Unternehmen werden gemaßregelt, Märkte brutal reguliert, Stars und Reiche verfolgt: China bewegt sich endgültig in Richtung einer totalitären Dystopie. Wo soll das enden?

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China: Am 1. Juli feierte die Kommunistische Partei Chinas den 100. Jahrestag ihrer Gründung in Peking (links). Ende August verschwand die wohl bekannteste Schauspielerin des Landes, Zhao Wei (rechts, hier in Shanghai im Januar) aus der Öffentlichkeit, alle ihre Filme wurden von chinesischen Streamingplattformen entfernt.
Am 1. Juli feierte die Kommunistische Partei Chinas den 100. Jahrestag ihrer Gründung in Peking (links). Ende August verschwand die wohl bekannteste Schauspielerin des Landes, Zhao Wei (rechts, hier in Shanghai im Januar) aus der Öffentlichkeit, alle ihre Filme wurden von chinesischen Streamingplattformen entfernt. © Kevin Frayer; VCG/​Getty Images

Der Staat greift durch – Seite 1

Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie arbeitet in China und Deutschland. In dieser ZEIT-ONLINE-Serie berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter einem Pseudonym.

Der diesjährige chinesische Sommer war turbulent und verwirrend und auch der Herbst ist es nun. Die Regierung hat eine ganze Reihe rigoroser Maßnahmen in Kraft gesetzt, ein „hartes Durchgreifen“, wie es in westlichen Medien gerne heißt, gegen diverse Wirtschaftsunternehmen, Individuen und ganze gesellschaftliche Gruppierungen. Fast alle dieser Maßnahmen wurden von deutlichen Kommentaren in den offiziellen Medien begleitet, die die vermeintlichen Verbrechen oder das schädliche Verhalten der jeweils betroffenen Gruppierung, Individuen oder Märkte gegen die Gesellschaft erläuterten. Es liegt etwas in der Luft, aber ganz genau einordnen lässt sich derzeit noch nicht, was gerade passiert.

Ein so merk- wie denkwürdiger Fall war Ende August das plötzliche Verschwinden von Chinas wohl berühmtester Schauspielerin, Zhao Wei, aus der Öffentlichkeit. Sämtliche Filme, in denen sie mitgespielt hat – alle so harmlos, wie populäre Unterhaltung nur sein kann – wurden von den chinesischen Streamingplattformen genommen, ihre Social-Media-Präsenz wurde komplett gelöscht. Warum genau, ist bis heute nicht wirklich bekannt. Doch die treuherzigen offiziellen Darstellungen der Causa konnten die Absurdität des Geschehens nicht verdecken. „Selbst wenn Zhao Wei einen Fehler gemacht hat, warum werden ihre völlig harmlosen Fernsehfilme verbannt?“, fragten etwa verblüffte junge Chinesinnen und Chinesen in Chatgruppen. „Ist das nicht unfair denen gegenüber, die darin ebenfalls mitspielen?“ – „Ich bin mit ihren Shows aufgewachsen und hatte großes Vergnügen dabei, sie zu sehen. Jetzt wird meine Erinnerung ausradiert.“ Diese noch leisen Beschwerden sind ein offenkundiges Signal, dass womöglich ein tieferes Unbehagen angesichts der plötzlichen und allgegenwärtigen Eingriffe des Staates mindestens einen Teil der chinesischen Gesellschaft ergriffen hat.

Aber auch internationale China-Expertinnen und -Experten sind zusehends alarmiert und rätseln darüber, was eigentlich los ist in der aufstrebenden Supermacht. Und Stoff für solche Diskussionen gibt es mehr als genug.

Da ist das Vorgehen gegen Fintechunternehmen, vor allem die Ant Group, ein Tochterunternehmen von Alibaba, das Finanzdienstleistungen anbietet. Offiziell hat die chinesische Zentralbank die Ant Group um eine Restrukturierung ihrer Dienstleistungen gebeten, das Unternehmen reagierte darauf mit der Ankündigung bereits Anfang des Jahres, die Verbraucherkreditdatenabteilung abzuspalten und die Entwicklung einer staatlich gestützten Digitalwährung zu unterstützen. Was offenbar wie eine Regulierungsmaßnahme wirken soll, stellt eine direkte staatliche Bedrohung für die beliebten Zahlungssysteme der Ant Group dar, etwa Alipay (das vergleichbar ist mit Apple Pay).

Es geht um direkte staatliche Kontrolle.

Da ist das Durchgreifen gegen die größten E-Commerce- und Social-Media-Unternehmen, denen der Missbrauch ihrer Marktdominanz vorgeworfen wird. Kartellbehörden fordern die Beseitigung der monopolistischen Praktiken der Firmen, betroffen sind etwa Tencent (Social Media und digitale Zahlungssysteme), Meituan (Rabattaktionen und Lebensmittellieferungen), Baidu (Suche), ByteDance (Social Media) und JD (E-Commerce). Auch wenn zeitgleich in den USA der Kongress derzeit überparteilich eine stärkere staatliche Regulierung etwa von Facebook diskutiert: Die Maßnahmen in China sind unvergleichlich härter, invasiver und weitreichender als die in den USA debattierten und sie haben eine völlig andere Stoßrichtung.

Da ist das Vorgehen gegen das, was die Regierung als „chaotische“ Celebrity-Fankultur beschreibt. In offiziellen Medien war zu lesen, dass Popstars und Schauspieler „den Geist chinesischer Jugendlicher vergiften“. Letztere sind oft in Clubs selbstorganisiert, was sie zu gesellschaftlich wirkmächtigen Gruppen macht. Ihre Form der Fanverehrung hat Parallelen zu politischen Kampagnen in demokratischen Gesellschaften. So haben solche Fanklubs in ganz China während des ersten Corona-Ausbruchs 2020 die effizientesten Spenden- und Freiwilligengruppen zur Hilfe für Städte im Lockdown auf die Beine gestellt.

Da ist das harte Durchgreifen gegen reiche Steuervermeider und gegen jene, „die exzessiv viel verdienen“. Im August hat Staatspräsident Xi Jinping in einer Rede dazu aufgerufen, „exzessiv hohe Einkommen zu beseitigen und anzupassen“. Daraufhin haben die staatlichen Steuerbehörden Untersuchungen gegen Menschen angekündigt, die sich vermeintlich oder tatsächlich um das Zahlen von Steuern drücken. Zu den prominentesten Betroffenen gehörte Zhao Wei, was eine mögliche Erklärung für ihr Verschwinden sein könnte. Auffällig ist, dass die superreichen Familien der kommunistischen Elite bislang nicht zu denen gehören, die wegen Steuervermeidung verfolgt werden.

Die Liste an Maßnahmen scheint täglich länger zu werden

Links: Flaggentragende Besucher von Xibaipo, während des chinesischen Bürgerkrieges Ende der Vierzigerjahre kurzzeitig Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas. Rechts: Straßenszene in Lhasa, Hauptstadt des sogenannten Autonomen Gebiets Tibet der Volksrepublik China © Tingshu Wang; Martin Pollard/​Reuters

Da sind die Maßnahmen gegen außerschulischen Unterricht. Das ist in China eine riesige Industrie, die jährlich angeblich bis zu 100 Milliarden US-Dollar umsetzt und etwa zehn Millionen Menschen Beschäftigung bietet. Über Nacht wurde dieser Bereich de facto für illegal erklärt.

Da ist das Durchgreifen gegen die Gamesindustrie. Das Verbot von Onlinevideospielen für Minderjährige gehört zu den öffentlich wirkmächtigsten Maßnahmen der jüngeren Zeit, weil sie eine große Gruppe insbesondere an Jugendlichen trifft. Die Nationale Behörde für Presse und Publikationen hat für Spielerinnen und Spieler unter 18 Jahren eine Höchstgrenze von drei Stunden wöchentlichen Onlinegamings eingeführt; erlaubt ist Spielen zudem nur noch zwischen acht und neun Uhr abends freitags, samstags und sonntags. Viele Anbieter mussten Spiele unzugänglich machen oder ganz aus dem Netz entfernen. Die Aktienwerte einiger führender Internetunternehmen sind daraufhin abgestürzt.

Staatliche Maßnahmen in China richteten sich außerdem gegen Mitfahrzentralen, gegen Carsharing-, Leihfahrrad- und Powerbanksharingunternehmen; gegen Firmen, die an die US-Börse gehen wollten; Firmen, deren Geschäftsmodelle auf Algorithmen basieren; Cloud-Computing-Firmen, die ihre Dienste an den Staat und an Parteiorganisationen verkaufen; Bitcoin-Miner und Kryptowährungsbörsen, Immobilienfirmen und Vermieter, private Investmentfonds, Onlineversicherer, Onlineplattformen für Kurzzeitvermietung, Kosmetikfirmen und solche für verpackte Lebensmittel, feministische Socia-Media-Accounts …

Eine neue Unruhe

Im Jahr 1980 hat Deng Xiaoping die Reformen zur Öffnung Chinas begonnen und das fundamentale Prinzip für die Kommunistische Partei Chinas ausgerufen: Bu Zhe Teng (不折腾, etwa: „Nicht schwanken“). Bu Zhe Teng ist eine Formel mit diversen Bedeutungsschichten. Sie spielte auf die chaotischen, gewalttätigen und willkürlichen politischen Entscheidungen Mao Zedongs seit den Fünfzigerjahren an, besonders auf den „Großen Sprung nach vorn“, der statt zum gewünschten Überholen des Westens zu zig Millionen Hungertoten geführt hatte, und auf das Desaster der Kulturrevolution. Bu Zhe Teng stellt letztlich eine Warnung an die Kommunistische Partei dar, vor einer von ihr selbst herbeigeführten Unruhe, aber auch vor plötzlichen Richtungsänderungen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Dieses Prinzip hat das chinesische Wirtschaftswunder der zurückliegenden vier Jahrzehnte ermöglicht, auch indem die Privatwirtschaft Freiheiten erhielt; es hat China zunächst die Teilnahme und mittlerweile in manchen Bereichen Dominanz über Weltmärkte garantiert; und Bu Zhe Teng hat im Inneren Chinas auch einen gewissen Freiraum für Gesellschafts- und Rechtsreformen und die Entwicklung eines modernen Bildungssystems geschaffen.

Doch seit Xi Jinping schrittweise die Macht übernommen hat, hat sich China immer weiter vom Bu-Zhe-Teng-Prinzip entfernt. Aus zum Teil erkennbar persönlichen Motiven hat der chinesische Präsident diesen Weg gewählt: Offenkundig, um an Popularität innerhalb der Bevölkerung zu gewinnen, aber auch seine Machtposition abzusichern und seine Gegner in der Partei zu auszuschalten, hat Xi bereits als frisch gewählter Generalsekretär der Partei im Jahr 2012 große Kampagnen gestartet, darunter eine gegen staatliche Korruption, in deren Zuge mehr als eine Million Funktionäre auf allen Hierarchiestufen ihre Ämter verloren. Die Bevölkerung sollte offenkundig sehen: Dort mistet jemand aus, eine starke Hand, ein entschlossener Anführer, Xi Jinping. Mit welchem tatsächlichen Erfolg die Korruption bekämpft wurde und um welchen Preis dies geschah (etwa dem, das zahlreiche geschasste Funktionäre Suizid begingen), lässt sich nicht genau beziffern.

Im Bereich der Außenpolitik hat Xi Jinping sich komplett von Deng Xiaopings Warnungen vor selbst verschuldeter Unruhe abgewandt. Er hat die aggressive Wolf-Warrior-Diplomatie (so benannt nach einem Rambo-artigen Blockbuster) ins Leben gerufen und damit nicht nur Befürchtungen bei demokratischen Ländern in der Region ausgelöst, sondern den Anfang vom Ende der Politik des Engagements zwischen China und den USA ausgelöst. Die Beziehungen zwischen den beiden Großmächten haben sich bereits unter der Präsidentschaft Donald Trumps durch Zoll- und Handelsstreitigkeiten dramatisch verschlechtert, ein Neuanfang zwischen den zwei Ländern unter Joe Biden ist derzeit nicht erkennbar (dessen Administration daran aber durchaus einen Anteil hat).

