Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

Okt 2021 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren

Die Koalition von SPD, Grünen und FDP steht – so gut wie,  jedenfalls – das ist seit Freitag wahrscheinlicher denn je. Aber wer hat sich in den Verhandlungen durchgesetzt? Und was kommt jetzt auf uns zu?
Als alles vorbei ist, als jeder sich und die anderen gelobt und das Ergebnis der Sondierungen eine große Chance genannt hat, da schaut Olaf Scholz zu Christian Lindner herüber. Und dann lächelt er ihn an. Die beiden stehen in einer Berliner Messehalle nebeneinander, wo die Wahrscheinlich-bald-Ampelkoalition sich an diesem Mittag getroffen hat.

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Okt 2021 | Allgemein, In vino veritas, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren

Kein Tag vergeht, ohne dass einer der rot-grün-gelben Zeremonienmeister den Beginn einer neuen Ära beschwört. „Wir fühlen uns gemeinsam beauftragt, in Deutschland einen neuen Aufbruch zu organisieren“, brüstet sich FDP-Missionar Christian Lindner. „Es wird das größte industrielle Modernisierungsprojekt, das Deutschland wahrscheinlich seit über 100 Jahren durchgeführt hat“, frohlockt SPD-Kanzler in spe Olaf Scholz, und Grünen-Apostel Robert Habeck predigt: „Wir sind in einer Hoffnungszeit angekommen.“ Halleluja!

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Okt 2021 | Allgemein, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Zeitgeschehen | Kommentieren
„Aufbruch“ – das meistbemühte Wort der Stunde. Kein Tag vergeht, ohne dass einer der rot-grün-gelben Zeremonienmeister den Beginn einer neuen Ära beschwört. „Wir fühlen uns gemeinsam beauftragt, in Deutschland einen neuen Aufbruch zu organisieren“, brüstet sich FDP-Missionar Christian Lindner. „Es wird das größte industrielle Modernisierungsprojekt, das Deutschland wahrscheinlich seit über 100 Jahren durchgeführt hat“, frohlockt SPD-Kanzler in spe Olaf Scholz, und Grünen-Apostel Robert Habeck predigt: „Wir sind in einer Hoffnungszeit angekommen.“ Halleluja!
An großen Worten herrscht in diesen Tagen ebenso wenig Mangel wie an großen Herausforderungen. Die künftigen Bestimmer wollen Deutschland gleichzeitig klimaneutralisieren, digitalisieren, entbürokratisieren, sozial egalisieren und stärker europäisieren – und das Kunststück fertigbringen, all das auch noch irgendwie zu finanzieren. Wie genau, wissen sie zwar noch nicht, man raunt nun viel über neue Schulden, bisher hatte die Stunde der Wahrheit noch nicht geschlagen.
Das ändert sich jetzt: Nach den Sondierungen beginnen diese Woche die formalen Koalitionsverhandlungen, in der um Punkt und Komma gerungen wird. Erst dabei wird sich abzeichnen, ob den großen Worten große Taten folgen können – und ob die neue politische Dreifaltigkeit tatsächlich in der Lage ist, das Land mit wegweisenden Weichenstellungen zu beglücken. Aber auch hernach ist noch nicht alles in trockenen Tüchern. Wie viel (oder wie wenig) manche vollmundige Ankündigung wert ist, erkennt man, wenn man sie in den historischen Kontext stellt.
Schon zweimal in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein sozialdemokratischer Kanzler das Ruder von der CDU übernommen.Anno 1969 personifizierte Willy Brandt den Aufbruchsgeist der Studentenproteste, er versprach gesellschaftliche Modernisierung nach den biederen Jahren Konrad Adenauers und dessen Kurzzeit-Diadochen Erhard und Kiesinger. Brandt wollte innenpolitisch „mehr Demokratie wagen“ und außenpolitisch mit der „neuen Ostpolitik“ den Kalten Krieg entspannen. Knapp 30 Jahre später, anno 1998, versprachen Gerhard Schröder und Joschka Fischer wiederum einen Aufbruch: Sie wollten den Kohl’schen Reformstau auflösen und setzten allerlei Kommissionen ein, um den Arbeitsmarkt, die Bundeswehr, das Zuwanderungsrecht und die Rente umzumodeln.
Doch wie das so ist im Leben, so ist es auch in der Politik: Pläne sind nur so lange groß, bis sie auf die Realität treffen. Willy Brandt errang zweifellos Erfolge, doch nach mehreren Abgängen in der SPD-Fraktion, einem turbulenten Misstrauensvotum, seiner hart erkämpften Wiederwahl und den Mühen des politischen Alltags erlahmte sein Gestaltungswille so rasant, dass sein Intimfeind Herbert Wehner bald spottete: „Der Herr badet gerne lau.“ 1974 folgte die Guillaume-Affäre, Rücktritt, Ende Legende.
Auch Rot-Grün wurde nach dem historischen Wahlsieg 1998 von der harten Realität eingeholt: Im Zoff mit Genosse-der-Bosse-Schröder verließ Oberfinanzminister Oskar Lafontaine erst die Regierung, später auch die Partei, nahm das linke SPD-Lager mit und piesackte seine alten Buddys seither bei jeder Gelegenheit. Die sahen sich unterdessen mit einer außenpolitischen Krise nach der anderen konfrontiert – Balkankriege, Terror von 9/11, Afghanistan, Irakkrieg –, sodass kaum Luft für großartige Reformen blieb. Erst vier Jahre nach ihrem Amtsantritt raffte sich Schröders Regierung zu den Hartz-Reformen auf, wagte viel – und schaufelte sich damit zugleich ihr politisches Grab. Sic transit gloria mundi.
Was lässt sich aus diesen Erfahrungen lernen, im Hinblick auf die künftige Bundesregierung, die erstmals von gleich drei sehr unterschiedlichen Parteien getragen werden soll? Vielleicht ganz einfach dies: Wichtiger als hochtrabende Pläne ist Stabilität – durch gegenseitiges Vertrauen, Berechenbarkeit und Seriosität. Dafür die Grundlage zu legen und sie im Folgenden zu erhalten, ist die schwierigste Aufgabe einer Regierung. Die Probleme kommen dann von ganz allein.
Fast auf den Tag genau 23 Jahre ist es her, dass Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine die Unterzeichnung des ersten rot-grünen Koalitionsvertrags im Bund feierten.  (Quelle: imago images)
Fast auf den Tag genau 23 Jahre ist es her, dass Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine die Unterzeichnung des ersten rot-grünen Koalitionsvertrags im Bund feierten. (Quelle: imago images)
Okt 2021 | In Arbeit | Kommentieren

Von Wasserstoff zu Antiwasserstoff

73 Jahre später hält die Atomphysik des Wasserstoffs kaum noch Überraschungen bereit. Aber es gibt ja noch sein Spiegelbild, den Antiwasserstoff. Statt eines Protons besteht sein Kern aus einem Antiproton – es ist das negativ geladene Antiteilchen des Protons. Dazu gesellt sich ein Positron, das Spiegelbildteilchen des Elektrons.

Antiprotonen und Positronen sind Raritäten auf der Erde. Forscher können sie nur in winzigen Mengen herstellen. Antiprotonen entstehen bei Kollisionen an Teilchenbeschleunigern, Positronen bei radioaktiven Zerfällen. Und ganz so, wie aus einem Elektron und einem Proton Wasserstoff wird, lässt sich aus Positron und Antiproton ein Antiwasserstoffatom zusammensetzen.

