Wissenschaftsfreiheit in Deutschland ist nicht in Gefahr. Der Academic Freedom Index, der sie misst, attestiert der Bundesrepublik Bestnoten. Trotzdem sehen Professoren und Professorinnen, etwa vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit oder vom Deutschen Hochschulverband, die Freiheit von Lehre und Forschung erodieren. Durch eine „Cancel-Culture“ und das Einfordern inklusiver Sprache würden Lehrende in die Selbstzensur gezwungen. Auch über die wissenschaftlichen Debatten in ganzen Disziplinen wie den Gender-, Geschichts- oder Klimastudien wird geklagt, sie seien nicht offen genug.
Die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und gefühlter Wissenschaftsfreiheit erklärt sich durch einen Generationenkonflikt. Vor allem beim Klimawandel und in der Gleichberechtigung stehen sich die Interessen der Generationen zunehmend unvereinbar gegenüber. Die Jahrgänge über 55 möchten diese Themen überwiegend durch schrittweisen Wandel angehen. Die nach 1981 Geborenen fordern mehrheitlich eine konsequente und schnelle Einhegung des Klimawandels und umfassendere Gleichberechtigung. Doch die Generation 55+ bildet die Mehrheit, sie dominiert politische Entscheidungen und Wahlen – und so erschweren letztlich sogar die demokratischen Institutionen eine Befriedung dieses Generationenkonflikts.
Die Universität aber ist der prädestinierte Ort, um Streit auszutragen. Hier treffen Generationen direkt aufeinander, hier sind sie in klare Statusgruppen aufgeteilt: Professorenschaft auf der einen Seite, Studierende und prekär beschäftigte Forschende auf der anderen. Die Konstellation ist vergleichbar mit der Studentenrevolte der 68er. Statt Sit-ins gibt es bisher Diskussionen um inklusive Sprache und den Umgang mit Minderheiten. Im Extremfall werden Professoren und Professorinnen ausgepfiffen oder erleben einen Shitstorm.
Den Generationenkonflikt als Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit zu interpretieren ist problematisch, denn das blendet die herrschenden Machtverhältnisse aus. Der Vorwurf mangelnder Political Correctness wird in der Regel von Studierenden oder Nachwuchsforschenden erhoben. Ihre Möglichkeiten, die viel mächtigere Professorenschaft in die Selbstzensur zu zwingen, sind in Wahrheit begrenzt.
Auch der Vorwurf, dass der wissenschaftliche Diskurs sich zunehmend verenge, ist unscharf – insbesondere, wenn er mit Blick auf die Klimadebatte erhoben wird. So beklagt etwa Bernhard Kempen, Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, eine „Engführung des wissenschaftlichen Diskurses auf einigen Forschungsfeldern wie der Klimaforschung“. Tatsächlich gibt es einen breiten, evidenzbasierten Konsens. Und wer sich an der Universität außerhalb dieses Konsenses stellt, steht in der Pflicht, die Evidenz zu widerlegen. Dies zu verlangen ist keine Einhegung des Diskurses – sondern gute wissenschaftliche Praxis.
Die Universität ist eine Risikozone. Und zwar für alle. Studierende sehen sich Lehrinhalten ausgesetzt, die ihre Weltsicht infrage stellen. Professoren stehen einer Generation gegenüber, der gängige Begrifflichkeiten, Methoden und Ansätze nicht mehr genügen. Anerkannte Forscherinnen mögen dadurch einen Bedeutungsverlust erleiden, doch die Wissenschaftsfreiheit ist davon nicht bedroht. Nicht alles, was die junge Generation hervorbringt, wird sich bewähren. Zuhören aber lohnt sich: Gendergerechte und postkoloniale Ansätze etwa sind Ausdruck einer pluralen Wissenschaftslandschaft und potenzielle Saat des Fortschritts.
In Deutschland ist die Wissenschaftsfreiheit verfassungsmäßig garantiert und gelebte Realität. Dennoch müssen Studierende, Lehrende, Forschende dauerhaft für sie eintreten. Die Sorge um sie darf aber nicht zum Schutzschild gegen Argumente der jüngeren Generationen werden. Ausgestattet mit Beamtenprivilegien, sollte es gerade Professorinnen und Professoren möglich sein, den Forderungen der Jüngeren gelassen zuzuhören. Sogar dann, wenn deren Ton schrill ist oder sie als Shitstorm einherkommen.