Die einstige Sekretärin im Konzentrations-lager Stutthof ist angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 11.412 Fällen und in 18 weiteren Fällen wegen Beihilfe zum versuchten Mord. Für Staatsanwältin Maxi Wantzen hatte sie »teilweise bis ins Detail« Kenntnis von den Verbrechen innerhalb des KZ, als sie zwischen Juni 1943 und April 1945 als Schreibkraft dem Lagerkommandanten zu Diensten war.

 

65.000 Menschen wurden in Stutthof ermordet

Mit Irmgard Furchner steht zum ersten Mal eine Zivilangestellte eines der Konzentrationslager der Nationalsozialisten vor Gericht. Es dürfte einer der letzten NS-Prozesse überhaupt sein, eine Herausforderung für den Vorsitzenden Richter Dominik Groß, der seine Rolle in diesem historischen Verfahren noch zu suchen scheint. Ihm fehle die Souveränität, er brauche »Nachhilfe«, kritisieren einige Nebenklagevertreter.

Viele von ihnen vertraten auch Überlebende im Prozess gegen den ehemaligen KZ-Wachmann Bruno Dey, der im Juli 2020 in Hamburg verurteilt wurde. Die Hamburger Strafkammer unter dem Vorsitz von Richterin Anne Meier-Göring mühte sich damals aufrichtig um Wahrheitsfindung und Rechtsfrieden und zog das Verfahren von Beginn an vorbildlich durch.

In Itzehoe beginnt es hingegen stotternd. Weil es sich um ein Verfahren von »herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland handelt«, wird die Hauptverhandlung zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken aufgezeichnet. Allerdings erst, nachdem Hans-Jürgen Förster einen entsprechenden Antrag gestellt hatte. Der Anwalt aus Lübeck vertritt in dem Verfahren vier Überlebende aus Israel und Australien als Nebenkläger. Es sei »befremdlich«, sagt Förster, dass das Gericht nicht »von Amts wegen« Tonbandaufnahmen zugelassen habe. Im Hamburger Verfahren war kein Hinweis dazu notwendig.
Auch gelang es dem Gericht damals beispielhaft, die Würde aller zu achten: die des angeklagten KZ-Wachmannes, vor allem aber die der Nebenklägerinnen und Nebenkläger. Ihnen geht es nicht um Rache, auch nicht um ein hartes Urteil. Ihr Leid wird nicht gemindert, wenn eine inzwischen hochbetagte ehemalige KZ-Sekretärin wie Irmgard Furchner ins Gefängnis kommt.

Ihnen geht es um Feststellung, um Erinnern, um Mahnen. Irgendwann werde nicht »ein Einziger von uns mehr da sein und darüber berichten können, was er oder sie einst mit eigenen Augen gesehen und erlebt hat«, schrieb der Holocaust-Überlebende Efraim Jessner in seinem Buch »From Darkness to Light«.

Umso irritierender wirkt nun die Verhandlungsführung des Vorsitzenden Groß, der den dritten Prozesstag damit beginnt, den Antrag des Berliner Anwalts Onur Özata abzulehnen. Der Nebenklagevertreter wollte eine Eröffnungserklärung abgeben. Verfahrenstechnisch sei das nicht vorgesehen, argumentiert Groß.

Özata wehrt sich. Andere Opfervertreter stellen sich hinter ihn. »Wenn Sie uns das Wort abschneiden, dann schneiden Sie den Opfern das Wort ab«, sagt Christoph Rückel, der in dem Verfahren sechs Überlebende als Nebenkläger vertritt. »Das verdient dieser Prozess nicht.«

Groß wirkt unwillig. Er wolle nun mit der Beweisaufnahme beginnen, sagt er ungeduldig. »Sie degradieren uns zu Statisten«, konstatiert Özata. Groß streitet ab und ruft Stefan Hördler, Historiker aus Göttingen, als Sachverständigen auf. Er gilt als Experte für Wehrmachts- und SS-Strukturen und hat im Auftrag der Staatsanwaltschaft Itzehoe ein Gutachten verfasst.
Versteht sie den Historiker?

Hördler spricht über die Struktur und die Organisation des KZ-Systems und darüber, dass ein SS-Mann zunächst den Status eines bewaffneten Hilfspolizisten hatte. Ab 1936 habe es die SS-Totenkopfverbände gegeben, in deren Machtzentrum 1938 auch Paul-Werner Hoppe aufstieg – Furchners Chef. Fast zwei Jahre lang war sie in der Kommandantur des KZ Stutthof Hoppes Sekretärin.

Irmgard Furchner folgt den Ausführungen Hördlers mit verschränkten Händen am Mund. Sie schaut nicht zu den Leinwänden, auf denen Dokumente erscheinen, die Hördler erklärt. Ihre Sehkraft ist stark eingeschränkt. Versteht sie den Historiker überhaupt? Kann sie ihm folgen? Richter Groß fragt sie nicht ein einziges Mal.

Auch Furchners Verteidiger Wolf Molkentin hat Probleme mit der Verhandlungsführung des Gerichts. Hördlers Vortrag komme zu früh. »Mit dem Gutachten wird so eine umfassende Darstellung und auch Bewertung der Beweislage an den Anfang gestellt, was die weitere Beweisaufnahme sehr vorprägen könnte«, so Molkentin, »vor allem für die Laienrichter, die ja gerade nicht die Akte kennen, sondern sich ganz unbefangen ein Bild aus dem Verlauf der Hauptverhandlung selbst machen sollen.«

Als der Gutachter eilig zum Bahnhof muss, wendet sich Groß den Nebenklägern zu. Özata lässt nicht locker. Der Vorsitzende könne eine Erklärung der Nebenklage zu Beginn einer Hauptverhandlung durchaus gewähren. »Wir sind hier, weil unsere Mandantinnen und Mandanten nicht hier sein können«, trägt Özata vor. »Ohne die Stimme der Opfer zu erhören, kann Gerechtigkeit nicht geschaffen werden.«

Sein Kollege Mehmet Daimagüler empfindet den Beschluss der Kammer als »respektlose Frechheit« und ruft empört: »Sie haben überhaupt kein Interesse daran, dass diese Menschen gehört werden.«

Ein Gerichtsverfahren bedeute Aufklärung, sagt Rückel in ruhigem Ton. Die Kammer müsse dazu die hören, die nicht gehört wurden. Offensichtlich verstehe das Gericht nicht, was dies für die Vertreter der Nebenklägerinnen und Nebenkläger bedeute: Menschen eine Stimme geben, die nach dem Erlebten oft gar keine Kraft mehr haben, darüber zu sprechen.

Groß nimmt die Kritik nüchtern hin. Staatsanwältin Wantzen versucht, zu vermitteln. Es werde ausreichend Zeit geben, die Nebenklage anzuhören oder Erklärungen abzugeben, sagt sie. Klein beigeben wollen die Nebenkläger nicht, im Gegenteil. Rückel kündigt an: »Wir werden uns gehörig zur Wehr setzen.«

Anmerkung: In einer früheren Version hieß es, der Vorsitzende Richter Groß habe Stefan Hördler als Zeugen aufgerufen. Tatsächlich sagte Hördler als Sachverständiger aus. Der SPIEGEL hat dies korrigiert.

Okt 2021 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Sapere aude, Senioren | 1 Kommentar