So weit die Theorie. In der Praxis ist es sehr schwer, die Antiteilchen zusammenzubringen und sie dabei nicht in Kontakt mit gewöhnlicher Materie kommen zu lassen. Letzteres würde die Antimaterie sofort zerstören, schließlich löschen sich Teilchen und Antiteilchen in einem Lichtblitz auf, wenn sie sich begegnen.

Am Genfer Forschungszentrum CERN versucht man dennoch seit vielen Jahren, der Antimaterie Herr zu werden. In einer eigenen Messhalle führen Wissenschaftler Antiprotonen und Positronen zusammen und messen mit großer Hingabe die Eigenschaften der resultierenden Antiatome. Mittlerweile können die Physiker Hunderte von ihnen für mehrere Tage in einer Vakuumkammer gefangen halten.

Dadurch werden Messungen möglich, wie sie Forscher bei Wasserstoff in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgeführt haben. Ein Unterschied zwischen Materie und Antimaterie ist dabei bisher nicht aufgetaucht: An Antiprotonen gebundene Positronen scheinen exakt dieselben Energieniveaus einzunehmen wie die Elektronen im Umfeld eines Protons, berichteten Forscher der ALPHA-Kollaboration 2016, 2017 und 2018 jeweils im Fachmagazin »Nature«.

Das ALPHA-Experiment am CERN
Das ALPHA-Experiment am CERN | Nur mit Hightech lassen sich Antiwasserstoffatome erzeugen und untersuchen.

Nun präsentieren die rund 50 Wissenschaftler das nächste Scheibchen der Erkenntnis: Auch bei Antiwasserstoff scheint es jene winzige Abweichung zu geben, auf die Willis Lamb 1947 bei Wasserstoff gestoßen war, berichten die Wissenschaftler in einer aktuellen »Nature«-Publikation. Oder anders formuliert: Ein handfester Unterschied zwischen Materie und Antimaterie lässt weiter auf sich warten. Dabei benötigen Forscher ihn dringend, um den Materieüberschuss im Universum zu erklären.

Von Niels Bohr zu Richard Feynman

Ein überraschender Durchbruch ist die jüngste Messung also nicht. Dafür hebt sie deutlich hervor, wie sich die Wissenschaft in den vergangenen 70 Jahren verändert hat. Heute kämpfen 50 hoch qualifizierte Experten in einer mit Hightech vollgestopften Fabrikhalle um die nächste »Nature«-Veröffentlichung. Damals genügten Willis Lamb, sein Assistent und ein tischgroßer Apparat, um der Natur – eher zufällig – ein großes Geheimnis abzuringen.

Letztlich half die Lamb-Verschiebung maßgeblich dabei, unsere heutige Theorie von Licht und Materie zu entwickeln, die Quantenelektrodynamik. Sie stellte die endgültige Überwindung des bohrschen Atommodells dar. Niels Bohr hatte es vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt, um bis dahin rätselhafte Messungen mit Wasserstoff zu erklären.

Laut dem Modell stehen Elektronen, die an ein Atom gebunden sind, nur bestimmte Energien offen, Physiker sprechen von Schalen. Wenn ein Elektron die Schale wechselt, was immer mal passieren kann, gibt es Strahlung einer bestimmten Frequenz ab. Umgekehrt kann ein Strahlungspuls mit dieser Frequenz, der das Atom trifft, das Elektron in eine höhere Schale heben.

Das bohrsche Atommodell ist nicht völlig falsch, aber aus heutiger Sicht viel zu einfach. Das zeigte sich spätestens, als in den 1920er Jahren die Quantenphysik die Bühne betrat. Ihr zufolge kreisen Teilchen nicht auf starren Bahnen, wie Bohrs Sichtweise nahelegte. Stattdessen halten sie sich in einem von der Mathematik vorgegebenen Volumen auf. Wo genau sie zu einem bestimmten Zeitpunkt sind, lässt sich nur mit Wahrscheinlichkeiten vorhersagen.

Der geniale Eigenbrötler Paul Dirac arbeitete 1928 eine Formel aus, die der Quantennatur der Teilchen Rechnung trug und für beliebig schnelle Partikel galt. Laut dieser Dirac-Gleichung verändern Bewegung und Spin der Elektronen die Energieniveaus, die ihnen im Umfeld eines Atoms offen stehen. Die bohrschen Schalen splitten sich dadurch in eine schwer zu überblickende »Feinstruktur« mehrerer Unterniveaus auf.

Doch auch Dirac irrte, wie nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich wurde: Seine Gleichung weist manchen Feinstrukturniveaus dieselbe Energie zu. Die Elektronen haben hier eigentlich unterschiedlich viel Schwung (Physiker sprechen vom Bahndrehimpuls), weshalb sie unterschiedlich stark an den Atomkern gebunden sein sollten. Doch der Spin der Elektronen (eine Art Eigendrehsinn) ist in beiden Zuständen gerade so orientiert, dass die Energiedifferenz zwischen den Niveaus laut Dirac-Gleichung verschwindet.

Willis Lamb konnte zeigen, dass sich die Natur in diesem Punkt anders verhält: Er analysierte Strahlung, die Wasserstoffatome abgeben, wenn ein Elektron von einem Energieniveau in ein anderes springt. 1947 verkündete er auf der ersten großen Physikerkonferenz nach dem Krieg eine Sensation: Zwischen zwei Feinstrukturniveaus namens 2S1/2 und 2P1/2, die laut Dirac-Gleichung identisch sein sollten, schien es einen winzigen Unterschied zu geben.

Diese Lamb-Verschiebung wurde in den Folgejahren zu einem von zwei experimentellen Befunden, auf deren Basis Experten die Quantenelektrodynamik ausarbeiten. Der andere betraf die Art und Weise, wie Elektronen auf Magnetfelder reagieren. Zur Erklärung dieser Phänomene mussten Physiker allerdings eine kuriose Eigenart der Natur akzeptieren lernen und in ihren Gleichungen verarbeiten: Das Vakuum ist alles andere als leer, sondern weist eine Art Grundrauschen aus plötzlich auftretenden Ladungsfluktuationen auf.

Das Zittern der Elektronen

Schuld sind »virtuelle« Paare aus Elektronen und Positronen, die an jedem Punkt entstehen können. Sie existieren nur Sekundenbruchteile, dann löschen sie sich gegenseitig aus. Da sie jedoch laufend aufploppen, beeinflussen sie andere Partikel – zum Beispiel das Elektron eines Wasserstoffatoms. Durch die Phantomteilchen gerät es ein wenig ins Zittern und hat dadurch geringfügig mehr Energie, als man ohne diesen Effekt erwarten würde. Am stärksten sind dabei Elektronen in unmittelbarer Nähe des Kerns betroffen.

Damit war die Hauptursache für die Lamb-Verschiebung gefunden. Doch die virtuellen Teilchen sorgten für große konzeptionelle Problemen, an denen sich Theoretiker jahrelang die Zähne ausbissen. Unter anderem verzweifelten sie daran, dass sich die virtuellen Teilchen streng genommen unendlich viel Energie aus dem Vakuum borgen konnten, was nicht sein durfte, Quantenphysik hin oder her.

Julian Schwinger, Richard Feynman, Shinichiro Tomonaga und andere Theoretiker fanden schließlich eine Lösung für das Problem. Sie ließen die gegen unendlich strebenden Rechenterme verschwinden, indem sie die Definition von Masse und Ladung in den Gleichungen änderten. Der Kniff ist als Renormierung bekannt und mittlerweile in allgemeinerer Fassung ein Standardwerkzeug der Teilchenphysik. Er machte die Quantenelektrodynamik zu einer Theorie, die bis heute als konzeptionelles Vorbild für sämtliche erfolgreichen Modelle des Mikrokosmos dient.

