Die Corona-Zahlen steigen wieder drastisch. Wie geht es weiter? Eine Vorhersage ist mehrerer Faktoren wegen schwierig. Das macht die Lage gefährlich. Die „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ wird wohl im November enden, zumindest auf dem Papier. So wollen es auch die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP, die gerade über die Bildung der nächsten Bundesregierung verhandeln und die Mehrheit im Parlament haben. Nur dem Virus hat offenbar niemand Bescheid gesagt: Mit einer Inzidenz von über 140 stecken sich derzeit in Deutschland so viele Menschen mit Corona an wie seit Mai nicht mehr.

 

Bedeutsamer als das absolute Niveau ist allerdings die Dynamik, mit der sich die Lage entwickelt. Alle Bundesländer melden derzeit steigende Zahlen, alle Altersgruppen sind betroffen. Die bundesweite Inzidenz steigt so schnell, dass es einer Verdopplung der Fallzahlen in weniger als zwei Wochen entspricht. Wenn dieses Tempo anhalten sollte, wäre spätestens zum rechtlichen Ende der „epidemischen Lage“ am 25. November eine Inzidenz von mehr als 500 erreicht.

Ob dieses Szenario eintritt, lässt sich allerdings nicht vorhersagen. Dafür gibt es zwei Ursachen. Die eine ist eine Art Grundgesetz der Epidemiologie, die andere hat dagegen mit der ganz spezifischen Situation in diesem Herbst 2021 zu tun. Beides kann der Physiker Dirk Brockmann erklären, der das Coronavirus an der Berliner Humboldt-Universität und am Robert Koch-Institut erforscht.

Die Pandemie ist unberechenbarer geworden.

Ursache eins für die Ungewissheit: Menschen ändern ihr Verhalten. „Wir sehen schon seit der zweiten Septemberhälfte, dass die Menschen auf steigende Fallzahlen reagieren und ihre Kontakte wieder zurückfahren“, sagt Brockmann. Der Physiker wertet mit seinem Team täglich die GPS-Daten von 1,2 Millionen Smartphones aus und kann daraus ablesen, wie häufig sich Menschen nahe kommen. Inzwischen ist die Zahl der Kontakte in etwa auf das Niveau vom Jahresanfang gesunken, als in Deutschland die zweite Welle zu Ende ging. Die Streuung der Daten hat allerdings zugenommen – es gibt also einige Menschen, die entweder deutlich mehr oder deutlich weniger Kontakte haben als der Durchschnitt. Gut möglich jedenfalls, dass die Fallzahlen wegen der steigenden Vorsicht bald langsamer steigen oder gar wieder zurückgehen. Gewiss ist das nicht.

Dazu kommen neue Effekte, die eine Einschätzung der Lage erschweren: „Die Pandemie ist unberechenbarer geworden“, sagt Brockmann. Das liegt zum einen am Virus selbst, das in Form der Delta-Variante inzwischen deutlich ansteckender ist als im vergangenen Jahr, und zum anderen an der hohen Zahl Geimpfter. In Bevölkerungsgruppen allerdings, in denen noch wenige Menschen durch die Spritze geschützt sind, kann sich das Virus nach wie vor schnell verbreiten – stößt dabei aber immer häufiger auf Barrieren. „Ausbruchswellen werden dadurch tendenziell heftiger und kürzer“, sagt Brockmann. „Die Änderungsrate der Neuinfektionen schlägt nach oben wie nach unten stärker aus und wechselt zugleich häufiger zwischen steigend und fallend.“ Das lasse sich theoretisch herleiten, sagt Brockmann, es zeige sich aber auch bereits in den realen Fallzahlen. Auch im Ausland gab es in den vergangenen Monaten mitunter heftige Wellen, die nach kurzer Zeit ohne erkennbare Ursache wieder abebbten, etwa im Sommer in Großbritannien.

Warum es auf den Intensivstationen knapper wird

Abwarten also, bis sich alles von selbst wieder beruhigt? Das wäre riskant. „In einer derart dynamischen Situation können auch in kurzer Zeit sehr hohe Inzidenzen erreicht werden“, sagt Brockmann. Und an den Daten aus den Krankenhäusern lässt sich schon jetzt ablesen, wie angespannt die Lage diesen Winter werden könnte. Derzeit stecken sich täglich etwa gleich viele Menschen an wie Ende Oktober vergangenen Jahres. Während damals jedoch täglich mehr als 200 Menschen auf die Intensivstationen aufgenommen wurden, sind es derzeit nur etwa 100. Das zeigen Daten des Codag-Teams an der Universität München auf Grundlage des Divi-Intensivregisters. Denn noch besser als vor einer Infektion schützt die Impfung vor schweren Verläufen von Covid-19.

Die Anzahl der mit Corona-Patientinnen und -Patienten belegten Intensivbetten ist dennoch auf einem ähnlichen Niveau wie vor einem Jahr. Diese wird nämlich nicht nur von den Neuaufnahmen beeinflusst, sondern auch von der Dauer der Aufenthalte. Viele Erkrankte werden deutlich länger im Krankenhaus behandelt als zuvor, berichten Intensivmediziner und Ärztinnen. Das lässt sich mit  den Eigenschaften der Delta-Variante erklären und auch damit, dass die Intensivpatienten im Mittel jünger geworden sind. Und jüngere Menschen müssen häufig länger versorgt werden. Alten Menschen ohne Impfschutz fehlt dagegen meist die Kraft für einen wochenlangen Kampf gegen die Krankheit – wenn sie sich nicht rasch erholen, versterben sie in vielen Fällen.

Hinzu kommt: „Die Kapazitäten der Intensivstationen sind deutlich geringer als vor einem Jahr“, sagt Andreas Schuppert, der an der Rheinisch-Westfälisch Technischen Hochschule in Aachen die Belastung der Intensivstationen analysiert. Viele Ärztinnen und vor allem Pflegekräfte hätten den Beruf verlassen, die Kliniken seien personell nicht voll besetzt. „Vergangenen Winter hatten wir in der Spitze 6.000 Covid-Patienten in Intensivbehandlung. Nun könnte es schon ab 3.000 belegten Betten kritisch werden.“ Aktuell sind etwa 1.800 Betten belegt. Es fehlt also womöglich nur ein Verdopplungsschritt.

In der wöchentlichen Statistik des Robert Koch-Instituts findet sich dazu noch ein besorgniserregendes Detail: Unter den Intensivpatienten ab 60 Jahren sind inzwischen ein Drittel Geimpfte. Das ist auf den ersten Blick überraschend, schließlich schützt die Impfung gerade vor solchen schweren, intensivpflichtigen Verläufen sehr gut. Aber eben nicht perfekt, ein geringer Prozentsatz der geimpften Infizierten erkrankt dennoch schwerwiegend. Und da in der Altersgruppe 60 plus mindestens 85 Prozent vollständig geimpft sind, gibt es eben auch einige schwere Impfdurchbrüche. Und dieses Phänomen nimmt nun an Fahrt auf: Da die Älteren ab Jahresanfang als Erste geimpft wurden, lässt bei ihnen nun auch als Erstes die Wirkung der Impfstoffe wieder etwas nach.

Das Risiko für einen schweren Covid-Verlauf ist zudem stark altersabhängig. Der Alterseffekt schlägt den Impfeffekt: Ein vollständig geimpfter 80-Jähriger hat ein deutlich höheres Risiko, nach einer Corona-Infektion auf die Intensivstation zu müssen, als ein ungeimpfter 30-Jähriger – das gilt für Frauen wie Männer.

Deshalb dürfte es nun eine der wichtigsten Maßnahmen sein, möglichst schnell die älteren Menschen mit einer Boosterimpfung zu schützen. Darüber hinaus bleibt eine möglichst hohe Impfquote in der Gesamtbevölkerung wichtig. Hier schneidet Deutschland im europäischen Vergleich weiterhin schlecht ab, und jüngste Bemühungen wie eine bundesweite Aktionswoche brachten nur bescheidenen Erfolg.

Auch regelmäßiges Testen weiterhin sinnvoll

Aber auch Basismaßnahmen können weiter dazu beitragen, das Virus einzudämmen: Dazu gehören das Tragen von Schutzmasken in Innenräumen und regelmäßiges Testen, auch für Geimpfte. Zwar sind zertifizierte Schnelltests inzwischen kostenpflichtig. Selbsttests für Zuhause sind jedoch längst zu geringen Kosten im Handel erhältlich, viele Arbeitgeber stellen sie auch kostenlos bereit. Zwar sind diese Tests fehleranfällig und können sowohl falsch positiv als auch falsch negativ ausfallen – dennoch lassen sich durch regelmäßiges Testen genügend Infektionsketten durchbrechen, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen.

Ob im Winter auch noch mal weitergehende Maßnahmen, etwa Veranstaltungsverbote oder Kontaktbeschränkungen, nötig sein werden, lässt sich derzeit nicht vorhersagen.

Okt 2021 | Gesundheit | Kommentieren