Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping will das Land wieder sozialistischer machen. Sein neuer Slogan ist der „gemeinsame Wohlstand“. Er will das Geld gerechter umverteilen. Konzerne spenden plötzlich Milliarden für wohltätige Zwecke, die Mieten werden gedeckelt und Steuerhinterziehung stärker bekämpft. Diese Maßnahmen sind aber nur Show, meint Fabian Peltsch. „Das alles hängt natürlich damit zusammen, dass Xi Jinping sich im nächsten Jahr für eine dritte Amtszeit bestätigen lassen will. Und das bricht mit der Tradition, die der wichtige Reformer Deng Xiaoping Ende der 1970er Jahre eingeführt hatte, nämlich, dass Staatschefs nur noch zwei Amtszeiten haben dürfen, damit eben so etwas wie mit Mao Zedong nicht mehr passiert. Dass man eine einzelne Führerperson hat, die das Schicksal des Landes bestimmt.“

Dass der Präsident länger im Amt bleiben will, mache viele Chinesen nervös. „Xi Jinping will jetzt zeigen, dass er ein zuverlässiger Führer und immer noch ein echter Kommunist ist. Er lässt das Kapital und die Privatfirmen nicht alles machen, was sie wollen. Eine seiner wichtigsten Kampagnen, die er immer wieder betont hat und die vor allem in den letzten zwei Jahren immer wichtiger wurde, ist die Losung vom gemeinsamen Wohlstand für alle“, weiß Fabian Peltsch.

Und dieser Plan scheint zu funktionieren. Die chinesische Mittelschicht wachse, die Menschen könnten sich mehr leisten, sagt der Sinologe. Die Bevölkerung jedenfalls freut sich über die Umverteilung und Xi Jinpings Kampf gegen Kapital, Korruption und Armut, schreibt das Wall Street Journal. Punkten kann er damit vor allem bei seiner Parteibasis, der Arbeiterklasse und der armen Landbevölkerung. Noch ein Jahr hat der Präsident Zeit, seine Machtbasis zu zementieren und das Volk noch mehr hinter sich zu bringen. Im Herbst 2022 steht der Parteitag an. Dass er dort als Präsident wiedergewählt wird, ist wahrscheinlich.

Okt 2021 | In Arbeit | Kommentieren

Die Linke will Konsequenzen aus ihrer Wahlschlappe ziehen. Doch ihr droht neuer Streit um (Bild) Sahra Wagenknecht – die dem direkten Gespräch selbst aus dem Weg geht. Aber Dietmar Bartsch gab seinen Anhängern zum Wochenende eine Durchhalteparole mit auf den Weg. „Wir sind noch da, wir stehen wieder auf, kommen zurück und zwar stark, geeint und entschlossen“, betonte der Linken-Fraktionschef.

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Okt 2021 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren

Auch Leonardo da Vinci läßt es rumpeln …

Annalena Baerbock und Robert Habeck haben sich eine staatstragende Kulisse ausbaldowert, um den Aufbruch zur Ampel zu verkünden. Die beiden Grünen-Vorsitzenden treten am Mittwochmorgen auf der Fraktionsebene im Reichstag vor zwei Mikrofone, hinter ihnen die gläserne Kuppel, durch die man hinunter in den Plenarsaal schauen kann. Die Grünen – so Baerbock – schlügen der FDP jetzt vor, vertieft mit der SPD zu sprechen. Das Land könne sich „keine lange Hängepartie“ leisten, dafür trügen alle demokratischen Parteien eine Verantwortung. Nach ihr redet Habeck. „Die Gespräche der letzten Woche haben gezeigt, dass dort die größten inhaltlichen Schnittmengen denkbar sind.“ Denkbar heiße aber ausdrücklich, „dass der Keks noch lange nicht gegessen ist“. Es gebe auch in dieser Variante erhebliche Differenzen. Das ist, wenn auch vorsichtig formuliert, nichts anderes als (taz) „eine Vorentscheidung für die Ampel“.

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Okt 2021 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren

„Wozu Atomkraftwerke? Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose!“ Das war ein beliebter Witz in den Achtzigern, wo man noch offen über Ökos lachen durfte und mit gespielter Naivität das eigene Verbraucherverhalten verhohnepipelte. Heute mutet der Witz wie ein Kassandra-Ruf an: Die deutsche Energiewende droht gleich nach dem Abbiegen an die Wand zu fahren. Aber kaum jemand ist sich der bedrohlichen Lage bewusst – der Strom fließt ja noch.

