Das orthodoxe Judentum
Die orthodoxe Strömung vereint eine Mehrzahl an religiösen Bewegungen, welche alle denselben Grundprinzipien folgen, sich aber in der Praxis in Details unterscheiden. So besteht der theologische Grundgedanke darin, dass sich das bindende Wort Gottes aus der schriftlichen und mündlichen Überlieferung der Torah, welches dem jüdischen Volk am Berg Sinai gegeben worden ist, zusammensetzt. Die darin enthaltenen Ge- und Verbote, die Halacha, formen somit das Grundgerüst des orthodoxen Judentums.
Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen in Deutschland identifiziert sich mit den Prinzipien des orthodoxen Judentums und lebt in orthodoxen Gemeindestrukturen. Dies liegt vor allem daran, dass das sehr vielfältige jüdische Leben in Deutschland mit der Shoah vernichtet wurde und nach 1945 erst wieder aufgebaut werden musste. Neben jenen, die in Deutschland überlebt hatten, gab es viele Überlebende aus Osteuropa, die nach ihrer Befreiung mit ihren eigenen Traditionen und Riten nach Deutschland kamen und auch blieben. Diese waren in ihren Ursprungsorten größtenteils innerhalb der orthodoxen Strömung verankert. Und auch heute noch folgt die Mehrheit der jüdischen Gemeinden in Deutschland diesen klassischen orthodoxen Riten und Traditionen. Die Gründer*innen der jüdischen Gemeinden in Deutschland nach 1945 waren Überlebende der Shoah, die einerseits das jüdische Leben und die Traditionen der zum Großteil ermordeten Verwandten wieder aufbauen und weitergeben wollten, andererseits auch oftmals aufgrund des erlebten Schreckens mit ihrem Glauben haderten und mit Gott innerlich stritten. Genau dieses Spannungsfeld spiegelt sich auch in den Strukturen jüdischen Lebens in Deutschland wider.
Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen legt großen Wert auf orthodoxe Gemeindestrukturen, Gottesdienste und Interpretationen der Gesetze. Diese Strukturen geben ihnen die Möglichkeit, ein jüdisches Leben praktizieren zu können – so wird z.B. Wert auf einen nach orthodoxem Ritus ablaufenden Gottesdienst an Feiertagen oder am Schabbat gelegt. Gleichzeitig behalten sie sich vor, im Alltag säkularer zu leben und sich nicht an die strengen Gesetze der Halacha, auch in Bezug auf das Zusammenleben mit den nicht-jüdischen Teilen der Bevölkerung, zu halten. So entscheidet ein jeder selbst, wie die eigene Religion auszuleben ist, unabhängig von den genauen Definitionen der einzelnen Strömungen. So wie vieles im Judentum, spielt die Familientradition auch hier eine wichtige Rolle. Die meisten Juden und Jüdinnen, die über Generationen gewisse Traditionen und Riten weitergegeben haben, halten stark an diesen fest, mit der Absicht auch selbst Träger in der Kette der Traditionsweitergabe zu werden. Somit werden auch die Traditionen, welche für einige als veraltet oder irrelevant empfunden werden, trotzdem praktiziert und an die nächste Generation weitergegeben.
Innerhalb der orthodoxen Strömung kann man unterschiedliche Gruppierungen finden, die sich entweder als Teil der Einheitsgemeinden mitorganisieren, oder eine eigene separate Gemeinde gegründet haben. Der gemeinsame Nenner aller sich als orthodox nennenden Juden und Jüdinnen liegt in der verbindlichen Anerkennung der Ge- und Verbote, der Halacha. Die wichtigsten Unterschiede beziehen sich auf die Strenge des Praktizierens dieser Gesetze, der Beziehung mit der nicht-jüdischen Umwelt oder der Haltung gegenüber dem Staat Israel als Teil der jüdischen Identität.
Nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion gab es einen starken Zuwachs an Juden und Jüdinnen in Deutschland, die aus Osteuropa einwanderten. Neue Herausforderungen entstanden innerhalb der jüdischen Welt, auch in Bezug auf die religiösen Bedürfnisse der Gemeindemitglieder. Dieser historische Moment wurde von einer Vielzahl von jüdischen Bewegungen, die bereits auf internationaler Ebene unterschiedliche Strömungen des Judentums repräsentierten, genutzt, um auch den Weiteraufbau des jüdischen Lebens in Deutschland zu unterstützen. Ein paar dieser Bewegungen konnten sich in Deutschland etablieren und tragen innerhalb und außerhalb der klassischen Gemeindestrukturen zum religiösen jüdischen Leben in Deutschland bei. Zu nennen sind die Chabad- und die Lauder-Bewegung: Seit 1989 befindet sich die chassidische Chabad-Gruppierung in Deutschland, welche innerhalb vieler Gemeinden stetig wächst. Die Chabad-Mitglieder folgen einer strengen Interpretation der Gesetze der Torah und haben sich als Aufgabe gesetzt, weniger religiösen Juden und Jüdinnen das Praktizieren des Judentums näherzubringen. Das heißt sie unterstützen sie dabei Traditionen leichter in Ihr Leben zu integrieren: z.B. bieten sie Veranstaltungen an (Feiertage, Bildungsangebote zu religiösen/spirituellen Themen, u.Ä.) oder betreiben (in manchen Städten) eigene Synagogen oder Kindergärten.
