP und Grünen auch eine Reform der privaten Altersvorsorge, denn die Riester-Rente gilt als gescheitert. Zwar steht im Papier nur, dass das Angebot eines „öffentlich verantworteten Fonds mit einem effektiven und kostengünstigen Angebot mit Abwahlmöglichkeit“ geprüft werden soll. Es ist also noch nicht sicher, dass es diesen tatsächlich geben wird. Aber relativ wahrscheinlich ist es schon.
Dann würden künftig wohl weniger Versicherer und Banken die Gelder der privaten Vorsorge anlegen, sondern vielmehr eine Art Staatsfonds. Das wäre ebenfalls ein großer Schritt. Zumal für den Fall der Fälle geplant ist, dass sich Bürger nicht mehr wie bisher aktiv für eine private Vorsorge entscheiden müssen, sondern offen widersprechen müssen, wenn sie diese nicht wollen.
Wenn man so will, könnten die Ampel-Partner mit der Kombination ihrer Forderungen tatsächlich erreichen, dass der berühmte Spruch von Norbert Blüm in Zukunft mehr denn je gilt: „Denn eins ist sicher: die Rente.“
Wer bekommt jetzt wieviele und welche Ministerien?
Angeblich ist das noch nicht sicher. Als Olaf Scholz bei der Pressekonferenz gefragt wurde, ob denn nun feststehe, wer welches Ministeramt übernehme, antwortete er mit nur einem Wort: „Nein.“ Tatsächlich ist auch im Sondierungspapier noch nicht festgelegt, wie die Ministerien künftig zugeschnitten sind und welche Partei welches Ressort übernimmt – geschweige denn tauchen die Namen der Minister auf.
Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass die Koalitionäre sich zumindest bereits schon grob darauf geeinigt haben. Denn die Verteilung der Ministerien ist zu wichtig, um sie nach dem Prinzip eines bekannten bayerischen Fußballphilosophen zu vergeben: Schaun mer mal, dann sehn mer scho.
Die Zuschnitte dürften also in der Tat zumindest grob feststehen, und es dürfte auch schon Listen mit Namen geben. Nur wurde bei Personalfragen wohl vereinbart, was die Sondierer bereits erfolgreich bei Inhalten praktizierten: eisernes Schweigen.
Wird Olaf Scholz auf jeden Fall Kanzler?
Davon gehen jetzt eigentlich alle aus. Selbst die FDP, die lange am skeptischsten war. Christian Lindner sagte auf der Pressekonferenz einen bemerkenswerten Satz: „Ich glaube, dass keine andere Konstellation als diese in der Lage ist, diese Herausforderung zu meistern.“
Er meinte damit die Aufgabe, Wohlstand mit Klimaschutz zu verbinden – die größte Herausforderung jeder Regierung in den nächsten Jahren. Von irgendwelchen Vielleicht-doch-noch-Jamaika-Überlegungen war überhaupt nichts mehr zu hören.
Gut möglich, dass Olaf Scholz tatsächlich schon als Kanzler die nächste Neujahrsansprache hält.