Ob die Experimente mit Antimaterie dereinst eine vergleichbare Überarbeitung unseres Weltbilds notwendig machen? Ziele für weitere Messungen haben die Forscher der ALPHA-Kollaboration laut eigener Aussage jedenfalls genug: Bisher könne man auf die Lamb-Verschiebung bei Antiwasserstoff nur auf Umwegen schließen, heißt es in dem neuesten »Nature«-Paper. Auch gebe es noch eine beträchtliche Messunsicherheit. Künftig werde man Antiwasserstoff also noch etwas genauer unter die Lupe nehmen – in der Hoffnung, dass endlich ein Unterschied zwischen Materie und Antimaterie auftaucht.

Okt 2021 | In Arbeit | Kommentieren
Alle Strömungen des Judentums beschäftigen sich mit diesen beiden Aspekten. Sie fokussieren sich jedoch unterschiedlich stark auf die Auseinandersetzung mit jüdischen Gesetzen und welche Bedeutung diese für unser heutiges Leben haben. Entsprechend wird das Festhalten und Verstehen der Jahrtausende alten Traditionen und Gebote innerhalb der Strömungen unterschiedlich priorisiert oder ausgelegt. Das Spannungsfeld, in dem sich die Strömungen des Judentums befinden, besteht einerseits zwischen dem Streben nach einem jüdischen Leben im Einklang mit der modernen Welt und andererseits dem uneingeschränkten Glauben, die jüdischen Gesetzte, so wie sie von Gott offenbart wurden, zu befolgen.Die Herausforderung, ein klares Bild über die unterschiedlichen Strömungen des Judentums und ihre Heterogenität zu schaffen, liegt darin, dass sich Juden und Jüdinnen in Deutschland sehr individuell innerhalb dieser Strömungen verhalten und ihr Judentum unterschiedlich praktizieren. Auch wenn man sich einer Strömung zugehörig fühlt, muss das nicht heißen, dass man diese auch so praktiziert wie vorgeschrieben. Aktuell kann man grob zwischen zwei Hauptströmungen des Judentums unterscheiden: auf der einen Seite das orthodoxe und auf der anderen Seite das liberale Judentum. Innerhalb der jeweiligen Strömung finden sich weitere Untergruppierungen.

Das orthodoxe Judentum

Die orthodoxe Strömung vereint eine Mehrzahl an religiösen Bewegungen, welche alle denselben Grundprinzipien folgen, sich aber in der Praxis in Details unterscheiden. So besteht der theologische Grundgedanke darin, dass sich das bindende Wort Gottes aus der schriftlichen und mündlichen Überlieferung der Torah, welches dem jüdischen Volk am Berg Sinai gegeben worden ist, zusammensetzt. Die darin enthaltenen Ge- und Verbote, die Halacha, formen somit das Grundgerüst des orthodoxen Judentums.

Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen in Deutschland identifiziert sich mit den Prinzipien des orthodoxen Judentums und lebt in orthodoxen Gemeindestrukturen. Dies liegt vor allem daran, dass das sehr vielfältige jüdische Leben in Deutschland mit der Shoah vernichtet wurde und nach 1945 erst wieder aufgebaut werden musste. Neben jenen, die in Deutschland überlebt hatten, gab es viele Überlebende aus Osteuropa, die nach ihrer Befreiung mit ihren eigenen Traditionen und Riten nach Deutschland kamen und auch blieben. Diese waren in ihren Ursprungsorten größtenteils innerhalb der orthodoxen Strömung verankert. Und auch heute noch folgt die Mehrheit der jüdischen Gemeinden in Deutschland diesen klassischen orthodoxen Riten und Traditionen. Die Gründer*innen der jüdischen Gemeinden in Deutschland nach 1945 waren Überlebende der Shoah, die einerseits das jüdische Leben und die Traditionen der zum Großteil ermordeten Verwandten wieder aufbauen und weitergeben wollten, andererseits auch oftmals aufgrund des erlebten Schreckens mit ihrem Glauben haderten und mit Gott innerlich stritten. Genau dieses Spannungsfeld spiegelt sich auch in den Strukturen jüdischen Lebens in Deutschland wider.

Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen legt großen Wert auf orthodoxe Gemeindestrukturen, Gottesdienste und Interpretationen der Gesetze. Diese Strukturen geben ihnen die Möglichkeit, ein jüdisches Leben praktizieren zu können – so wird z.B. Wert auf einen nach orthodoxem Ritus ablaufenden Gottesdienst an Feiertagen oder am Schabbat gelegt. Gleichzeitig behalten sie sich vor, im Alltag säkularer zu leben und sich nicht an die strengen Gesetze der Halacha, auch in Bezug auf das Zusammenleben mit den nicht-jüdischen Teilen der Bevölkerung, zu halten. So entscheidet ein jeder selbst, wie die eigene Religion auszuleben ist, unabhängig von den genauen Definitionen der einzelnen Strömungen. So wie vieles im Judentum, spielt die Familientradition auch hier eine wichtige Rolle. Die meisten Juden und Jüdinnen, die über Generationen gewisse Traditionen und Riten weitergegeben haben, halten stark an diesen fest, mit der Absicht auch selbst Träger in der Kette der Traditionsweitergabe zu werden. Somit werden auch die Traditionen, welche für einige als veraltet oder irrelevant empfunden werden, trotzdem praktiziert und an die nächste Generation weitergegeben.

Innerhalb der orthodoxen Strömung kann man unterschiedliche Gruppierungen finden, die sich entweder als Teil der Einheitsgemeinden mitorganisieren, oder eine eigene separate Gemeinde gegründet haben. Der gemeinsame Nenner aller sich als orthodox nennenden Juden und Jüdinnen liegt in der verbindlichen Anerkennung der Ge- und Verbote, der Halacha. Die wichtigsten Unterschiede beziehen sich auf die Strenge des Praktizierens dieser Gesetze, der Beziehung mit der nicht-jüdischen Umwelt oder der Haltung gegenüber dem Staat Israel als Teil der jüdischen Identität.

Nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion gab es einen starken Zuwachs an Juden und Jüdinnen in Deutschland, die aus Osteuropa einwanderten. Neue Herausforderungen entstanden innerhalb der jüdischen Welt, auch in Bezug auf die religiösen Bedürfnisse der Gemeindemitglieder. Dieser historische Moment wurde von einer Vielzahl von jüdischen Bewegungen, die bereits auf internationaler Ebene unterschiedliche Strömungen des Judentums repräsentierten, genutzt, um auch den Weiteraufbau des jüdischen Lebens in Deutschland zu unterstützen. Ein paar dieser Bewegungen konnten sich in Deutschland etablieren und tragen innerhalb und außerhalb der klassischen Gemeindestrukturen zum religiösen jüdischen Leben in Deutschland bei. Zu nennen sind die Chabad- und die Lauder-Bewegung: Seit 1989 befindet sich die chassidische Chabad-Gruppierung in Deutschland, welche innerhalb vieler Gemeinden stetig wächst. Die Chabad-Mitglieder folgen einer strengen Interpretation der Gesetze der Torah und haben sich als Aufgabe gesetzt, weniger religiösen Juden und Jüdinnen das Praktizieren des Judentums näherzubringen. Das heißt sie unterstützen sie dabei Traditionen leichter in Ihr Leben zu integrieren: z.B. bieten sie Veranstaltungen an (Feiertage, Bildungsangebote zu religiösen/spirituellen Themen, u.Ä.) oder betreiben (in manchen Städten) eigene Synagogen oder Kindergärten.

Die Ronald S. Lauder Foundation ist insbesondere in Berlin vertreten. Die Mitglieder identifizieren sich als „modern orthodox“, d.h. sie sehen sich dem traditionell jüdischen Leben verpflichtet, verstehen sich aber auch explizit als Teil der deutschen Gesellschaft. Die jüdische Gemeinde Kahal Adass Jisroel (KAJ) in Berlin wiederum wurde 2013 gegründet, und knüpft an die Tradition der 1869 von Rabbiner Esriel Hildesheimer gegründeten Neo-Orthodoxie und die in der Shoah zerstörten, Israelitischen Synagogen Gemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin, an. Leitbild ist dabei die Symbiose von Religiosität und akademischer Bildung.

Das liberale Judentum

Das liberale Judentum vereint eine Mehrzahl an Bewegungen und wird hier daher als Überbegriff verwendet. Im Gegensatz zum orthodoxen Judentum, welches die religiösen Gesetze von Gott gegeben und als (absolut) bindend sieht, haben die liberalen Bewegungen unterschiedliche Beziehungen zur Halacha.

Im Laufe der Emanzipation der Juden und Jüdinnen in Europa entstand im 19. Jahrhundert das liberale Judentum. Den Juden und Jüdinnen war es wichtig Teil der deutschen Gesellschaft und gleichberechtigte Mitbürger zu werden, jedoch gleichzeitig ihre jüdische Religion weiter zu praktizieren. Aus diesem Grundgedanken heraus entstanden unterschiedliche Bewegungen, welche Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland zur vorherrschenden jüdisch-religiösen Richtung wurden. Mit der Shoah wurde diese Strömung in Deutschland jedoch so gut wie ausgelöscht. Die Juden und Jüdinnen, die nach 1945 die jüdischen Gemeinden in Deutschland wiederaufbauten, waren überwiegend Überlebende aus Mittel- und Osteuropa, die mit dem in Deutschland einst weit verbreiteten liberalem Judentum nichts anfangen konnten. Sie hielten an den orthodoxen Traditionen und Perspektiven fest, die sie aus der Vorkriegszeit in ihren Ursprungsländern seit Generationen her praktizierten.

Zu einem Wiederaufblühen des liberalen Judentums kam es mit dem großen Zuwachs an Juden und Jüdinnen, die in den 1990er Jahren aus der Ex-Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einwanderten. In vielen Städten etablierten sich im Anschluss liberal-jüdische Gottesdienste. Zu verdanken ist dies auch den unterschiedlichen internationalen Bewegungen die nach Deutschland kamen, um sich der sehr schnell gewachsenen jüdischen Population und ihren Bedürfnissen zu widmen.

Von außen betrachtet kann man bereits auf den ersten Blick einige Unterschiede des liberalen und orthodoxen jüdischen Lebens erkennen. So werden während eines orthodoxen Gottesdienstes keine Instrumente benutzt, Männer und Frauen sitzen getrennt voneinander und es wird ausschließlich auf Hebräisch und Aramäisch gebetet. Während eines liberalen Gottesdienstes werden Musikinstrumente benutzt, Männer und Frauen sitzen nebeneinander und neben Hebräisch wird auch die Landessprache verwendet.

Masorti

Das konservative Judentum, welches Masorti (hebräisch: „traditionell“) genannt wird, entstand in Deutschland bereits im 19. Jahrhundert. Laut der „positiv-historischen“ Schule von Zecharia Frankel (1801–1875) sind Juden und Jüdinnen als Mitglieder der Masorti-Bewegung an die Gesetze der Torah gebunden, erkennen aber an, dass die Gesetze historisch entstanden und deshalb veränderbar sind. Eines der Grundprinzipien der Masorti-Bewegung lautet daher: „Die Bedeutung der Erhaltung einer dynamischen jüdischen Praxis, die ihre Basis auf Halacha und Mitzwot hat, die in der jüdischen Kenntnis und Beachtung geerdet ist, die Liebe zur Tradition zeigt und gleichzeitig die Modernität und die positiven Aspekte des Wandels umarmt.“[1] Basierend auf dem Egalitarismus werden auch Frauen zu Rabbinerinnen ernannt. So gründete die in Israel ausgebildete Rabbinerin Gesa Edenberg 2002 den Masorti-Dachverband „Masorti e.V.“ in Berlin, welcher die Bewegung erstmals wieder in Deutschland repräsentiert.

Reform – Progressives Judentum

Das Reformjudentum, welches heute „progressives Judentum“ genannt wird, entstand im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Emanzipation der Juden in Europa. Juden und Jüdinnen waren mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs in fast allen Bereichen der Gesellschaft rechtlich gleichgestellte Mitbürgerinnen und Mitbürger geworden und somit auch an die Gesetze des Nationalstaates, anstatt nur an die religiösen Gesetze des Judentums, gebunden. Diese neue Realität führte zu einer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Hierarchie der Gesetze. Einige Juden und Jüdinnen sahen sich als Deutsche und wollten sich folglich nach den Rechten und Pflichten eines jeden deutschen Bürgers richten. Die Halacha galt hingegen als ein ethischer Leitfaden. In diesem Sinne verstehen progressive Juden die Torah heute „als menschlichen Ausdruck einer existentiellen, religiösen Erfahrung des jüdischen Volkes, in denen sich der eine Gott offenbart“[2]. Sie sind ethisch an die Torah gebunden, jedoch nicht in Form bindender Gesetze. Abraham Geiger (1810-1874) war einer der wichtigsten Gründer des Reformjudentums und plädierte für eine Anpassung historisch bedingter religiöser Ritualgesetze an die Gegenwart.

Nach der Shoah brauchte es mehrere Jahrzehnte, bis sich das progressive Judentum wieder in Deutschland etablierte. In der Zeit der großen Veränderung innerhalb der jüdischen Gemeinden in Deutschland während der 1990er Jahre unterstützte die internationale Bewegung World Union of progressive Judaism diesen Prozess. Als Folge gründete sich die Union progressiver Juden, welche einige progressive Gemeinden in Deutschland vereint, fördert und unterstützt.[3]

Kleinere liberale Gruppierungen

Von Anhängern des jüdischen Rekonstruktionismus wird das Judentum als eine „sich entwickelnde Zivilisation“ definiert.[4] Ein Fokus liegt bei ihnen auf der Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Judentums im Rahmen von Religion, Geschichte, Literatur, Kunst und Musik, Land und Sprache. In Deutschland ist der Rekonstruktionismus nur in sehr wenigen liberalen Gemeinden vertreten und international durch die US-amerikanische Organisation Reconstructing Judaism[5] vernetzt.

Jewish Renewal ist eine strömungsübergreifende Bewegung, welche in Deutschland nur von einer sehr kleinen Gruppe repräsentiert wird. Ihr Ziel ist es, eine Erneuerung des Judentums anzustoßen. Mitglieder verstehen das Judentum als eine tiefgehende spirituelle Praxis, welche zur Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt beiträgt. Durch Meditationen, Tanz, Theater und Bewegung treten Mitglieder mit der Torah und Gott in Verbindung.[6]

„Nur Liberal“

Nach dem Modell der jüdischen Gemeinde Frankfurt („Frankfurter Modell“)[7], haben sich auch andere Anhänger des liberalen Judentums innerhalb der Einheitsgemeinde unter einem Dach organisiert. So entstanden, zum Beispiel in Frankfurt und Berlin, kleine separate jüdische Gemeinden, die sich nach unterschiedlichen Strömungen orientieren. In Frankfurt entstand somit der „egalitäre Minjan“[8], der sich als „nur liberal“ beschreibt und sich keiner der definierten liberalen Strömungen unterordnet.