Die Ronald S. Lauder Foundation ist insbesondere in Berlin vertreten. Die Mitglieder identifizieren sich als „modern orthodox“, d.h. sie sehen sich dem traditionell jüdischen Leben verpflichtet, verstehen sich aber auch explizit als Teil der deutschen Gesellschaft. Die jüdische Gemeinde Kahal Adass Jisroel (KAJ) in Berlin wiederum wurde 2013 gegründet, und knüpft an die Tradition der 1869 von Rabbiner Esriel Hildesheimer gegründeten Neo-Orthodoxie und die in der Shoah zerstörten, Israelitischen Synagogen Gemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin, an. Leitbild ist dabei die Symbiose von Religiosität und akademischer Bildung.
Das liberale Judentum
Das liberale Judentum vereint eine Mehrzahl an Bewegungen und wird hier daher als Überbegriff verwendet. Im Gegensatz zum orthodoxen Judentum, welches die religiösen Gesetze von Gott gegeben und als (absolut) bindend sieht, haben die liberalen Bewegungen unterschiedliche Beziehungen zur Halacha.
Im Laufe der Emanzipation der Juden und Jüdinnen in Europa entstand im 19. Jahrhundert das liberale Judentum. Den Juden und Jüdinnen war es wichtig Teil der deutschen Gesellschaft und gleichberechtigte Mitbürger zu werden, jedoch gleichzeitig ihre jüdische Religion weiter zu praktizieren. Aus diesem Grundgedanken heraus entstanden unterschiedliche Bewegungen, welche Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland zur vorherrschenden jüdisch-religiösen Richtung wurden. Mit der Shoah wurde diese Strömung in Deutschland jedoch so gut wie ausgelöscht. Die Juden und Jüdinnen, die nach 1945 die jüdischen Gemeinden in Deutschland wiederaufbauten, waren überwiegend Überlebende aus Mittel- und Osteuropa, die mit dem in Deutschland einst weit verbreiteten liberalem Judentum nichts anfangen konnten. Sie hielten an den orthodoxen Traditionen und Perspektiven fest, die sie aus der Vorkriegszeit in ihren Ursprungsländern seit Generationen her praktizierten.
Zu einem Wiederaufblühen des liberalen Judentums kam es mit dem großen Zuwachs an Juden und Jüdinnen, die in den 1990er Jahren aus der Ex-Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einwanderten. In vielen Städten etablierten sich im Anschluss liberal-jüdische Gottesdienste. Zu verdanken ist dies auch den unterschiedlichen internationalen Bewegungen die nach Deutschland kamen, um sich der sehr schnell gewachsenen jüdischen Population und ihren Bedürfnissen zu widmen.
Von außen betrachtet kann man bereits auf den ersten Blick einige Unterschiede des liberalen und orthodoxen jüdischen Lebens erkennen. So werden während eines orthodoxen Gottesdienstes keine Instrumente benutzt, Männer und Frauen sitzen getrennt voneinander und es wird ausschließlich auf Hebräisch und Aramäisch gebetet. Während eines liberalen Gottesdienstes werden Musikinstrumente benutzt, Männer und Frauen sitzen nebeneinander und neben Hebräisch wird auch die Landessprache verwendet.
Masorti
Das konservative Judentum, welches Masorti (hebräisch: „traditionell“) genannt wird, entstand in Deutschland bereits im 19. Jahrhundert. Laut der „positiv-historischen“ Schule von Zecharia Frankel (1801–1875) sind Juden und Jüdinnen als Mitglieder der Masorti-Bewegung an die Gesetze der Torah gebunden, erkennen aber an, dass die Gesetze historisch entstanden und deshalb veränderbar sind. Eines der Grundprinzipien der Masorti-Bewegung lautet daher: „Die Bedeutung der Erhaltung einer dynamischen jüdischen Praxis, die ihre Basis auf Halacha und Mitzwot hat, die in der jüdischen Kenntnis und Beachtung geerdet ist, die Liebe zur Tradition zeigt und gleichzeitig die Modernität und die positiven Aspekte des Wandels umarmt.“[1] Basierend auf dem Egalitarismus werden auch Frauen zu Rabbinerinnen ernannt. So gründete die in Israel ausgebildete Rabbinerin Gesa Edenberg 2002 den Masorti-Dachverband „Masorti e.V.“ in Berlin, welcher die Bewegung erstmals wieder in Deutschland repräsentiert.