Eine Grundsatzfrage für den gesamten Westen und die Anrainer Chinas indes ist, wie man dem Land mittlerweile begegnen soll. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung Hongkongs, die Forderung nach einer „Wiedervereinigung“ mit Taiwan (de facto eine Drohung vor einer möglichen Invasion durch China), die Existenz von Internierungslagern in Xinjiang und die wachsenden Spannungen im Südchinesischen Meer durch die chinesische Militarisierung sorgen dafür, dass China in der Welt zunehmend als aggressive aufstrebende Supermacht wahrgenommen wird, mit wenig Skrupeln nach Innen wie nach Außen.

Im Namen der Pandemiekontrolle

Schüler in Hongkong (links); Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas auf dem Tiananmen-Platz in Beijing © Isaac Lawrence; Kevin Frayer/​AFP/​Getty Images

Und der Westen reagiert mittlerweile. Der Technologietransfer zwischen den USA und China ist faktisch zum Erliegen gekommen, geplante US-Investitionen in China erfolgen nicht. Die Biden-Administration stellt sich offenkundig auf ein neues Wettrüsten ein, diesmal heißt der potenzielle Gegner China, nicht mehr Russland. Der soeben zwischen den USA, Großbritannien und Australien geschlossene Sicherheitspakt AUKUS ist da ein unübersehbares Zeichen.

Selbst ohne die von Xi verursachte Unruhe stünde China vor vielen drängenden Herausforderungen. Die Zeit der ökonomischen Wunder nähert sich ihrem Ende. Obwohl das chinesische Wirtschaftswachstum vor und auch während der Pandemie kräftig war, zeichnen sich in China mittel- und langfristige Probleme ab: die Bevölkerungszunahme verlangsamt sich, während die Staatsverschuldung historisch einmalige Höhen erreicht; der Kollaps des chinesischen Immobilienmarktes scheint mittlerweile nahezu unvermeidlich; die einst konkurrenzlos niedrigen Arbeitskosten, die China in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Werkbank der Welt machten, wachsen unaufhörlich, das macht das Land für das internationale Investorenkapital weniger attraktiv. Die Zukunft sah schon vor der Pandemie für die jüngeren Generationen in China alles andere als vielversprechend aus.

Die Pandemie hat dann in vielfacher Hinsicht offenbart, wie die Regierung und vor allem Xi Jinping all den Problemen begegnen will: Der Präsident zeigt den bedrohlichen Drang eines kommunistischen Anführers – er ist darin ein guter Schüler von Mao – zur absoluten Macht. Aus der Gewissheit, dass sich eine offene Gesellschaft unmöglich kontrollieren lässt, scheint Xi die Konsequenz gezogen haben, dass nur drakonisches Vorgehen die Fliehkräfte begrenzen kann, die sich in der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft entwickelt haben. Die Corona-Krise bot dann den perfekten Vorwand dafür, Zäune um China herum zu errichten, aber auch in China selbst. Die Geschwindigkeit, mit der das geschieht, ist verblüffend und beängstigend. Die wiederholten Lockdowns in diversen Städten, die in ihrer Härte nicht mit denen in Europa oder den USA vergleichbar sind, waren nur die Generalprobe. Nach bald zwei Jahren Pandemie ist China zu einem großen Gefängnis geworden.

Ein Land wird dicht gemacht

Im Namen der Pandemiekontrolle stellt die chinesische Regierung denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die über keine Privilegien verfügen, faktisch keine neuen Pässe mehr aus. Für diese Menschen ist es fast unmöglich geworden, innerhalb Chinas oder gar ins Ausland zu reisen.

Die Außengrenzen Chinas werden derweil hochgezogen. An der zu Myanmar wird derzeit eine 2.000 Kilometer lange Grenzmauer errichtet, auch die Grenzbefestigungen zu Vietnam sollen verstärkt werden. Nachdem der Mauerbau an der Grenze zu Myanmar zunächst damit gerechtfertigt wurde, dass so der Schmuggel von Waren und Menschen verhindert werde, dient der chinesischen Staatsmacht aktuell die Pandemiekontrolle als Begründung: Grenzverkehr, schon gar unkontrollierter nach China hinein, wird für eine mögliche weitere Verbreitung des Coronavirus verantwortlich gemacht. Im Verbund mit Hightechgrenzkontrollen etwa in Xinjiang und Tibet ist es mittlerweile fast unmöglich geworden, China unerkannt zu verlassen. Und im Inneren wird die Kontrolle erweitert, künstliche Intelligenz etwa wird immer besser darin, „subversive Chats“ in privaten Social-Media-Gruppen zu erkennen.