Fazit

Auch wenn man der Unterscheidung eines orthodoxen und liberalen Judentums folgt, wird deutlich, dass es innerhalb dieser Hauptströmungen noch einige weitere Gruppierungen gibt und diese wiederum auch von einzelnen unterschiedlich praktiziert werden. Die Strömungen des Judentums klar zu unterteilen und zu strukturieren mag sie greifbarer und verständlicher erscheinen lassen, jedoch verschwimmen die Grenzen der Definitionen und Unterteilungen sehr häufig in der Realität.

Bei genauerer Betrachtung erkennt man eine starke Heterogenität innerhalb des jüdischen religiösen Lebens in Deutschland, welche nicht nur auf die unterschiedlichen Strömungen, sondern auch auf das eigentliche Praktizieren der jüdischen Gesetze, Traditionen und Bräuche jedes*r Juden und Jüdin selbst zurückzuführen ist. Während der Einwanderung der Juden und Jüdinnen aus der Ex-Sowjetunion in den 1990er Jahren – die heute die Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen ausmachen – wurde mit viel Anstrengung und Unterstützung (inter-)nationaler Akteure dafür gesorgt, ihnen auch eine religiöse Heimat zu bieten. Seither wurden Gemeinden, Synagogen, Kindergärten und Religionsschulen gegründet, welche, unabhängig von der religiösen Strömung, ein Zeichen für ein wiederaufblühendes heterogenes jüdisches Leben in Deutschland sind.

Fußnoten

1.
https://jkg-goettingen.org/masorti/ (Besucht am 31.05.2021)
2.
https://www.liberale-juden.de/ueber-uns/35-grundsatze/ (Besucht am 31.05.2021
3.
https://www.liberale-juden.de/ueber-uns/ (Besucht am 31.05.2021)
4.
https://jg-michelsberg.com/index.php/der-judische-rekonstruktionismus/ (Besucht am 31.05.2021)
5.
https://www.reconstructingjudaism.org (Besucht am 31.05.2021)
6.
https://www.ohel-hachidusch.org/jewish-renewal.html (Besucht am 31.05.2021)
7.
Das sogenannte „Frankfurter Modell“ ist ein Modell, welches auf einem pluralistischen Verständnis der Einheitsgemeinde aufbaut, bei dem sowohl orthodoxe als auch liberale Juden unter einem Dach zu Hause sind. Diese Art von Einheitsgemeinde wurde das erste Mal nach dem Krieg in Frankfurt gegründet und dient seitdem als Beispiel für andere Gemeinden. Das „Frankfurter Modell“ gibt es zum Beispiel auch in Stuttgart, Düsseldorf, Hamburg.
8.
http://www.minjan-ffm.de (Besucht am 31.05.2021)
Okt 2021 | In Arbeit | Kommentieren
Der Stammheim-Prozess war eines der zentralen Ereignisse während des sogenannten »Deutschen Herbsts«. Zum ersten Mal traf Staatsmacht offen auf die RAF-Terroristen der ersten Generation. In seiner Bühnenhaftigkeit wirkte der Prozess gleichsam wie eine Inszenierung. Es war ein offener Schlagabtausch, in dem die Angeklagten immer wieder über die Stränge schlugen, während das Gericht seine Autorität untermauern wollte. Der von Florian Jeßberger und Inga Schuchmann herausgegebenen Band „Die Stammheim-Protokolle“ gibt einen direkten Einblick in den Verlauf des Prozesses, in dem er die Gerichtsprotokolle zugänglich macht.
Zusammen mit Kontextualisierungen entsteht ein vollständiges Bild über den Prozess und die gesellschaftlichen Konflikte, die in ihm verhandelt wurden. Der hier gezeigte Ausschnitt macht deutlich, wie die Angeklagten sich selbst sahen: als Teil des bewaffneten Widerstandskampfes, der nicht an die Kategorien der Justiz gebunden war.

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Okt 2021 | Heidelberg, Allgemein, Buchempfehlungen, Junge Rundschau, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren

Unternehmen werden gemaßregelt, Märkte brutal reguliert, Stars und Reiche verfolgt: China bewegt sich endgültig in Richtung einer totalitären Dystopie. Wo soll das enden?

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China: Am 1. Juli feierte die Kommunistische Partei Chinas den 100. Jahrestag ihrer Gründung in Peking (links). Ende August verschwand die wohl bekannteste Schauspielerin des Landes, Zhao Wei (rechts, hier in Shanghai im Januar) aus der Öffentlichkeit, alle ihre Filme wurden von chinesischen Streamingplattformen entfernt.
Am 1. Juli feierte die Kommunistische Partei Chinas den 100. Jahrestag ihrer Gründung in Peking (links). Ende August verschwand die wohl bekannteste Schauspielerin des Landes, Zhao Wei (rechts, hier in Shanghai im Januar) aus der Öffentlichkeit, alle ihre Filme wurden von chinesischen Streamingplattformen entfernt. © Kevin Frayer; VCG/​Getty Images

Der Staat greift durch – Seite 1

Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie arbeitet in China und Deutschland. In dieser ZEIT-ONLINE-Serie berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter einem Pseudonym.

Der diesjährige chinesische Sommer war turbulent und verwirrend und auch der Herbst ist es nun. Die Regierung hat eine ganze Reihe rigoroser Maßnahmen in Kraft gesetzt, ein „hartes Durchgreifen“, wie es in westlichen Medien gerne heißt, gegen diverse Wirtschaftsunternehmen, Individuen und ganze gesellschaftliche Gruppierungen. Fast alle dieser Maßnahmen wurden von deutlichen Kommentaren in den offiziellen Medien begleitet, die die vermeintlichen Verbrechen oder das schädliche Verhalten der jeweils betroffenen Gruppierung, Individuen oder Märkte gegen die Gesellschaft erläuterten. Es liegt etwas in der Luft, aber ganz genau einordnen lässt sich derzeit noch nicht, was gerade passiert.

Ein so merk- wie denkwürdiger Fall war Ende August das plötzliche Verschwinden von Chinas wohl berühmtester Schauspielerin, Zhao Wei, aus der Öffentlichkeit. Sämtliche Filme, in denen sie mitgespielt hat – alle so harmlos, wie populäre Unterhaltung nur sein kann – wurden von den chinesischen Streamingplattformen genommen, ihre Social-Media-Präsenz wurde komplett gelöscht. Warum genau, ist bis heute nicht wirklich bekannt. Doch die treuherzigen offiziellen Darstellungen der Causa konnten die Absurdität des Geschehens nicht verdecken. „Selbst wenn Zhao Wei einen Fehler gemacht hat, warum werden ihre völlig harmlosen Fernsehfilme verbannt?“, fragten etwa verblüffte junge Chinesinnen und Chinesen in Chatgruppen. „Ist das nicht unfair denen gegenüber, die darin ebenfalls mitspielen?“ – „Ich bin mit ihren Shows aufgewachsen und hatte großes Vergnügen dabei, sie zu sehen. Jetzt wird meine Erinnerung ausradiert.“ Diese noch leisen Beschwerden sind ein offenkundiges Signal, dass womöglich ein tieferes Unbehagen angesichts der plötzlichen und allgegenwärtigen Eingriffe des Staates mindestens einen Teil der chinesischen Gesellschaft ergriffen hat.

Aber auch internationale China-Expertinnen und -Experten sind zusehends alarmiert und rätseln darüber, was eigentlich los ist in der aufstrebenden Supermacht. Und Stoff für solche Diskussionen gibt es mehr als genug.