Reform – Progressives Judentum
Das Reformjudentum, welches heute „progressives Judentum“ genannt wird, entstand im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Emanzipation der Juden in Europa. Juden und Jüdinnen waren mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs in fast allen Bereichen der Gesellschaft rechtlich gleichgestellte Mitbürgerinnen und Mitbürger geworden und somit auch an die Gesetze des Nationalstaates, anstatt nur an die religiösen Gesetze des Judentums, gebunden. Diese neue Realität führte zu einer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Hierarchie der Gesetze. Einige Juden und Jüdinnen sahen sich als Deutsche und wollten sich folglich nach den Rechten und Pflichten eines jeden deutschen Bürgers richten. Die Halacha galt hingegen als ein ethischer Leitfaden. In diesem Sinne verstehen progressive Juden die Torah heute „als menschlichen Ausdruck einer existentiellen, religiösen Erfahrung des jüdischen Volkes, in denen sich der eine Gott offenbart“[2]. Sie sind ethisch an die Torah gebunden, jedoch nicht in Form bindender Gesetze. Abraham Geiger (1810-1874) war einer der wichtigsten Gründer des Reformjudentums und plädierte für eine Anpassung historisch bedingter religiöser Ritualgesetze an die Gegenwart.
Nach der Shoah brauchte es mehrere Jahrzehnte, bis sich das progressive Judentum wieder in Deutschland etablierte. In der Zeit der großen Veränderung innerhalb der jüdischen Gemeinden in Deutschland während der 1990er Jahre unterstützte die internationale Bewegung World Union of progressive Judaism diesen Prozess. Als Folge gründete sich die Union progressiver Juden, welche einige progressive Gemeinden in Deutschland vereint, fördert und unterstützt.[3]
Kleinere liberale Gruppierungen
Von Anhängern des jüdischen Rekonstruktionismus wird das Judentum als eine „sich entwickelnde Zivilisation“ definiert.[4] Ein Fokus liegt bei ihnen auf der Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Judentums im Rahmen von Religion, Geschichte, Literatur, Kunst und Musik, Land und Sprache. In Deutschland ist der Rekonstruktionismus nur in sehr wenigen liberalen Gemeinden vertreten und international durch die US-amerikanische Organisation Reconstructing Judaism[5] vernetzt.
Jewish Renewal ist eine strömungsübergreifende Bewegung, welche in Deutschland nur von einer sehr kleinen Gruppe repräsentiert wird. Ihr Ziel ist es, eine Erneuerung des Judentums anzustoßen. Mitglieder verstehen das Judentum als eine tiefgehende spirituelle Praxis, welche zur Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt beiträgt. Durch Meditationen, Tanz, Theater und Bewegung treten Mitglieder mit der Torah und Gott in Verbindung.[6]
„Nur Liberal“
Nach dem Modell der jüdischen Gemeinde Frankfurt („Frankfurter Modell“)[7], haben sich auch andere Anhänger des liberalen Judentums innerhalb der Einheitsgemeinde unter einem Dach organisiert. So entstanden, zum Beispiel in Frankfurt und Berlin, kleine separate jüdische Gemeinden, die sich nach unterschiedlichen Strömungen orientieren. In Frankfurt entstand somit der „egalitäre Minjan“[8], der sich als „nur liberal“ beschreibt und sich keiner der definierten liberalen Strömungen unterordnet.
Fazit
Auch wenn man der Unterscheidung eines orthodoxen und liberalen Judentums folgt, wird deutlich, dass es innerhalb dieser Hauptströmungen noch einige weitere Gruppierungen gibt und diese wiederum auch von einzelnen unterschiedlich praktiziert werden. Die Strömungen des Judentums klar zu unterteilen und zu strukturieren mag sie greifbarer und verständlicher erscheinen lassen, jedoch verschwimmen die Grenzen der Definitionen und Unterteilungen sehr häufig in der Realität.
Bei genauerer Betrachtung erkennt man eine starke Heterogenität innerhalb des jüdischen religiösen Lebens in Deutschland, welche nicht nur auf die unterschiedlichen Strömungen, sondern auch auf das eigentliche Praktizieren der jüdischen Gesetze, Traditionen und Bräuche jedes*r Juden und Jüdin selbst zurückzuführen ist. Während der Einwanderung der Juden und Jüdinnen aus der Ex-Sowjetunion in den 1990er Jahren – die heute die Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen ausmachen – wurde mit viel Anstrengung und Unterstützung (inter-)nationaler Akteure dafür gesorgt, ihnen auch eine religiöse Heimat zu bieten. Seither wurden Gemeinden, Synagogen, Kindergärten und Religionsschulen gegründet, welche, unabhängig von der religiösen Strömung, ein Zeichen für ein wiederaufblühendes heterogenes jüdisches Leben in Deutschland sind.