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Okt 2021 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Wirtschaft, Wissenschaft, Zeitgeschehen | 5 Kommentare
Annalena Baerbock und Robert Habeck haben sich eine staatstragende Kulisse ausbaldowert, um den Aufbruch zur Ampel zu verkünden. Die beiden Grünen-Vorsitzenden treten am Mittwochmorgen auf der Fraktionsebene im Reichstag vor zwei Mikrofone, hinter ihnen die gläserne Kuppel, durch die man hinunter in den Plenarsaal schauen kann.

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Okt 2021 | In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | Kommentieren
Lassen Sie sich zu Beginn in das Jahr 2017 entführen. Sie erinnern sich: Das war das Jahr, in dem Donald Trump als neuer US-Präsident vereidigt wurde, sich mit #Metoo eine weltweite Bewegung gegen Sexismus formierte und in Hamburg die G20-Proteste eskalierten.
Auch damals hatte Deutschland gerade eine Bundestagswahl hinter sich. Die SPD setzte ihren Absturz fort, die Union kam zwar auf ein aus heutiger Sicht nahezu traumhaftes Ergebnis von 32,9 Prozent, war aber dennoch kein strahlender Sieger. Auch sie hatte massiv Stimmen verloren, Beobachter bescheinigten ihr schon damals Profillosigkeit und blasses Führungspersonal. Dazu kam der Ärger der Konservativen in der Union über Merkels Flüchtlingspolitik.
Ziemlich genau zur gleichen Zeit erhob sich in unserem Nachbarland ein neuer Stern am Himmel der Konservativen: Der 31-jährige Sebastian Kurz hatte in einem atemberaubenden Tempo erst den Vorsitz der österreichischen Partnerpartei übernommen und sie dann noch am 15. Oktober mit knapp 31,5 Prozent (ein Plus von 7,5 Prozentpunkten) zum Wahlsieg geführt. Bei den Neuwahlen 2019 kletterte die Partei um weitere sechs Punkte nach oben.
Kurz, zuvor Außenminister, hatte die ÖVP von ihrem staubigen Image befreit und radikal auf sich zugeschnitten: Aus schwarz wurde türkis, aus der Österreichischen Volkspartei die „Liste Sebastian Kurz“ mit einem rechteren Profil. Und Kurz schaffte das, was den Konservativen hierzulande kaum mehr gelang: junge Wähler zu mobilisieren.
Kurz am Wahlabend am 15. Oktober 2017: Sein rasanter Aufstieg bescherte ihm in Österreich den Spitznamen
Kurz am Wahlabend am 15. Oktober 2017: Sein rasanter Aufstieg bescherte ihm in Österreich den Spitznamen „Wunderwuzzi“.
Sebastian Kurz, das politische „Wunderkind“ – oder wie man ihn in Österreich nennt: „Wunderwuzzi“ (Tausendsassa): Dieser glänzende Schein fand auch in Deutschland seine Bewunderer. Vor allem junge Christdemokraten und die CSU zeigten sich begeistert: So lassen sich Wahlen also auch Mitte rechts gewinnen! „Das ist ein Auftrag, auch gerade für die beiden Unionsparteien in Deutschland, das politische Spektrum von der Mitte bis zur demokratischen Rechten abzubilden“, sagte etwa der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Deutschlands größte Boulevardzeitung lobte ihn als „Klartext-Kanzler“ und forderte immer wieder: „So einen brauchen wir auch“.
Zurück in die Gegenwart: Ziemlich genau vier Jahre nach dem schwindelerregenden Aufstieg des „Wunderkindes“ erinnert die Situation in Österreich weniger an eine Erfolgsgeschichte als an die berühmte Netflix-Serie „House of Cards“, in der sich ein machthungriger Politiker immer weiter in dunkle Machenschaften verstrickt.
Zwar werfen schon die Ibiza- und die Casino-Affäre Schatten auf Kurz‘ Amtszeit, am Mittwoch aber platzte die bisher wohl größte Bombe. Ermittler durchsuchten nicht nur die ÖVP-Parteizentrale, sondern auch das Kanzleramt – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Zweiten Republik.