Da ist das Vorgehen gegen Fintechunternehmen, vor allem die Ant Group, ein Tochterunternehmen von Alibaba, das Finanzdienstleistungen anbietet. Offiziell hat die chinesische Zentralbank die Ant Group um eine Restrukturierung ihrer Dienstleistungen gebeten, das Unternehmen reagierte darauf mit der Ankündigung bereits Anfang des Jahres, die Verbraucherkreditdatenabteilung abzuspalten und die Entwicklung einer staatlich gestützten Digitalwährung zu unterstützen. Was offenbar wie eine Regulierungsmaßnahme wirken soll, stellt eine direkte staatliche Bedrohung für die beliebten Zahlungssysteme der Ant Group dar, etwa Alipay (das vergleichbar ist mit Apple Pay).

Es geht um direkte staatliche Kontrolle.

Da ist das Durchgreifen gegen die größten E-Commerce- und Social-Media-Unternehmen, denen der Missbrauch ihrer Marktdominanz vorgeworfen wird. Kartellbehörden fordern die Beseitigung der monopolistischen Praktiken der Firmen, betroffen sind etwa Tencent (Social Media und digitale Zahlungssysteme), Meituan (Rabattaktionen und Lebensmittellieferungen), Baidu (Suche), ByteDance (Social Media) und JD (E-Commerce). Auch wenn zeitgleich in den USA der Kongress derzeit überparteilich eine stärkere staatliche Regulierung etwa von Facebook diskutiert: Die Maßnahmen in China sind unvergleichlich härter, invasiver und weitreichender als die in den USA debattierten und sie haben eine völlig andere Stoßrichtung.

Da ist das Vorgehen gegen das, was die Regierung als „chaotische“ Celebrity-Fankultur beschreibt. In offiziellen Medien war zu lesen, dass Popstars und Schauspieler „den Geist chinesischer Jugendlicher vergiften“. Letztere sind oft in Clubs selbstorganisiert, was sie zu gesellschaftlich wirkmächtigen Gruppen macht. Ihre Form der Fanverehrung hat Parallelen zu politischen Kampagnen in demokratischen Gesellschaften. So haben solche Fanklubs in ganz China während des ersten Corona-Ausbruchs 2020 die effizientesten Spenden- und Freiwilligengruppen zur Hilfe für Städte im Lockdown auf die Beine gestellt.

Da ist das harte Durchgreifen gegen reiche Steuervermeider und gegen jene, „die exzessiv viel verdienen“. Im August hat Staatspräsident Xi Jinping in einer Rede dazu aufgerufen, „exzessiv hohe Einkommen zu beseitigen und anzupassen“. Daraufhin haben die staatlichen Steuerbehörden Untersuchungen gegen Menschen angekündigt, die sich vermeintlich oder tatsächlich um das Zahlen von Steuern drücken. Zu den prominentesten Betroffenen gehörte Zhao Wei, was eine mögliche Erklärung für ihr Verschwinden sein könnte. Auffällig ist, dass die superreichen Familien der kommunistischen Elite bislang nicht zu denen gehören, die wegen Steuervermeidung verfolgt werden.

Die Liste an Maßnahmen scheint täglich länger zu werden

Links: Flaggentragende Besucher von Xibaipo, während des chinesischen Bürgerkrieges Ende der Vierzigerjahre kurzzeitig Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas. Rechts: Straßenszene in Lhasa, Hauptstadt des sogenannten Autonomen Gebiets Tibet der Volksrepublik China © Tingshu Wang; Martin Pollard/​Reuters

Da sind die Maßnahmen gegen außerschulischen Unterricht. Das ist in China eine riesige Industrie, die jährlich angeblich bis zu 100 Milliarden US-Dollar umsetzt und etwa zehn Millionen Menschen Beschäftigung bietet. Über Nacht wurde dieser Bereich de facto für illegal erklärt.

Da ist das Durchgreifen gegen die Gamesindustrie. Das Verbot von Onlinevideospielen für Minderjährige gehört zu den öffentlich wirkmächtigsten Maßnahmen der jüngeren Zeit, weil sie eine große Gruppe insbesondere an Jugendlichen trifft. Die Nationale Behörde für Presse und Publikationen hat für Spielerinnen und Spieler unter 18 Jahren eine Höchstgrenze von drei Stunden wöchentlichen Onlinegamings eingeführt; erlaubt ist Spielen zudem nur noch zwischen acht und neun Uhr abends freitags, samstags und sonntags. Viele Anbieter mussten Spiele unzugänglich machen oder ganz aus dem Netz entfernen. Die Aktienwerte einiger führender Internetunternehmen sind daraufhin abgestürzt.

Staatliche Maßnahmen in China richteten sich außerdem gegen Mitfahrzentralen, gegen Carsharing-, Leihfahrrad- und Powerbanksharingunternehmen; gegen Firmen, die an die US-Börse gehen wollten; Firmen, deren Geschäftsmodelle auf Algorithmen basieren; Cloud-Computing-Firmen, die ihre Dienste an den Staat und an Parteiorganisationen verkaufen; Bitcoin-Miner und Kryptowährungsbörsen, Immobilienfirmen und Vermieter, private Investmentfonds, Onlineversicherer, Onlineplattformen für Kurzzeitvermietung, Kosmetikfirmen und solche für verpackte Lebensmittel, feministische Socia-Media-Accounts …

Eine neue Unruhe

Im Jahr 1980 hat Deng Xiaoping die Reformen zur Öffnung Chinas begonnen und das fundamentale Prinzip für die Kommunistische Partei Chinas ausgerufen: Bu Zhe Teng (不折腾, etwa: „Nicht schwanken“). Bu Zhe Teng ist eine Formel mit diversen Bedeutungsschichten. Sie spielte auf die chaotischen, gewalttätigen und willkürlichen politischen Entscheidungen Mao Zedongs seit den Fünfzigerjahren an, besonders auf den „Großen Sprung nach vorn“, der statt zum gewünschten Überholen des Westens zu zig Millionen Hungertoten geführt hatte, und auf das Desaster der Kulturrevolution. Bu Zhe Teng stellt letztlich eine Warnung an die Kommunistische Partei dar, vor einer von ihr selbst herbeigeführten Unruhe, aber auch vor plötzlichen Richtungsänderungen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Dieses Prinzip hat das chinesische Wirtschaftswunder der zurückliegenden vier Jahrzehnte ermöglicht, auch indem die Privatwirtschaft Freiheiten erhielt; es hat China zunächst die Teilnahme und mittlerweile in manchen Bereichen Dominanz über Weltmärkte garantiert; und Bu Zhe Teng hat im Inneren Chinas auch einen gewissen Freiraum für Gesellschafts- und Rechtsreformen und die Entwicklung eines modernen Bildungssystems geschaffen.

Doch seit Xi Jinping schrittweise die Macht übernommen hat, hat sich China immer weiter vom Bu-Zhe-Teng-Prinzip entfernt. Aus zum Teil erkennbar persönlichen Motiven hat der chinesische Präsident diesen Weg gewählt: Offenkundig, um an Popularität innerhalb der Bevölkerung zu gewinnen, aber auch seine Machtposition abzusichern und seine Gegner in der Partei zu auszuschalten, hat Xi bereits als frisch gewählter Generalsekretär der Partei im Jahr 2012 große Kampagnen gestartet, darunter eine gegen staatliche Korruption, in deren Zuge mehr als eine Million Funktionäre auf allen Hierarchiestufen ihre Ämter verloren. Die Bevölkerung sollte offenkundig sehen: Dort mistet jemand aus, eine starke Hand, ein entschlossener Anführer, Xi Jinping. Mit welchem tatsächlichen Erfolg die Korruption bekämpft wurde und um welchen Preis dies geschah (etwa dem, das zahlreiche geschasste Funktionäre Suizid begingen), lässt sich nicht genau beziffern.

