Der Stammheim-Prozess war eines der zentralen Ereignisse während des sogenannten »Deutschen Herbsts«. Zum ersten Mal traf Staatsmacht offen auf die RAF-Terroristen der ersten Generation. In seiner Bühnenhaftigkeit wirkte der Prozess gleichsam wie eine Inszenierung. Es war ein offener Schlagabtausch, in dem die Angeklagten immer wieder über die Stränge schlugen, während das Gericht seine Autorität untermauern wollte. Der von Florian Jeßberger und Inga Schuchmann herausgegebenen Band „Die Stammheim-Protokolle“ gibt einen direkten Einblick in den Verlauf des Prozesses, in dem er die Gerichtsprotokolle zugänglich macht.
Zusammen mit Kontextualisierungen entsteht ein vollständiges Bild über den Prozess und die gesellschaftlichen Konflikte, die in ihm verhandelt wurden. Der hier gezeigte Ausschnitt macht deutlich, wie die Angeklagten sich selbst sahen: als Teil des bewaffneten Widerstandskampfes, der nicht an die Kategorien der Justiz gebunden war.

Dienstag, 4. Mai 1976
106. Verhandlungstag

Rechtsanwalt Schily stellt insgesamt neun Beweisanträge zum Komplex Vietnam sowie zum Beweis dazu, dass militärische Operationen des US­ Militärs über die im Heidelberger Hauptquartier installierten Nachrich­ tenstationen koordiniert worden seien.178 Prof. Azzola stellt weitere Anträge zum Beweis, dass die USA in den Jahren von 1970 bis 1972 eine völkerrechts­ widrige Aggression gegen das vietnamesische Volk verübt hätten.179 Hieraus, so schließlich Rechtsanwalt Dr. Heldmann, ergebe sich ein völkerrechtliches Widerstands­ bzw. Nothilferecht, durch welches die angeklagten Taten ge­rechtfertigt seien.180

[…]
Vors.: Kurze Erklärung. Bitte, Herr Raspe.
Angekl. Raspe: Also wir akzeptieren diese Anträge, wir haben sie auch zum Teil konzipiert und, das heißt also formal, daß wir uns diesen Anträgen anschließen.
Vors.: Sprechen Sie für sich? … Ja.
Angekl. Raspe: Wir halten sie für korrekt. Aber natürlich fassen wir unsere Politik nicht in völkerrechtlichen Kategorien, wir fassen sie überhaupt nicht in Kategorien, sondern die Politik der RAF, bewaffnete proletarische Politik, hat Kriterien – die jeder revolutionären Praxis der bewaffneten Aktion, jedes Zieles seiner strategischen und taktischen Bestimmung, jedes Kampfes, um den Griff der Dialektik, die zwischen Subjektivität, dem Existenziellen und ihrer Vermittlungim Objektiven, der Notwendigkeit als Vehikel in dem Moment besteht und wirksam werden kann, in dem sie in eines gesetzt werden, was die Funktion der Politik ist, ihre Dimension. Der Kampf um diesen Begriff der Dialektik entwickelt revolutionäre Moral.
Es ist eine Banalität zu sagen, daß Justiz, der Staatsschutz, dieses Gericht hier, diese Ebene als ihren Antagonismus, also anti-institutionelle Politik nur fassen kann mit dem Ziel der Zerstörung revolutionärer Politik in der Vernichtung des Revolutionärs. Denn was hier im absurden Versuch, revolutionäre Politik zu verurteilen, nur rauskommen kann, ist ein System von Lügen, falschen Aussagen, manipulierten Zeugen, Beweisfälschung und Unterdrückung, Aktenmanipulation, von der Polizei geschmierten Zeugen, und diesen infamsten Dreh, den Buback und Prinzing …
Vors.: Herr Raspe, ich ermahne Sie; wenn Sie in dieser Tonart fortfahren, werden Sie nicht mehr viel sprechen können.
Angekl. Raspe: … und diesen infamsten Dreh, den Buback und Prinzing mit Hoff181 im Auge hatten, mit seiner total vom Staatsschutz formulierten Aussage, in die gezielt eine Belastungskonstruktion gegen Andreas reingefälscht worden ist. Den Kontrast dazu bilden z. B. die Fakten, die Statistiken, die die Verteidiger hier nochmal gebracht haben. Und das vermittelt auch, daß sie angesichts dessen, z. B. über diese Geste Wunders, diese Mordwerkzeuge allerdings nur lachen können. Infam ist nicht der Verurteilungszwang, der in dem ganzen Schmierentheater sichtbar wird hier, infam ist die Dreistigkeit …
Vors.: Jetzt, Herr Raspe, entziehe ich Ihnen das Wort. Sie haben fortgesetzt in Ihren Ausführungen hier das Gericht und weitere Instanzen des Staates beleidigt; dazu haben Sie kein Recht. Es ist das Wort »Schmierentheater« gefallen, Sie haben von einem »infamen Dreh« gesprochen, Sie haben hier von »Verfälschungen« gesprochen – bewußt – und die getrieben worden seien hier von Beteiligten des Verfahrens und von anderen Instanzen der Verfolgungsbehörden. Das wird nicht hingenommen, und aus diesem Grund ist Ihnen das Wort entzogen.
Angekl. Raspe: Ja, also wollen Sie darüber vielleicht noch einmal ein Beschluß machen?
Vors.: Wollen Sie das beanstanden?
Angekl. Raspe: Ja, natürlich, und ich will dazu auch nochmal was sagen, zu dieser Beanstandung, weil Sie also mit diesem Wortentzug, den Sie also jetzt gleich exekutieren werden, tatsächlich ja nur das bestätigen, was ich gerade gesagt habe. Das ist eben auch so eine Erscheinungsform der Drehs, die dieses Gericht hier drauf hat. Und ich kann dazu sagen, es ist auch gar nicht möglich, daß Sie eine der Tatsachen, die ich gerade genannt habe, tatsächlich substanziell widerlegen könnten, das ist nicht möglich. Und weil es nicht möglich ist, unter anderem, entziehen Sie dann eben an solchen Punkten das Wort. Das ist die Maßnahme dieses Gerichts.
Jedenfalls, um das noch dazuzusagen, ist also nicht infam, die …
Vors.: Herr Raspe, dazu können Sie jetzt keine Ausführungen machen. Sie können lediglich den Wortentzug beanstanden. Das haben Sie im Augenblick getan, der Senat wird über diese Beanstandung befinden.
(Nach geheimer Umfrage) Der Senat hat beschlossen: Es bleibt bei dem Wortentzug aus den schon angegebenen Gründen. […]
Angekl. Ensslin: Wenn uns an der Aktion der RAF 72 …
Vors.: Darf ich fragen, gilt dasselbe für Frau Ensslin, daß noch eine kurze Erklärung gewünscht wird?
Angekl. Ensslin: Ja.
Vors.: Bitte.
Angekl. Ensslin: Wenn uns an der Aktion der RAF 72 etwas bedrückt, dann das Mißverhältnis zwischen unserem Kopf und unseren Händen und den B 52.
Der Angeklagte Baader verläßt um 17.08 Uhr den Sitzungssaal.
Angekl. Ensslin: Hier nochmal einfach: Wir sind auch verantwortlich für die Angriffe auf das CIA-Hauptquartier und das Hauptquartier des 5. US-Corps in Frankfurt/Main und auf das US-Hauptquartier in Heidelberg, insofern, wie wir in der RAF seit 70 organisiert waren, in ihr gekämpft haben und am Prozeß der Konzeption ihrer Politik und Struktur beteiligt waren. Insofern sind wir sicher auch verantwortlich für Aktionen von Kommandos, z. B. gegen das Springer-Hochhaus, deren Konzeption wir nicht zustimmen, und die wir in ihrem Ablauf abgelehnt haben. Zu erwägen ist nicht ein Widerstandsrecht in der Bundesrepublik, wie es hier nicht um Rechte geht, sondern was die Politik der RAF ausdrückt, ist das Bewußtsein der Pflicht zum Widerstand in der Bundesrepublik. Und das exakt war zwei Tage lang der Inhalt unserer Erklärungen zur Sache, wie das heißt, also nicht nur die Erklärung von Verantwortung, sondern was Verantwortlichkeit gegenüber imperialistischer Politik nur sein kann – Widerstand, Kampf. Das hat der Text, der im Januar hier gekommen ist, artikuliert. Das Gericht hat ihn ignoriert. Eine Reaktion, die nur zwei Deutungen zulässt; Sie haben nichts verstanden, aber wahrscheinlicher, Prinzing darf die Veranstaltung nicht abkürzen, weil sie von der Dramaturgie des Bundestagswahlkampfes182 bestimmt ist. […]