Kurz zusammengefasst: Der heutige Kanzler und seine Vertrauten sollen 2016 und 2017 für mehr als eine Million Euro aus Steuermitteln geschönte Umfragen und wohlwollende Berichte in einer österreichischen Tageszeitung gekauft haben – also genau in der Zeit des rasanten Aufstiegs. Das Geld soll über den Kauf von Werbeinseraten zu der Zeitung geflossen sein. So liest es sich in den Ermittlungsakten der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), die das österreichische Magazin Falter bis ins Detail ausgewertet hat. Sie sieht hinter diesem Konstrukt Kurz als Strippenzieher. Als Belege gelten zahlreiche Chats aus dem Umfeld des Kanzlers. Sowohl Kurz, sein Umfeld und auch das Medienhaus streiten die Vorwürfe ab.
Das ganz große Erdbeben ist bisher aber ausgeblieben. Die Opposition fordert zwar seinen Rücktritt, der grüne Koalitionspartner denkt aber noch auf der Situation rum. Das Angebot, die Regierung weiterzuführen, wenn Kurz zurücktritt, lehnte die ÖVP bereits ab. Die Parteispitzen in Bund und Ländern versammeln sich bisher geschlossen hinter ihrem Vorsitzenden.
Vielleicht hat sich Österreich einfach auch schon zu sehr an solche Geschichten gewöhnt. Denn wie tief mittlerweile der Sumpf im politischen Wien ist, zeigt ein Blick auf die vergangenen Monate und Jahre. Sowohl die Ibiza-Affäre (dazu lesen Sie mehr hier) als auch die Casino-Affäre (dazu mehr hier) begannen zwar bei dem früheren Koalitionspartner von Kurz, der rechtspopulistischen FPÖ, zogen dann aber weitere Kreise in die ÖVP. Auch gegen Kurz wird wegen Falschaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss ermittelt.
Auch die jetzigen Durchsuchungen haben einen absurden Anstrich:Schon Mitte September berichteten Zeitungen, dass die Parteizentrale durchsucht werden soll – offenbar hatte sich das in Wien bereits rumgesprochen. Die Anfragen dazu häuften sich bei der ÖVP so sehr, dass die Partei entschied, eine, gelinde gesagt, irritierende Pressekonferenz dazu abzuhalten. „Bei uns ist nichts mehr zu finden. Es gibt nichts mehr“, sagte die stellvertretende Generalsekretärin Gaby Schwarz dort laut der Zeitung „Kurier“ und führte aus: Die ÖVP habe gelernt, nichts Privates auf ihren Handys zu speichern, es werde nur noch das gesichert, was gesetzlich gesichert werden muss. Ein anderer ÖVP-Politiker läutete nur Stunden vor der Durchsuchung einen Angriff auf die ermittelnde Staatsanwaltschaft ein: Dort gebe es „linke Zellen“, verkündete er. Die Durchsuchungen nannte die Partei dann „inszeniert“ und „politisch motiviert“.
Natürlich müssen weitere Ermittlungen klären, inwieweit sich die Vorwürfe erhärten. Dennoch zeichnet die ÖVP ein fatales Bild: das einer Regierungspartei, die sich nicht einmal die Zeit nimmt, sich mit Ermittlungen zu befassen und stattdessen gegen die Justiz hetzt. Und die sich scheinbar bedingungslos hinter einem Vorsitzenden versammelt. Einer demokratischen Partei ist das nicht würdig.
Wenn auch noch nicht sein Amt, so hat Kurz zumindest seinen Glanz verloren. In Österreich spaltet er die Bevölkerung und auch hierzulande gibt es nur noch wenige, die in den vergangenen Wochen noch das Bild vom „Wunderwuzzi“ hochhielten. Gut so, denn als Vorbild taugt diese ÖVP wahrlich nicht. 
Okt 2021 | In Arbeit | Kommentieren

YTT_Youth Late Night Show Heidelberg

Als eine von drei Bürgermeistern weltweit wurde Sozialbürgermeisterin Stefanie Jansen ausgewählt, für die UNESCO ICCAR (Internationale Koalition Inklusiver und Nachhaltiger Städte) die Arbeit Heidelbergs im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung auf dem World Human Rights Cities Forum (WHRCF) vom 7. bis 10. Oktober 2021 vorzustellen.
Das World Human Rights Cities Forum findet jährlich in Gwangju (Südkorea) statt und führt Vertreter von Städten und Kommunen zusammen, die Menschenrechte ins Zentrum ihrer Arbeit stellen.

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Okt 2021 | Heidelberg, InfoTicker aktuell, Junge Rundschau, Zeitgeschehen | Kommentieren

In „Die Hohenzollern und die Nazis“ erzählt Stephan Malinowski für das große Publikum, wie Mitglieder der Monarchenfamilie zu Steigbügelhaltern Hitlers wurden:

In der Nacht des 30. Januar 1933 wurden in Berlin der Oberwachtmeister Josef Zauritz und der SA-Führer Hans Maikowski erschossen, der an der Spitze des berüchtigten „Mördersturms 33“ gestanden hatte. Die Totenwache von Tausenden SA-Männern in Charlottenburg mündete in eine spektakuläre Trauerfeier im Berliner Dom. Sie war als Staatsbegräbnis inszeniert; auch der neue Reichskanzler Adolf Hitler nahm teil, in dessen Kabinett die NSDAP noch auf die Unterstützung der DNVP und parteiloser Exponenten der politischen Rechten angewiesen war.

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Okt 2021 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Junge Rundschau, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren
Cary Fukunagas James-Bond-Film „No Time to Die“ ist ein männliches Melodrama, in dem der Hauptprotagonist seine Tränen hinter Nebelschwaden, Rauch und aufspritzendem Wasser verbirgt. Was tun, wenn man das Ende eines Helden erzählen muss, dessen selling point darin besteht, dass er sich aus garantiert jeder misslichen Situation hinaus lavieren kann?