Im Bereich der Außenpolitik hat Xi Jinping sich komplett von Deng Xiaopings Warnungen vor selbst verschuldeter Unruhe abgewandt. Er hat die aggressive Wolf-Warrior-Diplomatie (so benannt nach einem Rambo-artigen Blockbuster) ins Leben gerufen und damit nicht nur Befürchtungen bei demokratischen Ländern in der Region ausgelöst, sondern den Anfang vom Ende der Politik des Engagements zwischen China und den USA ausgelöst. Die Beziehungen zwischen den beiden Großmächten haben sich bereits unter der Präsidentschaft Donald Trumps durch Zoll- und Handelsstreitigkeiten dramatisch verschlechtert, ein Neuanfang zwischen den zwei Ländern unter Joe Biden ist derzeit nicht erkennbar (dessen Administration daran aber durchaus einen Anteil hat).

Eine Grundsatzfrage für den gesamten Westen und die Anrainer Chinas indes ist, wie man dem Land mittlerweile begegnen soll. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung Hongkongs, die Forderung nach einer „Wiedervereinigung“ mit Taiwan (de facto eine Drohung vor einer möglichen Invasion durch China), die Existenz von Internierungslagern in Xinjiang und die wachsenden Spannungen im Südchinesischen Meer durch die chinesische Militarisierung sorgen dafür, dass China in der Welt zunehmend als aggressive aufstrebende Supermacht wahrgenommen wird, mit wenig Skrupeln nach Innen wie nach Außen.

Im Namen der Pandemiekontrolle

Schüler in Hongkong (links); Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas auf dem Tiananmen-Platz in Beijing © Isaac Lawrence; Kevin Frayer/​AFP/​Getty Images

Und der Westen reagiert mittlerweile. Der Technologietransfer zwischen den USA und China ist faktisch zum Erliegen gekommen, geplante US-Investitionen in China erfolgen nicht. Die Biden-Administration stellt sich offenkundig auf ein neues Wettrüsten ein, diesmal heißt der potenzielle Gegner China, nicht mehr Russland. Der soeben zwischen den USA, Großbritannien und Australien geschlossene Sicherheitspakt AUKUS ist da ein unübersehbares Zeichen.

Selbst ohne die von Xi verursachte Unruhe stünde China vor vielen drängenden Herausforderungen. Die Zeit der ökonomischen Wunder nähert sich ihrem Ende. Obwohl das chinesische Wirtschaftswachstum vor und auch während der Pandemie kräftig war, zeichnen sich in China mittel- und langfristige Probleme ab: die Bevölkerungszunahme verlangsamt sich, während die Staatsverschuldung historisch einmalige Höhen erreicht; der Kollaps des chinesischen Immobilienmarktes scheint mittlerweile nahezu unvermeidlich; die einst konkurrenzlos niedrigen Arbeitskosten, die China in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Werkbank der Welt machten, wachsen unaufhörlich, das macht das Land für das internationale Investorenkapital weniger attraktiv. Die Zukunft sah schon vor der Pandemie für die jüngeren Generationen in China alles andere als vielversprechend aus.

Die Pandemie hat dann in vielfacher Hinsicht offenbart, wie die Regierung und vor allem Xi Jinping all den Problemen begegnen will: Der Präsident zeigt den bedrohlichen Drang eines kommunistischen Anführers – er ist darin ein guter Schüler von Mao – zur absoluten Macht. Aus der Gewissheit, dass sich eine offene Gesellschaft unmöglich kontrollieren lässt, scheint Xi die Konsequenz gezogen haben, dass nur drakonisches Vorgehen die Fliehkräfte begrenzen kann, die sich in der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft entwickelt haben. Die Corona-Krise bot dann den perfekten Vorwand dafür, Zäune um China herum zu errichten, aber auch in China selbst. Die Geschwindigkeit, mit der das geschieht, ist verblüffend und beängstigend. Die wiederholten Lockdowns in diversen Städten, die in ihrer Härte nicht mit denen in Europa oder den USA vergleichbar sind, waren nur die Generalprobe. Nach bald zwei Jahren Pandemie ist China zu einem großen Gefängnis geworden.

Ein Land wird dicht gemacht

Im Namen der Pandemiekontrolle stellt die chinesische Regierung denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die über keine Privilegien verfügen, faktisch keine neuen Pässe mehr aus. Für diese Menschen ist es fast unmöglich geworden, innerhalb Chinas oder gar ins Ausland zu reisen.

Die Außengrenzen Chinas werden derweil hochgezogen. An der zu Myanmar wird derzeit eine 2.000 Kilometer lange Grenzmauer errichtet, auch die Grenzbefestigungen zu Vietnam sollen verstärkt werden. Nachdem der Mauerbau an der Grenze zu Myanmar zunächst damit gerechtfertigt wurde, dass so der Schmuggel von Waren und Menschen verhindert werde, dient der chinesischen Staatsmacht aktuell die Pandemiekontrolle als Begründung: Grenzverkehr, schon gar unkontrollierter nach China hinein, wird für eine mögliche weitere Verbreitung des Coronavirus verantwortlich gemacht. Im Verbund mit Hightechgrenzkontrollen etwa in Xinjiang und Tibet ist es mittlerweile fast unmöglich geworden, China unerkannt zu verlassen. Und im Inneren wird die Kontrolle erweitert, künstliche Intelligenz etwa wird immer besser darin, „subversive Chats“ in privaten Social-Media-Gruppen zu erkennen.

Was nun aber, wenn China sich nie wieder öffnet? Das ist eine durchaus ernst zu nehmende Frage, die sich nicht nur internationale Beobachter stellen, sondern auch diejenigen Chinesinnen und Chinesen, die die jüngere Geschichte Chinas gut kennen. „Viele von uns, die in den vergangenen Jahrzehnten Karriere gemacht haben, als Geschäftsleute und Fachkräfte, wissen nicht mehr, wohin sich das Land bewegt“, sagte mir ein Anwalt mit guten Beziehungen: „Wohin auch immer es geht, die Richtung stimmt mich bedenklich.“

Dieses Gefühl aufsteigender Panik oder zumindest wachsender Ungewissheit in breiten Bevölkerungsschichten ist angesichts der Lage nicht überraschend und die Partei muss dieses Gefühl ihrer Logik nach bekämpfen, will sie die Kontrolle nicht verlieren. Zensur und Zum-Schweigen-Bringen von Kritikerinnen reichen dafür offenbar nicht (mehr) aus. Und ein großer Anführer, als der sich Xi Jinping zweifellos betrachtet, muss auch Hoffnung und Ablenkung bieten. Auch deshalb gibt es die lange Reihe harter Maßnahmen. Denn die einzelnen dienen erkennbar verschiedenen konkreten Zwecken.

Wird die Partei am Ende stärker oder schwächer dastehen?

Ein weiteres Bild von den Feierlichkeiten auf dem Tiananmen-Platz am 1. Juli (links), hier sind Schülerinnen und Schüler zu sehen. Rechts: eine Szene vom Nationalfeiertag in Hongkong am 1. Oktober © Kevin Frayer/​ Getty Images; Tyrone Siu/​Reuters

So erlauben die Attacken gegen Fintech-Firmen es den staatlichen Banken, einen Teil deren profitabler Dienste aus dem privaten Sektor in ihren Bereich zurückzuholen; das stärkt die Macht des Staats insgesamt.

Das harte Durchgreifen gegen die E-Commerce- und Social-Media-Unternehmen hat der Regierung Milliarden von Yuan an Strafzahlungen eingebracht, Geld, das sie dringend braucht. Ihr Vorgehen ist aber auch populär, da es die Firmen zur Einhaltung von Arbeiterrechten zwingt. Die Angriffe gegen Vielverdiener, die Steuern vermeiden, dienen dem gleichen Zweck: Sie bringen der Regierung Einnahmen und Ansehen in der Bevölkerung.

