„Aufbruch“ – das meistbemühte Wort der Stunde. Kein Tag vergeht, ohne dass einer der rot-grün-gelben Zeremonienmeister den Beginn einer neuen Ära beschwört. „Wir fühlen uns gemeinsam beauftragt, in Deutschland einen neuen Aufbruch zu organisieren“, brüstet sich FDP-Missionar Christian Lindner. „Es wird das größte industrielle Modernisierungsprojekt, das Deutschland wahrscheinlich seit über 100 Jahren durchgeführt hat“, frohlockt SPD-Kanzler in spe Olaf Scholz, und Grünen-Apostel Robert Habeck predigt: „Wir sind in einer Hoffnungszeit angekommen.“ Halleluja!
An großen Worten herrscht in diesen Tagen ebenso wenig Mangel wie an großen Herausforderungen. Die künftigen Bestimmer wollen Deutschland gleichzeitig klimaneutralisieren, digitalisieren, entbürokratisieren, sozial egalisieren und stärker europäisieren – und das Kunststück fertigbringen, all das auch noch irgendwie zu finanzieren. Wie genau, wissen sie zwar noch nicht, man raunt nun viel über neue Schulden, bisher hatte die Stunde der Wahrheit noch nicht geschlagen.
Das ändert sich jetzt: Nach den Sondierungen beginnen diese Woche die formalen Koalitionsverhandlungen, in der um Punkt und Komma gerungen wird. Erst dabei wird sich abzeichnen, ob den großen Worten große Taten folgen können – und ob die neue politische Dreifaltigkeit tatsächlich in der Lage ist, das Land mit wegweisenden Weichenstellungen zu beglücken. Aber auch hernach ist noch nicht alles in trockenen Tüchern. Wie viel (oder wie wenig) manche vollmundige Ankündigung wert ist, erkennt man, wenn man sie in den historischen Kontext stellt.
Schon zweimal in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein sozialdemokratischer Kanzler das Ruder von der CDU übernommen.Anno 1969 personifizierte Willy Brandt den Aufbruchsgeist der Studentenproteste, er versprach gesellschaftliche Modernisierung nach den biederen Jahren Konrad Adenauers und dessen Kurzzeit-Diadochen Erhard und Kiesinger. Brandt wollte innenpolitisch „mehr Demokratie wagen“ und außenpolitisch mit der „neuen Ostpolitik“ den Kalten Krieg entspannen. Knapp 30 Jahre später, anno 1998, versprachen Gerhard Schröder und Joschka Fischer wiederum einen Aufbruch: Sie wollten den Kohl’schen Reformstau auflösen und setzten allerlei Kommissionen ein, um den Arbeitsmarkt, die Bundeswehr, das Zuwanderungsrecht und die Rente umzumodeln.
Doch wie das so ist im Leben, so ist es auch in der Politik: Pläne sind nur so lange groß, bis sie auf die Realität treffen. Willy Brandt errang zweifellos Erfolge, doch nach mehreren Abgängen in der SPD-Fraktion, einem turbulenten Misstrauensvotum, seiner hart erkämpften Wiederwahl und den Mühen des politischen Alltags erlahmte sein Gestaltungswille so rasant, dass sein Intimfeind Herbert Wehner bald spottete: „Der Herr badet gerne lau.“ 1974 folgte die Guillaume-Affäre, Rücktritt, Ende Legende.
Auch Rot-Grün wurde nach dem historischen Wahlsieg 1998 von der harten Realität eingeholt: Im Zoff mit Genosse-der-Bosse-Schröder verließ Oberfinanzminister Oskar Lafontaine erst die Regierung, später auch die Partei, nahm das linke SPD-Lager mit und piesackte seine alten Buddys seither bei jeder Gelegenheit. Die sahen sich unterdessen mit einer außenpolitischen Krise nach der anderen konfrontiert – Balkankriege, Terror von 9/11, Afghanistan, Irakkrieg –, sodass kaum Luft für großartige Reformen blieb. Erst vier Jahre nach ihrem Amtsantritt raffte sich Schröders Regierung zu den Hartz-Reformen auf, wagte viel – und schaufelte sich damit zugleich ihr politisches Grab. Sic transit gloria mundi.
Was lässt sich aus diesen Erfahrungen lernen, im Hinblick auf die künftige Bundesregierung, die erstmals von gleich drei sehr unterschiedlichen Parteien getragen werden soll? Vielleicht ganz einfach dies: Wichtiger als hochtrabende Pläne ist Stabilität – durch gegenseitiges Vertrauen, Berechenbarkeit und Seriosität. Dafür die Grundlage zu legen und sie im Folgenden zu erhalten, ist die schwierigste Aufgabe einer Regierung. Die Probleme kommen dann von ganz allein.
Fast auf den Tag genau 23 Jahre ist es her, dass Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine die Unterzeichnung des ersten rot-grünen Koalitionsvertrags im Bund feierten.  (Quelle: imago images)
Fast auf den Tag genau 23 Jahre ist es her, dass Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine die Unterzeichnung des ersten rot-grünen Koalitionsvertrags im Bund feierten. (Quelle: imago images)
Okt 2021 | In Arbeit | Kommentieren