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Okt 2021 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau, Film | Kommentieren
wussten Sie, dass ein Maulwurf mit einer Geschwindigkeit von sieben Metern pro Stunde gräbt? Dass er sogar klettern kann? Oder vielleicht, dass sein Fell keinen Strich hat, weshalb er unglaublich wendig ist?
Dieses „unter der Erde lebende, Insekten und Regenwürmer fressende Tier mit kurzhaarigem, dichtem Fell, kleinen Augen und kurzen Beinen, von denen die vorderen zwei zum Graben ausgebildet sind“, wie es im Duden beschrieben wird, ist schon faszinierend. Und auch irgendwie putzig. Zumindest wenn man keinen Garten hat, der von einem dieser Exemplare unterwandert und mit diversen Erdhügeln versehen wird.
Oder wenn man nicht Bundeskanzler werden will.
Nun wird eben dieses Vorhaben von CDU-Noch-Chef Armin Laschetnicht wirklich von einem tierischen „Erdwerfer“ torpediert, wie es der Bedeutung von „Maulwurf“ entspricht. Der Noch-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen (Lesen Sie hier ein Portrait seines Nachfolgers) hat es eher mit einem groß gewachsenen Exemplar mit vergleichsweise langen Beinen, großen Augen und wenig Fell zu tun: mit einem Menschen, den man auch Verräter oder Informant nennen kann.
Warum so jemand als Maulwurf bezeichnet wird? Mit einer vergleichbaren Lebenserwartung von vielleicht ein bis zwei Jahren hat das wohl nichts zu tun. Mit der körperlichen Verfassung wie schon beschrieben ebenfalls nicht. Stattdessen geht es um die Fähigkeit des Untergrabens, die diese Spezies gemein haben. In der Natur erklärt die sich von selbst. In der Politik zeichnet sie jemanden aus, der zum Beispiel vertrauliche Informationen aus den Sondierungsgesprächen nach draußen gibt, die eigentlich zu einer vertrauensvollen Regierungsbildung in Deutschland führen sollen.
So wie das gerade jemand getan hat.
Wer das ist, weiß der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Der verrät den Verräter aber nicht. Darüber hinaus gibt es Gerüchte um zwei wichtige Persönlichkeiten der Union, wie meine Kollegen Tim Kummert und Johannes Bebermeier schreiben.
Aber fangen wir von vorn an.
Der erste Fall: Nach den Sondierungen von FDP und Union gab der Maulwurf gegenüber „Bild“ unter anderem zu Protokoll, dass die FDP-Spitze hinter verschlossenen Türen eine deutliche Ansage an die Union gemacht habe, dass diese jetzt die Grünen „rüberziehen“ müsse in Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis und damit weg von der Ampel. Die will die SPD unbedingt, die Grünen präferieren sie ebenfalls und die FDP möchte sie eigentlich nicht.
Die inhaltliche Brisanz der Aussage hält sich in Grenzen. Denn eigentlich ist jedem Beobachter des Treibens in der Hauptstadt klar: Entweder SPD und Grüne ziehen die FDP zur Ampel rüber, oder die Union und FDP die Grünen zu Jamaika. Oder es gibt einen großen Scherbenhaufen namens große Koalition, weil die ersten beiden Szenarien nicht klappen.
Bei Twitter, also dem sozialen Netzwerk, das im Vergleich zu Facebook und Instagram vorgestern keinen Zusammenbruch erlitten hat, echauffierte sich FDP-Vize Johannes Vogel dennoch. Er habe an drei Sondierungsgesprächen teilgenommen. Aus zweien höre man nichts, aus einem würden dagegen Informationen durchgestochen. „Das fällt auf, liebe Union – und es nervt!“
Selbst in der Union hielt sich die Freude in Grenzen. CDU-Bildungsministerin von Schleswig-Holstein Karin Prien: „Was für eine charakterlose, miese Nummer.“
Zu dem Zeitpunkt waren drei Sondierungsgespräche absolviert.
Der zweite Fall: Gestern Vormittag sondierten dann Grüne und die Union. Auf die Indiskretion nach dem oben beschriebenen Gespräch angesprochen, versuchte Laschet, das Thema Maulwurf unter den Teppich, oder besser, unter die Erde zu kehren. So sagte er gestern: „Ich habe auch etwas gelesen über das Gespräch zwischen der SPD und den Grünen. Das ist nicht gut, wenn es geschieht. Aber wir haben uns mehr mit der Frage beschäftigt: Wie kann man eigentlich diese riesigen Aufgaben, die vor uns liegen, lösen?“
Ein paar Stunden später titelte „Bild“: „DAS besprachen Union und Grüne heute wirklich.“ Der Inhalt: Die Grünen-Spitze habe zum Ausdruck gebracht, dass die Erwartungshaltung in der Partei eine Ampel-Koalition sei. Zudem hätten sich beide Parteien nicht wirklich angenähert bei entscheidenden Themen. Eine brisante Erkenntnis? Nicht wirklich. Eine Indiskretion? Offenbar ja.
Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner twitterte gestern Abend entsprechend: „Es gab in den letzten Tagen vier Sondierungsgespräche. Aus zweien liest und hört man nix. Aus zweien werden angebliche Gesprächsinhalte an die Medien durchgestochen. Das fällt auf, liebe Union – und es nervt!“
Dass der Wortlaut ungefähr dem von Vogel entspricht, mag in Anbetracht der plötzlichen Einigkeit der einst verhassten FDP und Grünen witzig anmuten, auch wenn das vermutlich nicht so gemeint ist. Was die Vorgänge in jedem Fall sind: absurd.