Das Einschreiten gegen die Notierung von chinesischen Unternehmen an US-Börsen ist eine offensichtliche Retourkutsche gegen die „Entkopplungs“-Politik der USA. Und gegen das Bitcoin-Mining geht der chinesische Staat augenscheinlich deshalb vor, weil Kryptowährungen das Risiko heimlicher Geldtransfers ins Ausland bergen und überhaupt das Risiko eines Kontrollverlustes: Nichts soll am Staat vorbei geschehen und jeder Eindruck, dies könne geschehen, muss verhindert werden.

Die Maßnahmen gegen die Immobilienunternehmen und Vermieter wiederum hat ihren Grund darin, dass die nicht haltbare Entwicklung des Immobilienrauschs die Ökonomie ins Schwanken bringt und enorme soziale Instabilitäten erzeugt. Die Regierung will die Löcher der Ökonomie stopfen, gesellschaftlichen Herausforderungen entgegentreten und damit den Eindruck von Stärke, Fürsorge und Kompetenz vermitteln. Schließlich hat Xi Jinping in einer Rede im August versprochen, der Bevölkerung „allgemeinen Wohlstand“ zu bringen.

Bloß keine Weicheier

Aber wie soll man das Einschreiten gegen die Spieleindustrie und die Fangruppen verstehen? Warum eine ohnehin desillusionierte junge Generation auch noch auf diese Weise verärgern?

Nun, es ist schlicht gute Tradition der Kommunistischen Partei, den Leuten den Spaß zu verderben. In den Achtzigerjahren hat sie eine Kampagne zur „Bekämpfung der geistigen Verschmutzung“ gestartet, worunter sie „dekadente Musik“ oder Popmusik aus Hongkong oder Taiwan, aber auch erotische Untergrundliteratur verstand. Die Flucht in nicht ideologisierte Unterhaltung lässt sich jedoch auch als Herausforderung für die Partei begreifen. Schließlich sieht sie überall ideologische Kriege, sogar – oder ganz besonders – bei Unterhaltungsprodukten, die Herz und Verstand der Menschen erreichen. Die Partei will, dass die Leute sich mit derlei Zerstreuung nicht zu lange befassen. Außer sie dient der Stärkung patriotischer Gefühle und der Loyalität zur Partei. Darum letztlich auch der Vorbehalt gegen das Gaming.

Die staatliche Kampagne gegen die Unterhaltungsstars und Fangruppen war besonders schmutzig. Staatsmedien haben wiederholt das („Weichei“)-Image („娘炮„) mancher männlicher Stars attackiert, sie zum schlechten Einfluss für junge Chinesen erklärt und die Rückkehr zu den durch und durch männlichen Helden der Revolutionszeit gefordert. Die Propagandabehörde erklärte zudem, dass ein patriotisches Selbstverständnis und Parteiloyalität absolute Voraussetzungen seien dafür, dass jemand berühmt sein dürfe. Wer diese Haltung nicht sichtbar vertrete, habe in der Entertainmentindustrie nichts verloren.

Die von der Regierung geführte Attacke gegen „Weichei-Idole“ bietet praktischerweise auch leichte Ziele für die Millionen frustrierter chinesischer Männer, die keine Chance auf dem Heiratsmarkt haben; es gibt faktisch eine Frauenknappheit in China, dazu hat die verheerende chinesische Tradition der Abtreibung weiblicher Embryos geführt. In diesen unsicher gewordenen Gewässern werden erfolgreiche männliche Stars ohne die Unterstützung des Staats plötzlich sehr verwundbar. Nicht nur, dass sie von Trollen in den sozialen Medien verfolgt werden: Einer von ihnen, Gan Wangxin, wurde in aller Öffentlichkeit heftig verbal attackiert. Die Fangruppen wiederum werden gelöscht, weil keine Idole neben der Partei und ihrem Führer erwünscht sind.

Es kann eigentlich kein Zweifel mehr bestehen: China verwandelt sich derzeit auf direktem Wege in eine totalitäre Dystopie, die an düstere Zeiten des chinesischen Kommunismus im 20. Jahrhundert erinnert, nur unter heutigen Bedingungen etwa der Massenkommunikation im Netz, zeitgenössischer Überwachungstechnologien und einer heimischen Wirtschaft, die längst Teil globalisierter Märkte ist. Das China der Gegenwart ist kaum vergleichbar mit dem vor mehr als einem halben Jahrhundert, das ökonomisch noch ein Entwicklungsland war, noch nicht auf dem Weg zu einer auch militärischen Supermacht und relativ abgeschottet war vom Rest der Welt.

Die entscheidende Frage ist nun: Wird die Kommunistische Partei nach dieser drastischen (Rück-)Verwandlung des Landes stärker oder schwächer dastehen? Klare Antworten auf diese Frage wird man vermutlich erst im Lauf der kommenden Jahre geben können, aber im Moment sieht es nicht so aus, als gäbe es einen irgendwie wirkungsvollen Widerstand gegen die Herrschaft der Partei. Ihre jüngsten Maßnahmen jedenfalls sind am Ende weniger Zeichen einer möglichen Panik vor Kontrollverlust, sondern des Eifers, mit dem sie eine Idee der vollständigen Kontrolle verfolgt und in die Tat umzusetzen versucht. Man möchte sich angesichts dessen auch lieber nicht vorstellen, was geschehen könnte, sollte diese Partei und ihr Anführer wirklich einmal in Panik geraten.

Okt 2021 | In Arbeit | Kommentieren

Die Wenigsten werden heute die zweite Hälfte der 1950er Jahre als Zeit benennen, in der „cinema riots“ oder „Konzert-Krawalle“ Öffentlichkeit, Medien und Politik ausdauernd beschäftigten und Kriminologen, Psychologen und Soziologen zu umfangreichen Studien herausforderten. Bei mehr als 100 Halbstarken-Krawallen alleine in der Bundesrepublik zwischen August 1956 und September 1959 kann durchaus von einem Massenphänomen gesprochen werden: aufrührerische Zeiten in den vermeintlich so betulichen und biederbürgerlichen Fünfzigern!
Erinnerungskulturell präsenter sind da natürlich die Jahre der „Studentenbewegung“ in der zweiten Hälfte der 1960er, kurz „die 68er“. Gerade einmal zehn Jahre liegen beide Zeiträume auseinander – aber „zusammengedacht“ wurden sie eigentlich nie! Auch nicht von dem – 1968 geborenen Berliner Historiker Bodo Mrozek, der ein Jahr nach dem fünfzigsten „68er-Jubiläum“ in 2018 ein fulminantes Buch vorlegt, das ein Rezensent der einflussreichen „Historische Zeitschrift“ mit Recht bereits kurz nach Erscheinen „als Standardwerk“ geadelt hat.

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Okt 2021 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Junge Rundschau, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren

Nach dieser Kanzlerschaft ist die CDU ein Trümmerhaufen. Könnte es sein, dass Peter Altmaier im Taumel seines Abschieds aus der Politik (die sein ganzes Leben war) ein wenig die Orientierung verloren hat, so wie der Taucher im Tiefenrausch? Also das Gefühl für die Richtungen, für hinten und vorne, oben und unten, rechts und links? Die CDU gehöre in die Mitte, da sei sie immer stark, sagte Altmaier vergangene Woche im Deutschlandfunk, daher (aber, bitte nicht nur deshalb) dürfe sie sich nicht nach rechts orientieren. Was daran stimmt: Die CDU war immer in der Mitte stark. Aber eben gerade die hat sie verloren.

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Okt 2021 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren

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