Was nun aber, wenn China sich nie wieder öffnet? Das ist eine durchaus ernst zu nehmende Frage, die sich nicht nur internationale Beobachter stellen, sondern auch diejenigen Chinesinnen und Chinesen, die die jüngere Geschichte Chinas gut kennen. „Viele von uns, die in den vergangenen Jahrzehnten Karriere gemacht haben, als Geschäftsleute und Fachkräfte, wissen nicht mehr, wohin sich das Land bewegt“, sagte mir ein Anwalt mit guten Beziehungen: „Wohin auch immer es geht, die Richtung stimmt mich bedenklich.“

Dieses Gefühl aufsteigender Panik oder zumindest wachsender Ungewissheit in breiten Bevölkerungsschichten ist angesichts der Lage nicht überraschend und die Partei muss dieses Gefühl ihrer Logik nach bekämpfen, will sie die Kontrolle nicht verlieren. Zensur und Zum-Schweigen-Bringen von Kritikerinnen reichen dafür offenbar nicht (mehr) aus. Und ein großer Anführer, als der sich Xi Jinping zweifellos betrachtet, muss auch Hoffnung und Ablenkung bieten. Auch deshalb gibt es die lange Reihe harter Maßnahmen. Denn die einzelnen dienen erkennbar verschiedenen konkreten Zwecken.

Wird die Partei am Ende stärker oder schwächer dastehen?

Ein weiteres Bild von den Feierlichkeiten auf dem Tiananmen-Platz am 1. Juli (links), hier sind Schülerinnen und Schüler zu sehen. Rechts: eine Szene vom Nationalfeiertag in Hongkong am 1. Oktober © Kevin Frayer/​ Getty Images; Tyrone Siu/​Reuters

So erlauben die Attacken gegen Fintech-Firmen es den staatlichen Banken, einen Teil deren profitabler Dienste aus dem privaten Sektor in ihren Bereich zurückzuholen; das stärkt die Macht des Staats insgesamt.

Das harte Durchgreifen gegen die E-Commerce- und Social-Media-Unternehmen hat der Regierung Milliarden von Yuan an Strafzahlungen eingebracht, Geld, das sie dringend braucht. Ihr Vorgehen ist aber auch populär, da es die Firmen zur Einhaltung von Arbeiterrechten zwingt. Die Angriffe gegen Vielverdiener, die Steuern vermeiden, dienen dem gleichen Zweck: Sie bringen der Regierung Einnahmen und Ansehen in der Bevölkerung.

Das Einschreiten gegen die Notierung von chinesischen Unternehmen an US-Börsen ist eine offensichtliche Retourkutsche gegen die „Entkopplungs“-Politik der USA. Und gegen das Bitcoin-Mining geht der chinesische Staat augenscheinlich deshalb vor, weil Kryptowährungen das Risiko heimlicher Geldtransfers ins Ausland bergen und überhaupt das Risiko eines Kontrollverlustes: Nichts soll am Staat vorbei geschehen und jeder Eindruck, dies könne geschehen, muss verhindert werden.

Die Maßnahmen gegen die Immobilienunternehmen und Vermieter wiederum hat ihren Grund darin, dass die nicht haltbare Entwicklung des Immobilienrauschs die Ökonomie ins Schwanken bringt und enorme soziale Instabilitäten erzeugt. Die Regierung will die Löcher der Ökonomie stopfen, gesellschaftlichen Herausforderungen entgegentreten und damit den Eindruck von Stärke, Fürsorge und Kompetenz vermitteln. Schließlich hat Xi Jinping in einer Rede im August versprochen, der Bevölkerung „allgemeinen Wohlstand“ zu bringen.

Bloß keine Weicheier

Aber wie soll man das Einschreiten gegen die Spieleindustrie und die Fangruppen verstehen? Warum eine ohnehin desillusionierte junge Generation auch noch auf diese Weise verärgern?