Es ist nicht übertrieben zu sagen: In Berlin hält ein Maulwurf die Spitzenpolitik in Atem. Im übertragenen Sinne hinterlässt er mal hier ein Erdhäufchen und mal dort. Sodass sich viele der Sondierer mindestens so aufregen wie über die Erdhügel in ihren Gärten.
Sie mögen sich nun fragen: Was soll das Brimborium? Nach den vergangenen Bundestagswahlen landeten auch stets Informationen aus Koalitionsgesprächen in der Zeitung oder bei einem Nachrichtenportal. Seit jeher werden Informationen „durchgestochen“. Und früher hielt sich die Aufregung doch auch in Grenzen.
Doch diesmal ist einfach vieles anders. Es wird zum ersten Mal ein Dreierbündnis geben (wenn es keinen Scherbenhaufen namens große Koalition geben soll). Und die Teilnehmer der bisherigen Runden haben sich nun mal darauf geeinigt, dass Vertraulichkeit und Verlässlichkeit, wie es Grünen-Chefin Annalena Baerbock immer wieder betont, die künftige Regierung auszeichnen sollen.
Schlechtes Wetter, gute Laune: Armin Laschet (vorne links) und Annalena Baerbock (rechts). (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)
Schlechtes Wetter, gute Laune: Armin Laschet (vorne links) und Annalena Baerbock (rechts). (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)
Natürlich gibt es darauf verschiedene Sichtweisen. Aus journalistischer Sicht ist es eine erstrebenswerte und bemerkenswerte Leistung, an vertrauliche Informationen zu kommen, gerade aus den Sondierungsgesprächen. Je tiefer die liegen, desto höher ist die Leistung zu bewerten, sie ausgebuddelt zu haben. Dies überhaupt zu tun ist nicht nur legitim, sondern sogar wichtig. In der Bevölkerung gibt es ein großes Informationsbedürfnis. Es möchte beispielsweise niemand, dass im Hinterzimmer Versprechen der Parteien über Bord geworfen werden, die Sie als Bürgerin oder Bürger womöglich erst dazu gebracht haben, diese zu wählen.
Aus Sicht des Maulwurfs geht es darum, seine wahrscheinlich vorwiegend persönlichen Interessen durchzusetzen. Im Fall der Union ist das womöglich ein Scheitern der Gespräche über Jamaika. Um anschließend Laschet in Rente schicken zu können? Um selbst wie Phönix aus der Asche emporsteigen zu können und der neue starke Mann zu werden? Dem Maulwurf muss klar sein, dass er einen Vertrauensbruch begeht, der Folgen haben wird.
Aus Sicht der oder des Verratenen ist es mindestens ärgerlich. Im Fall Laschet könnte die Indiskretion den Parteichef endgültig das Kanzleramt und die politische Karriere kosten. Zugegeben: Ein Jamaika-Bündnis ist auch gestern nicht wahrscheinlicher geworden. Erst recht nicht mit Laschet an der Spitze. Aber: Es ist gut möglich, dass die ohnehin genervten Sondierer von Grünen, SPD und FDP nach dieser erneuten Indiskretion vom Verhandlungstisch aufstehen und die Union in die Opposition schicken. Deshalb war die Stimmung bei Laschet gestern Abend auch nicht mehr so gelassen wie zuvor. In Düsseldorf kommentierte auch er: „Es nervt.“
„Wie die Beatles“, scherzte Grünen-Chef Robert Habeck (v. l.) beim Presse-Statement zu viert nach den Sondierungsgesprächen, also mit CDU-Chef Armin Laschet, Grünen-Chefin Annalena Baerbock und CSU-Chef Markus Söder. (Quelle: Michele Tantussi/Reuters)
Eine Sicht fehlt hier noch – und das ist vielleicht die Wichtigste. Die von Ihnen und uns als Bürgerinnen und Bürger. Wenn Sie mit Ihrer Chefin oder Ihrem Chef über Ihr Gehalt sprechen, mit einem Psychologen über Probleme, mit Ihrer Bank über Finanzen oder mit Geschäftspartnern über Projekte, anschließend Stillschweigen vereinbaren und dann ein paar Tage später von Nachbarn auf Ihren Kredit, Ihre Sorgen, Ihren Gehaltswunsch oder das Projekt angesprochen werden, fühlt sich das nicht gut an.
Und bei der neuen Regierung geht es nicht nur um Ihre Gehaltsvorstellungen und Sorgen, sondern mindestens um die Zukunft von 80 Millionen Bundesbürgern. Und einigen Maulwürfen. Im Erdreich, aber auch in der Politik.
So geht es weiter mit der Regierungsbildung
Die erste Sondierungsrunde ist abgeschlossen. Am heutigen Mittwoch wollen Grüne und FDP über den weiteren Kurs entscheiden. Zunächst separat, das kündigte Grünen-Chefin Annalena Baerbock an. Bundesvorstand, Parteirat und das 24-köpfige erweiterte Sondierungsteam beginnen entsprechend um 9 Uhr. Der FDP-Bundesvorstand will ebenfalls am Vormittag in einer außerplanmäßigen Schalte beraten. Laut Baerbock wollen die beiden Parteien danach eventuell gemeinsam entscheiden, welche weiterführenden Sondierungen es geben soll.
Drei Szenarien sind denkbar. Szenario eins: FDP und Grüne intensivieren ihre Gespräche mit der SPD über eine Ampel-Koalition und beenden die mit der Union. Szenario zwei: FDP und Grüne intensivieren die Gespräche mit der Union über eine Jamaika-Koalition und beenden die mit der SPD. Szenario drei: FDP und Grüne führen ihre Gespräche sowohl mit der Union als auch mit der SPD fort und loten aus, wie sich die Verhandlungen entwickeln. Am wenigsten wahrscheinlich ist Szenario vier: FDP und Grüne beenden die Gespräche und überlassen Union und SPD das Feld für eine Neuauflage der großen Koalition.
Okt 2021 | In Arbeit | Kommentieren

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