178, Anlagen 2 bis 10 zum Protokoll vom 4. Mai 1976, 9379 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung.

179, 9417 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung.

180, Anlage 12 zum Protokoll vom 4. Mai 1976, S. 9425 des Protokolls der Hauptverhandlung.

181, Dierk Hoff, der in seiner Werkstatt einige der von der RAF verwendeten Sprengkörperhüllen hergestellt hatte, wurde als einer der Hauptbelastungs- zeugen bereits ab dem 68. Verhandlungstag Die Verteidigung war der Auffassung, die Bundesanwaltschaft habe in unzulässiger Weise Einfluss auf die Aussage Hoffs genommen, etwa durch das in Aussicht stellen nicht vorgesehener Vorteile, um ihn dadurch gesetzeswidrig als Kronzeugen zu gewinnen. Um dies zu beweisen, stellte Rechtsanwalt Dr. Heldmann am 89. Verhandlungstag den Antrag, den Generalbundesanwalt Siegfried Buback als Zeugen zu vernehmen (S. 7962 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung). Der Senat lehnte den Antrag später ab (S. 11 473 des Protokolls der Hauptverhandlung, 142. Verhandlungstag), nachdem bereits behördliche Erklärungen des Generalbundesanwalts in der Hauptverhandlung verlesen worden waren. Daraufhin lud die Verteidigung ihn unmittelbar selbst zur Hauptverhandlung. Er sagte schließlich am 153. Verhandlungstag als Zeuge aus.

182, Am 3. Oktober 1976 fand die Wahl zum 8. Deutschen Bundestag Da- bei verlor die SPD ihre Stellung als stärkste Partei an die Union. Trotzdem konnte die Koalition aus SPD und FDP ihre 1972 gewonnene Mehrheit behaupten, sodass der Kandidat der SPD, Helmut Schmidt, erneut zum Bundeskanzler gewählt wurde. Damit setzte er sich gegen Helmut Kohl durch, der für die CDU angetreten war.

Okt 2021 | Heidelberg, Allgemein, Buchempfehlungen, Junge Rundschau, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren