Woher kommt die Zuversicht, dass diesen Winter alles besser wird als im letzten? Die Politik läuft mit offenen Augen in die nächste Corona-Krise.
Das Prinzip Hoffnung ist ja in der Politik nur selten ein guter Ratgeber. Aber in einer Lage, die so vorhersehbar ist, so gut überwacht und die schon so lange andauert wie die Corona-Krise, muss die Frage erlaubt sein, ob die Zuversicht, mit der die Regierung in den Corona-Winter zu schlafwandeln gedenkt, noch fahrlässig ist oder schon Realitätsverweigerung.
Sehr zuversichtlich ist offenbar Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn, der die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ zum 25. November für beendet erklären und die rechtsgrundlage zur Pandemiebekämpfung zurück in die Hand der Bundesländer legen möchte.
Manch einem mag das wohlige Gefühl, die Pandemie sei überstanden, bekannt vorkommen. Vor ziemlich genau einem Jahr war das, als nach dem Sommer die Zahlen im Keller waren, die Intensivstationen leer. Nicht so gern erinnert man sich dann vielleicht daran, wie kurz darauf die Zahlen wieder stiegen, die Politik immer ein, zwei Schritte hinter der pandemischen Lage herhinkte, bis am Ende nichts anderes half, als ein neuer Lockdown.
Die Hoffnung auf den Impfstoff allein trügt
Das Rätsel ist also, woher Spahns Zuversicht kommt, dass diesmal alles anders wird. Da ist natürlich die Hoffnung auf den Schutz des Impfstoffs, aber die ist eben auch nicht mehr als das – Hoffnung. Zumal doch seit fast zwei Jahren klar ist, dass sich die Pandemie nur mit einem Zusammenspiel aus Maßnahmen bekämpfen lässt, koordiniert und entschieden.
In keinem anderen Katastrophenszenario ist solch ein Verhalten denkbar: Es ist als würde man nach einer Sturmflut die Dämme wieder einreißen, weil man erstens dem Wetterbericht nicht traut, der die nächste Flut schon vorhersagt und zweitens einen Großteil der Bevölkerung mit Schwimmwesten ausgestattet hat – ausgenommen Schwimmwesten-Skeptiker und Kinder.
Die unpopuläre Wahrheit ist: Nichts ist gut. Und nichts wird gut, wenn man Dinge jetzt auf sich zukommen lässt, als wüssten wir nicht, was kommt.
Die Zahlen steigen, das Pflegepersonal fehlt
Die Dinge: Die Inzident liegt wieder über 90, zum ersten Mal seit März, in Berlin sogar schon über 100. Die Zahl der in Kliniken behandelten Corona-Patienten steigt laut Robert-Koch-Institut wieder. Gleichzeitig hat die Zahl des Pflegepersonals abgenommen und mit ihr die Zahl der Intensivbetten, die betreut werden können. Eine Folge der enormen Belastung durch die Corona-Krise – viele Pflegende haben den Job verlassen.
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin warnt, es sei „mit einer spürbaren Einschränkung in der Versorgung der Bevölkerung zu rechnen“. Derweil hat sich die Zahl der Neuinfektionen innerhalb einer Woche fast verdoppelt, ebenso die Zahl der täglichen Toten. Die vierte Welle beginnt. Und das ist nur die Lage in Deutschland.
Andere Länder sind bereits am Limit
In Europa geht längst eine neue Unterart der Delta-Variante um, die die Weltgesundheitsorganisation im Blick hat. In Großbritannien liegt die Inzidenz schon über 450, im Gesundheitssystem soll der Notstand ausgerufen werden. In Rumänien rangeln die Covid-Patienten um die letzten Sauerstoffgeräte. Und das ist nur die Lage in der Nachbarschaft.
Weltweit sieht es noch düsterer aus. In den meisten Ländern Afrikas ist die Impfquote unter 10 Prozent, in einigen unter einem. Eine Brutstätte für neue Varianten, die, wie die Vergangenheit gelehrt hat, zuverlässig ihren Weg nach Europa finden. Ob die Impfstoffe dagegen wirken – unklar.
Ist noch jemand zuversichtlich?
Es müsste global gehandelt werden. Jeder weiß das. Das kann Deutschland allein nicht leisten. Aber zumindest all das zu tun, was zu leisten wäre, ist vielleicht nicht zu viel verlangt. Statt eine Bedrohung für beendet zu erklären, die so offensichtlich ist.
Alle Zeichen sind da. Alle Maßnahmen sind erprobt. Die Antwort darauf kann nicht sein: Alles egal.