Nun, es ist schlicht gute Tradition der Kommunistischen Partei, den Leuten den Spaß zu verderben. In den Achtzigerjahren hat sie eine Kampagne zur „Bekämpfung der geistigen Verschmutzung“ gestartet, worunter sie „dekadente Musik“ oder Popmusik aus Hongkong oder Taiwan, aber auch erotische Untergrundliteratur verstand. Die Flucht in nicht ideologisierte Unterhaltung lässt sich jedoch auch als Herausforderung für die Partei begreifen. Schließlich sieht sie überall ideologische Kriege, sogar – oder ganz besonders – bei Unterhaltungsprodukten, die Herz und Verstand der Menschen erreichen. Die Partei will, dass die Leute sich mit derlei Zerstreuung nicht zu lange befassen. Außer sie dient der Stärkung patriotischer Gefühle und der Loyalität zur Partei. Darum letztlich auch der Vorbehalt gegen das Gaming.

Die staatliche Kampagne gegen die Unterhaltungsstars und Fangruppen war besonders schmutzig. Staatsmedien haben wiederholt das („Weichei“)-Image („娘炮„) mancher männlicher Stars attackiert, sie zum schlechten Einfluss für junge Chinesen erklärt und die Rückkehr zu den durch und durch männlichen Helden der Revolutionszeit gefordert. Die Propagandabehörde erklärte zudem, dass ein patriotisches Selbstverständnis und Parteiloyalität absolute Voraussetzungen seien dafür, dass jemand berühmt sein dürfe. Wer diese Haltung nicht sichtbar vertrete, habe in der Entertainmentindustrie nichts verloren.

Die von der Regierung geführte Attacke gegen „Weichei-Idole“ bietet praktischerweise auch leichte Ziele für die Millionen frustrierter chinesischer Männer, die keine Chance auf dem Heiratsmarkt haben; es gibt faktisch eine Frauenknappheit in China, dazu hat die verheerende chinesische Tradition der Abtreibung weiblicher Embryos geführt. In diesen unsicher gewordenen Gewässern werden erfolgreiche männliche Stars ohne die Unterstützung des Staats plötzlich sehr verwundbar. Nicht nur, dass sie von Trollen in den sozialen Medien verfolgt werden: Einer von ihnen, Gan Wangxin, wurde in aller Öffentlichkeit heftig verbal attackiert. Die Fangruppen wiederum werden gelöscht, weil keine Idole neben der Partei und ihrem Führer erwünscht sind.

Es kann eigentlich kein Zweifel mehr bestehen: China verwandelt sich derzeit auf direktem Wege in eine totalitäre Dystopie, die an düstere Zeiten des chinesischen Kommunismus im 20. Jahrhundert erinnert, nur unter heutigen Bedingungen etwa der Massenkommunikation im Netz, zeitgenössischer Überwachungstechnologien und einer heimischen Wirtschaft, die längst Teil globalisierter Märkte ist. Das China der Gegenwart ist kaum vergleichbar mit dem vor mehr als einem halben Jahrhundert, das ökonomisch noch ein Entwicklungsland war, noch nicht auf dem Weg zu einer auch militärischen Supermacht und relativ abgeschottet war vom Rest der Welt.

Die entscheidende Frage ist nun: Wird die Kommunistische Partei nach dieser drastischen (Rück-)Verwandlung des Landes stärker oder schwächer dastehen? Klare Antworten auf diese Frage wird man vermutlich erst im Lauf der kommenden Jahre geben können, aber im Moment sieht es nicht so aus, als gäbe es einen irgendwie wirkungsvollen Widerstand gegen die Herrschaft der Partei. Ihre jüngsten Maßnahmen jedenfalls sind am Ende weniger Zeichen einer möglichen Panik vor Kontrollverlust, sondern des Eifers, mit dem sie eine Idee der vollständigen Kontrolle verfolgt und in die Tat umzusetzen versucht. Man möchte sich angesichts dessen auch lieber nicht vorstellen, was geschehen könnte, sollte diese Partei und ihr Anführer wirklich einmal in Panik geraten.

Okt 2021 | In Arbeit | Kommentieren

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